Ein Seminarbericht
(Lehrauftrag der Universität Leipzig, Fachbereich Kommunikations- und Medienwissenschaften, im Wintersemester 1993/94 über “Originalton im Hörfunk-Feature — Möglichkeiten und Grenzen” und im Sommersemester 1994 unter dem Titel “Radio-Feature international”.
“Von der schönen Aussicht aus den Elfenbeintürmen am Rande der Wüsten” — so überschrieb ein Student seine Seminararbeit im Sommersemester 1994. Als Seminarleiter hatte ich den Zustand und die Zukunftsaussichten des Genres Radio-Feature zum Thema gemacht.
Der studentische Befund in Kurzfassung:
Die Zuhörerzahlen stagnieren. Nur noch marginal nimmt der Radio-Dokumentarismus am gesellschaftlichen Diskurs teil. Das Feature-Publikum ist “überaltert”. Eine jüngere Autoren- und Zuhörer-Generation wächst kaum nach. Feature wirkt elitär, wie aus dem Elfenbeinturm. “Privilegierte Geschichtenerzähler”, “Ohrenrauschfanatiker”, “Sektierer an den Reglern” halten mit einer Art Altersstarrsinn an der “reinen Lehre” fest, verschanzt hinter ihrem öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag — während sich andererseits “die Privaten” nur noch “durch den Zeitpunkt ihrer Verkehrsnachrichten” von einander unterscheiden.
Die Wettbewerbsnachteile des “hohen Features” (“Quotenkiller”, “Kind aus erster Ehe, dessen Unterhalt schon lange unangenehm zu Buche schlägt”) wurden aber auch als besondere Stärken des Genres beschrieben. Das Radio-Feature, formulierte ein Student, sei wie ein “Haken im Programm, an dem meine Sinne hängen bleiben”. Und eine Kommilitonin zitierte den Sprachpsychologen Friedrich Kainz: “Der Lustwert erhöht sich, wenn Schwierigkeiten überwunden werden müssen. Die ästhetische Auffassung ist nicht weichlich, sie mutet uns Anspannung der Kräfte zu Allerdings: Schon den jungen Journalisten werde in den aktuellen Abteilungen des privaten (aber zunehmend auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks) “als erstes klargemacht, nicht mehr als anderthalb oder zwei, aller-höchstens aber drei Minuten für ihre Beiträge zu planen”. Sie lernten nicht, ein Thema zu entwickeln. Es genüge, das Thema anzureißen, zu “überfliegen”. Die “Formate” oder “Programm-Profile” verlangten es so.
Das Halb-Stunden-Feature steht auf der Liste anstehender Veränderungen ganz oben. Auch kürzere Formate wurden angeregt. Zitat: “Es gibt Themen, die sich nach zwei Stunden noch nicht erschöpft haben. Es gibt andere, bei denen eine halbe Stunde reicht, 20 Minuten, 15 gar (… ) 15 Minuten können je nach Thema eine intensivere Wirkung hervorrufen als eine Stundensendung, bei der man nach 15 Minuten umschaltet (… ) Das Feature sollte sich von den alten Längenvorgaben auch ideologisch lösen. Es muss flexibler werden”.
Sollte das Feature auf die lange Form also ganz verzichten ? Hieße das nicht — auf ein anderes Feld übertragen -, den Seitenumfang von Roman- und Sachbuchmanuskripten der verminderten Konzentrationsfähigkeit unserer Video-Clip-Kids anzupassen?
“Dem Nachwuchs eine Chance” zu geben, sei ein wichtiges Argument für kürzere Feature-Formen, schrieb eine Studentin. Anfänger müssten sich ausprobieren können (“Keiner wird als Feature-Autor geboren”). Sonst werde das Genre eindimensional. Es vergreise. Also: Großes Haus und Probebühne, das Stundenfeature und die kurze Form nebeneinander.
Nur: w i e kurz darf ein Feature sein, das den Namen noch verdient ? Wo ist zeitlich die untere Grenze ? Feature heißt ja: tiefer schürfen, ein Thema gründlicher — von allen Seiten — behandeln. Ist ein Kurz-Feature überhaupt denkbar?
Gewiss: “Kleine” Themen erlauben auch die kleine Form. Aber sind das dann noch Feature-Themen. Andersherum: “Große” Themen, in kleine Formate gepresst, werden nur noch oberflächlich angekratzt. Das aber leisten die Autoren aktueller Kurzbeiträge ebenso gut, nur schneller (und billiger).
Feature-Fast-Food — ein klassisches Paradoxon. Das anspruchsvolle, sperrige Produkt verweigert sich der leicht-konsumierbaren Zubereitung, der Portionierung in ohrengerechte Happen. Hilft dann vielleicht das bessere Marketing und mehr Reklame-Lärm?
Der “Durchschnittshörer”, monierten die Studenten, wisse ja gar nichts von dem Angebot “Feature”. Das Produkt müsse “in der Radiolandschaft erst entdeckt werden”, es sei nicht präsent: “Aus Höflichkeit hört keiner Radio (…) Wenn man eine Ware verkaufen will, müssen die Käufer von der Existenz dieser Ware wissen”. Und: “Feature ist ein Luxusartikel des Programms, und dementsprechend muss er beworben werden”.
Die Krise des Features — ein Fall für die Marketing-Abteilung ? Liegt das ganze Heil in einer besseren “Verkaufe” ? Ist der Inhalt nur noch zweitrangig, die Verpackung alles?
Zitat aus einer Seminararbeit: “Als gelegentlicher Hörer kann ich sagen, dass mir die Features im Gedächtnis geblieben sind, in denen mir auch der Erzähler plastisch wurde, indem er mich teilhaben ließ an seinen Gefühlen, den Beunruhigungen, Erleichterungen, Überraschungen bei der Begegnung mit denen, die das Feature durch ihre Geschichte oder ihre Stimme tragen; indem er seine Meinung deutlich werden ließ, sie mir aber nicht aufdrückte, und mich zwang, mir meine eigene zu bilden…”
Paradox: Das Wort “Feature” ist in aller Munde. Alle Programmsparten nehmen es für sich in Anspruch. Das hässliche Sprachderivat “verfeaturen” wurde zum Modebegriff. Aber nur wenige Fachkollegen / ‑kolleginnen können das Wort in die Praxis übersetzen. Kaum eine Handvoll investiert noch “blood, sweat and tears” in diese sehr komplexe Tätigkeit.
Das akustische Feature in seiner ursprünglichen Bedeutung (als perfekte Symbiose von “emanzipiertem”, das heißt auf weiten Strecken für sich selbst sprechendem O‑Ton und hineinkomponiertem Text) ist selten geworden, während konventionelle Text-Features mit “akustischer Untermalung” wieder breiten Raum einnehmen — ein Salto rückwärts in die Zeit vor P. L. Brauns “Hühner”, “8 Uhr 15, OP III Hüftplastik”, “Hyänen” und “Glocken in Europa”. Und dies angesichts technischer Entwicklungen, von denen Braun & Co vor 25 Jahren vermutlich nicht einmal geträumt haben — man denke nur an die Brillanz digitaler Tonaufzeichnung und ‑verarbeitung.
So verliert das gehätschelte, kostspielige Sonntagskind des Radios allmählich an Kompetenz. Als kulturpolitisches Feigenblatt und Alibi für die Gebühreneinzugsberechtigung des öffentlich-rechtlichen Systems vorläufig noch geduldet, hält das Feature eine äußerst verwundbare Stellung.
Was also tun ?
Jede Gattung bezieht ihre Stärke aus großen Entwürfen. Der letzte “große Wurf” — die Erfindung des akustischen Features — liegt über ein Vierteljahr-hundert zurück. “Hühner” und “Hyänen” sind Geschichte. Das Feature der neunziger Jahre muss auf die Veränderungen der Welt und der Medien-Welt mit neuen Entwürfen antworten.
Eine Reihe formaler Mittel sind verbraucht oder haben an Wirksamkeit verloren. “Klassische” Felder sind vom Fernsehen belegt oder — wie das “akustische Reisebild” im Zeitalter des Massentourismus — anachronistisch. Die Frage, welche thematischen Kategorien dem Hörmedium am ehesten entsprechen oder — anders ausgedrückt — sich “dem Bildmedium entziehen” (Braun), müsste am Anfang einer Standortneubestimmung stehen.
Welche Felder sind noch (oder wieder) zu besetzen ?
Die Intensität der geforderten “ständigen Diskussion” wird davon abhängen, ob “die Feature-Familie” noch fähig ist, ein Gruppengefühl zu entwickeln, vergleichbar mit dem britischen Documentary Film Movement der 3oer und 4oer Jahre, dem schöpferischen Kraftfeld um die “Cahiers du Cinema” in den 50er und frühen 60er Jahren oder der enthusiastischen Erfinder-Gemeinschaft aus Programmgestaltern, Autoren und Technikern im SFB der 60er und 70er Jahre. Öffentlich ausgetragener Streit und theoretische Arbeit aus der gegenseitigem Kenntnis neuer Produktionen müssen wieder selbstverständlich werden.
Ich plädiere für eine lustvolle Hinwendung zu jenem oft vernachlässigten, schemenhaften Gegenüber, genannt “Hörer” oder “Publikum”; für ein Neues Autoren-Feature, das kompetent vorgetragene, originelle und möglichst provozierende Standpunkte mit den Errungenschaften des “akustischen Features” (technisch und dramaturgisch) verbindet.
Das Feature wird gebraucht. Es gehört zur (Medien-)Kultur dieser Republik. Freilich müssen die Gegenstände unserer Bemühungen das Publikum angehen, also in umfassendem Sinn Themen der Zeit sein. Der Hörer müsse spüren, schrieb eine Leipziger Studentin in ihrer Seminararbeit, “dass sich ein Autor nur seinetwegen ins Aufnahmestudio bzw. an den Schreibtisch gesetzt” habe.
Ich füge hinzu: Eine neue Generation von Autoren, Regisseuren und Allroundtalenten des Radios muss mobilisiert werden.
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