Geboren am 4. 9. 1940 in Nordmähren (jetzt Tschechische Republik).
Aussiedlung im August 1946 nach Fulda, Hessen.
Nach dem Abitur 1960: journalistische Ausbildung (zweijähriges Zeitungsvolontariat) und Studium (Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Publizistik). Anschließend Zeitungsreporter und Lokalredakteur in Fulda. Feuilleton-Redakteur in Berlin (DER ABEND).
1961, 62 und 63 freiwillige Arbeitseinsätze in Marokko, Griechenland und Israel (Kibbuz).
1958–73 Mitglied und zeitweilig Vorsitzender der Fuldaer Künstlergruppe “Junge Kunst”.
1994 bis 1998 Redakteur der Feature-Abteilung des SFB Berlin.
1970 bis 94 und wieder seit 1998 freiberuflicher Autor und Regisseur.
Für das Fernsehen in den siebziger Jahren zahlreiche Jugend- und Kindersendungen (“Das feuerrote Spielmobil” BR / SFB, “Denkste” WDR, “Teleskop” SFB). Mehrere Arbeiten in der Reihe “Das kleine Fernsehspiel” ZDF – u.a. “Mensch Mutter” (Berliner Filmfestspiele 1977), “Das Gold der Elfen” (Berliner Filmfestspiele 1978), “Willi und die Kameraden” (Berliner Filmfestspiele 1979 – jeweils Deutsche Reihe – und Irish Film Festival, Dublin). Fernseh-Features (u.a.“Fußball ist unser Leben”, “Für Freddy tu’ ich alles”, “Brief aus Sagorsk”).

Für den Hörfunk über 100 lange Features. Schwerpunkte: Erster und Zweiter Weltkrieg; Gesellschaftliches Leben in der Bundesrepublik; Sowjetunion/Russland (Geschichtliche Darstellungen und Alltagsreportagen – Leningrad, Kiew, Minsk, Kasachstan, Usbekistan, Ost-Sibirien); Südamerika; die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten.
Dokumentarische Sendereihen: “Peter der Große”, “Katharina die Große”, “Meine Heimatstadt Berlin” (mit Manuela Reichart, Wolfgang Bauernfeind, Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis), “Im Widerstand” (Europäische Frauen während der deutschen Okkupation, 1987), “Die Belagerung der Macht” (Europäische Friedensbewegung 1983/84), “Soldaten”.

▲ Aus Montage- und Mixplänen für “Moskauer Zeit” (HR 1989) ▼
Hörspiele und Audio-Projekte: “Moskauer Zeit”, “Ohr — Schlacht — Feld”, “Zikadenbaum”, “A Fùria — Die Wut der Kinder”, “Europoly” (Gemeinschaftsprojekt des HR mit 15 europäischen Rundfunkanstalten). “Ein Tag in Europa”, 16 Stunden, HR 1999 — “Ein Tag in der Stadt”, 16 Stunden, HR 2001. “Der Amazonas”, dreistündiges Feature für hr2-Radiotag-Projekt “Die großen Flüsse der Welt”, 2002 (Öffentliche Aufführungen im Frankfurter Palmengarten und 2005 im Kulturhaus Podewil, Berlin, sowie in der “Radio-Lounge / zeitraumexit”, Mannheim 2007).
Buchveröffentlichungen: “In den Tod — Hurra !” (Deutsche Jugend vor Langemark 1914) — “Die andere Front” (Europäische Frauen in Krieg und Widerstand) — “Peter der Große / Zar der neuen Zeit” (Dokumentarischer Roman) — “Katharina die Große” (Dokumentarischer Roman) — “Radiojahre / Vom linearen Zeitalter in die vernetzte Welt” (Werkstattbuch, Online-Fassung 2012, Printausgabe “Objektive Lügen — Subjektive Wahrheiten” im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat, Münster; jetzt wieder kostenlos im Netz, siehe Startseite) – “Mann im Mutterland / Erzählung vom endlosen Nachkrieg” (gratis online erste Fassung, siehe Startseite). Ab November 2020 auch im Druck bei allen Buchhandlungen und Online-Shops). Lesung und Online-Diskussion: Akademie Mitteleuropa (“Der Heiligenhof”, Bad Kissingen) 2021; Lesungen Offener Kanal / Mediathek Hessen; Lesung und Musik (mit Bardo Henning, Piano), Forum Kanzlerpalais Fulda, 2021.
LESEEMPFEHLUNGEN / „Berlins beste Lesestücke der Woche“ („Checkpoint“ – Newsletter des Berliner „Tagesspiegel“ am 10. 8. 2019: „Zwei Beispiele (…) für die Tonwerdung textlichen Denkens: Die Legende des deutschen Radiofeatures heißt Helmut Kopetzky, der nach eigener Aussage nichts weiter tut, als mit Originalton zu schreiben. Den besten Eindruck davon vermitteln seine Features.
Er hat interessanterweise aber auch einen schriftlichen Werkstattbericht herausgebracht, in dem er seine Arbeit beschreibt (…)“
„Byl jsem Sudeťák“ – Verlag: „Pointa / Albatros Media“, Prag. – Übersetzung: Bohumila Fatzinek Kučerová. – Dieser Text ist eine Weitererzählung von “Mann im Mutterland“ bis in die Gegenwart. Präsentation auf der Prager Buchmesse 2024 mit Lesung und Diskussion, anschließend auch in Olomouc (Universität) und in Šumperk, dort vorgetragen von Schülern der Abschlussklasse des städtischen Gymnasiums. Zahlreiche Leserechos und Rezensionen. Kostenloser Link zur deutschen Fassung auf der Startseite dieser Homepage.
Feature-Workshops in Deutschland, den USA, Brasilien, Mexiko, Ecuador, Argentinien, Kenia, Polen, Rumänien, Moldawien, Tschechien, den Niederlanden und der Republik Irland.
Beiträge zu mehreren Anthologien, u.a. Feature-Handbuch im UVK-Verlag mit Unterstützung des SDR und SFB; Radio-Nova-Sammelband (Rio de Janeiro) 1997; Textsammlungen Prix Italia 1996 und 1997; “De Radiodocumentaire” (Hilversum, 2000); “Radio Documentary” (Seoul, 2001); “Neue Deutsche Biographie” (über Ernst Schnabel).
Ein Theaterstück im Auftrag der Stadt Fulda (“Der Zwerg des Fürstbischofs — Barockspektakel mit Musik”) zum Stadtjubiläum 1994. Nach 2014 Kurator einiger Kunstausstellungen in Fulda und Wuppertal.
Mitbegründer der Aktion “Journalisten warnen vor dem Atomkrieg” (1983)

Heidrun Kopetzky, ebenfalls aus Nordmähren stammend, ist mit dem Autor seit 1975 privat und beruflich verheiratet. Sie war lange Jahre Redaktions-Sekretärin im Berliner “Spiegel”-Büro. Seit Mitte der achtziger Jahre gemeinsame Arbeit an zahlreichen Funkprojekten.
Privates Tonstudio (seit 1995 digital).
Sohn Jan Kopetzky, geboren 1976, arbeitet als freier Fotograf.
Das Privat-Archiv Kopetzky (120 digitalisierte Sendungen und umfangreiches Kontext-Material) wurde 2017 als Vorlass in das Deutsche Rundfunkarchiv übernommen.
Radio in der Ersten Person
Eine kurze Arbeits-Biographie
Werkstatt-Gespräch mit Charly Kowalczyk (Bremer Medienbüro) zum Erscheinen der gedruckten Auflage von „Radiojahre“ / „Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten“ (10. 9. 2013)
Du nennst Dein Buch „Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten“. Ein Titel, der bewusst provozieren soll?
Naja, ich kenne die Reaktionen auf das Mantra mit den drei Buchstaben ICH mittlerweile zu gut: „Ach Du schon wieder auf dem Ego-Trip!“ Das geht mir langsam auf den Keks, und ich provoziere ein wenig zurück. Irgendwie bin ich immer auf Abwehr eingestellt und möchte das doch gar nicht. Es gibt keinen Schriftsteller der Weltgeschichte, der es nötig hatte, sein ICH so zu verdrängen: „Ich bin das ja gar nicht.“ Im Gegenteil. Als Leser kann ich davon ausgehen, dass die eigene Biografie immer eine Rolle spielt – nicht 1:1 natürlich. Nur im Dokumentarischen hält sich dieser Ruf nach „Objektivität”. Allmählich wird das langweilig.
Als Feature-Autoren sind wir nun mal keine Fliegenbeinzähler; nicht „Dokumentaristen”, die versuchen, die Welt archivarisch zu fassen. Auch sind wir andererseits keine Hörspiel-Macher, die sich ihre eigene Wirklichkeit erschaffen. Kunst darf alles. Unsere Hörer haben das gute Recht, möglichst viel über eine Thematik, über einen Menschen, über einen Ort zu erfahren. Aber – und das ist mir eben wichtig: Wir können dies alles nur so erfahren, wie es diejenigen, die uns darüber erzählen, selbst erfahren haben.
Niemand kann behaupten, ein Ort, eine Person sei gerade so, wie es in diesen 55 Feature-Minuten zu hören ist. Das ist – etwas zugespitzt – die Lüge, die ich meine. Die subjektive Wahrheit ist natürlich auch nur in Anführungszeichen zu verstehen, denn Wahrheit in diesem Sinne gibt es ja auch nicht. Selbst wenn wir unsere dokumentarische Arbeit nur am Schreibtisch erledigen, ist es unsere Perspektive, die zählt: Wir wählen den Weg, wir wählen die Quellen.
Haben viele Autorinnen und Autoren zu viel Respekt, ja fast Angst vor dem ICH?
Ja. Aber ich verstehe das nicht. Denn wenn ich mit Leuten face-to-face zusammen sitze und irgendetwas erzähle, dann sitze ich da als Person, ich kann mich nicht … neutralisieren. Das wäre wie ein Schauspieler, der sich auf die Bühne stellt und sagt: „ICH BIN GAR NICHT DA.“
Es gibt aber die Scheu, sich selbst als Autor einzubringen…
Diese Scheu hat man uns so beigebracht! In der Schule hieß es – jedenfalls bei uns Nachkriegskindern: „Fange keinen Satz mit ICH an!” Damit hab ich heute noch Schwierigkeiten, ich versuche das ICH am Satzanfang zu vermeiden. Warum ? Weil das große Ganze wichtiger ist als ich selbst? Es gibt angeblich Redakteure, die Autoren in ihrem eigenen Stück nicht dulden.
Mach’ Dich weg….
Ja, schneide Dich raus! Ich höre das oft: „Du machst ja andauernd Hmmm, was soll das?“ Na gut, man kann es übertreiben, es kann auch störend und sehr eitel sein, wenn man immer zeigen will ICH BIN DA. Alles ist eine Frage des Maßes und der Ehrlichkeit. Aber das gilt auch umgekehrt: dass ich meine Anwesenheit nicht verschleiere. Die Zuhörer vermuten ohnehin, dass einer da ist, der das Mikrophon hält, und ich möchte, dass man das spürt.
Du nennst Dein Buch Werkstattbericht. Warum?
Das Leben ist ja nicht so gradlinig, dass man es wie ein Drehbuch erzählen kann. Die Ecken und Kanten sollten erkennbar sein. Das Problem bei dem Buch war, dass ich selbst von Anfang an nicht so richtig sagen konnte, für wen ich das mache. Und deswegen hab’ ich mir auch keinen Verlag gesucht, der von mir verlangt, dass ich ihm die „Zielgruppe” nenne. Das Ding war reif und musste ans Tageslicht. Ich hab so viele Notizen gemacht, ich hab jahrelang unbewusst dafür gesammelt. Im Keller lag das im Archiv, ich musste bloß zugreifen. Mir ging es darum, bestimmte Komplexe, wie zum Beispiel mein Leib- und Magenthema „Subjektivität im dokumentarischen Fach”, als Hauptthema herauszustellen –– wer geht so ähnlich ran wie ich oder versucht es ganz anders ?
40 Jahre Feature-Arbeit. Hattest Du auch das Gefühl, Du möchtest etwas hinterlassen — Dein Vermächtnis?
„Vermächtnis“ ist ein großes Wort. Aber diesen Drang hat fast jeder in meinem Alter, ich bin 73. Möglich, dass zu viel in dieser Art produziert wird, ganze Verlage leben davon. So vieles hast du angehäuft im Leben, das du weitergeben möchtest. Und du denkst: „Oh Gott, was mache ich jetzt damit, ich habe gar nicht mehr viel Zeit.“ Das ist doch eine Gemeinheit, dass alles irgendwann einmal unwiderruflich abbricht!
Mit Gewinn verkaufen kann man so ein Buch natürlich nicht, das muss man sich leisten. Aber ich bin froh, dass meine Frau mitspielt und nicht sagt: „Das interessiert doch nur Verrückte wie uns!“ Sie denkt sich vielleicht, dass ich unleidlich werde, wenn das nicht gedruckt wird, was da aus mir raus will.
Ich habe es gerne gelesen, weil es anregend war, auch dass Du irgendwann dazu übergegangen bist, intuitiv an Dein Material ranzugehen.
Ich habe jedes neue Thema immer als Abenteuer empfunden, selbst Themen, die ich genau zu kennen glaubte, wie das Stück über den Beginn des ersten Weltkriegs — Langemark, Westfront. Das Feature hieß „In den Tod – Hurra!“ Ich hab ja noch die letzten Überlebenden auf deutscher und englischer Seite erlebt. Die waren alle schon über 80 Jahre, und das, worüber sie vor gut 30 Jahren erzählten, war der Höhepunkt ihres Lebens gewesen, im Guten wie im Schlechten.
Und wieder stapeln sich Bänder und Bücher über 1914 in meinem Büro für ein NDR-Feature mit dem Titel „Feinde wie wir“ – obwohl ich Heidrun und mir selbst doch versprochen hatte …
Das ist eben Abenteuer – sei es nur die Recherche am Schreibtisch, im Netz, oder seien es die großen Reisen. Wir waren ja viel unterwegs. Das fing schon bei der Vorbereitung an. Also: die Kassetten zurecht legen, die Labels aufkleben, wie viele Kabel, Batterien, Wörterbücher, Landkarten … Als wir nach Sibirien gereist sind, im Winter 84/85 an die zweite Transsibirische Eisenbahn, die Baikal-Amur-Magistrale, war die große Karte von diesem Sechstel der Erde genannt Sowjetunion oder auch „Das Reich des Bösen” vor uns auf dem Berliner Sisalteppich ausgebreitet, und wir zogen die Flugrouten und Eisenbahnstrecken nach und hörten beide schon so etwas wie einen Grundtton, einen Generalbass der geplanten Sendung.
Hast Du vorher festgelegt, wen Du wann triffst? Oder hast Du alles auf Dich zukommen lassen?
Es gibt natürlich Adressen, wie Uri Avneri in Israel zum Beispiel, der mich natürlich schon als Mensch interessiert und den ich unbedingt aufsuchen wollte. Aber du bekommst natürlich bei jedem Thema viele Tipps, Geheimtipps sogar, und dann denkst du: Jetzt habe ich schon so eine lange Liste, die müsste ich jetzt abarbeiten. Das ist ein falscher Ansatz, denn ich will ja in die Wirklichkeit hineingehen, nicht in eine Liste. Ich hatte immer die Vorstellung von einem Fisch im Wasser – meiner Fisch-im-Wasser-Methode. Ich springe in einen Pool und schwimme zwischen den fremden Fischen umher, und ich gucke links und ich gucke rechts und sie kommen auf mich zu.
Erzähle mal ein Beispiel…
Wir haben eine Sendung gemacht über Jericho im Westjordanland, die „Hauptstadt der Ungeduld“. Wir wohnten also in dem wunderschönen „American Colony Hotel“ in Jerusalem, wo auch schon Hemingway gewohnt hatte (wo wohnte der eigentlich nicht ?) Und dann hast du morgens die „Jerusalem Post“ auf Englisch gelesen – was an dem Tag ansteht, wo etwas passiert. Da haben wir gelesen, dass eine politische Aktion jugendlicher Thora-Studenten in Jericho gegen die geplante Übergabe der Stadt und einer uralten Synagoge an die palästinensische Verwaltung bevorsteht. Das wussten wir vorher natürlich nicht, das konnte in Berlin auch niemand wissen.
Also ins Taxi und hin ! Wir stiegen in Jerichos kurzer Hauptstraße aus dem Fahrzeug. Ich hatte in so wichtigen Situationen immer schon vorher mein Gerät umgeschnallt und eingeschaltet, um nichts zu verpassen. Damals lief man noch mit Spulen-Tonbandgerät, Kopfhörern und ziemlich vielem Kabelgebammel herum. Es sah schon recht professionell aus.
Du hast noch nicht die Autotür zugemacht, da kommt ein Trupp smarter junger Leute auf dich zu, PLO-Aktivisten, Studenten, die eigentlich alle arbeitslos sind. Ein Straßen-Café ist ihr „Stützpunkt“. Sie laden dich zum Tee ein, und schon bist du im Thema. Klar – die Leute wollen was von dir, sie wollen dich als Sprachrohr benutzen, und du benutzt die Gelegenheit für dich, für deine Sendung – wobei du ja den eigenen kritischen Verstand nicht ausschaltest.
Nun sitzen wir mit den PLO-Leuten also zwei Stunden zusammen, wechseln Tonbandspule um Tonbandspule, und dann fragen sie, ob du ein Flüchtlingslager besuchen möchtest. Natürlich möchtest du ! Wir fahren hin, es ist nicht weit. Wir besuchen Familien – PLO-Sympathisanten natürlich. Du bist mittendrin, wie ein Fisch im Wasser eben.
Ein paar Stunden später wollen wir die neue Moschee anschauen, die mit viel ausländischem Geld mitten in Jericho gebaut worden war. Da sind Leute von der Hamas. Sie führen uns herum, als würde ihnen das alles gehören, und schleppen uns dann zu einer Feier ins Kulturhaus. Auch der Termin stand in keiner Berliner Zeitung.
Sie bugsieren uns also in einen Saal, groß wie eine Turnhalle und voller Menschen, vor allem jungen Leuten, Frauen mit ihren blütenweißen Kopftüchern auf der Empore, Männer unten. Hitze – und erhitzte Gemüter. Parolen werden skandiert, die ich nicht verstehe. Gesänge, immer drängender und lauter, Trommeln wirbelten. Das Tonbandgerät läuft und läuft. Einer sagt: „You should go up on the stage – you are our honorable guest !“ Und wo möchte ich denn für die Aufnahme lieber hin als auf die Bühne neben den Imam, der da mit hasserfüllter Stimme redet, brüllt, unterbrochen vom Getrommel und den Sprechchören ! Meine Kopfhörer haben mir längst gesagt, dass ich da hin will – ran an den Speck, den akustischen.
Ich habe mir die Aufnahmen der langen Rede später übersetzen lassen. Im Grunde läuft alles darauf hinaus, die Israelis möglichst bald ins Meer zu treiben. Später gibt es eine Theateraufführung, bei der ein israelischer Siedler auf offener Bühne kaltgemacht wird. Und alle sind begeistert, als er das Pappschwert zwischen die Rippen kriegt.
Und gar nicht so anders ergeht es uns ein, zwei Tage später bei den Siedlern. Sie zeigen uns live und in Echtzeit, wo die biblischen Szenen spielten, die ihnen das Recht geben, hier zu sein auf diesem Hügel über Jericho. Zum Beispiel den brennenden Dornbusch, haargenau: „A bit more to the right – right there. You got it !“ Und das alles mit vollem Ernst. Als Reporter musst du mitmachen, du lässt dich treiben – mit interessiertem Gesichtsausdruck. Kein Ort für Debatten jetzt.
Und so kam es, dass wir mit Siedlern anderntags in einem Protestzug durch das besetzte Ost-Jerusalem marschiert sind, mitten im Getümmel und schwer bewacht von israelischem Militär.
Mitgehen, Töne einsammeln, das heißt ja nicht, dass man deren Auffassung vertritt.
Ja, natürlich nicht, wir haben eigene Auffassungen. Es ist nicht nur die Pflicht der Berichterstattung, sondern es sind auch die physikalischen Umstände der Tonaufnahmen, nah dabei zu sein. Die Bedingungen sind komplizierter als beim Fernsehen. Mit dem Teleobjektiv kannst du noch über 300 Meter hinweg spannende Nahaufnahmen machen, aber nicht mit dem Mikrofon. Du musst dort sein, wo „es“ passiert.
Mir fällt eine frühe Sache ein – ein Fernsehfeature über Freddy Quinn, den damals berühmten Schlagersänger. Ich habe eine Geschichte gemacht von einer Heimarbeiterin und ein paar ihrer Freundinnen, die gefühlsmäßig mit diesem Sänger verheiratet waren, in ihrer Fantasie mit ihm gelebt haben, Tag und Nacht. Und mit ihr bin ich dann nach Lübeck gefahren, zu einem Gastspiel des Sängers – zusammen mit den zwei kleineren Kindern, die sie immer mitnehmen musste, weil sie niemanden hatte, der auf sie aufpasst. Ich habe mit im selben Hotelzimmer übernachtet, um Standfotos zu schießen, wie sie ihre Kinder zu Bett bringt in dem billigen Hotel, weil sie für ein anderes kein Geld hatte. Im Nachhinein denke ich: Unglaublich! Das ging schon ein bisschen zu weit. Würde ich heute nicht mehr machen.
War es zu voyeuristisch?
Ich benutze nicht so gern das Wort „voyeuristisch“. Es klingt zu abfällig. Auch unsere Arbeit hat ja mit Hinsehen zu tun, akustisch und inhaltlich. Aber im menschlichen Sinn war das eine zu große Nähe. Marga, so hieß diese Mutter mit Vornamen, war eine Frau mit drei Kindern, die alle ein wenig aus dem Ruder liefen, und sie arbeitete Tag und Nacht in einem fürchterlich monotonen Heimarbeiter-Job. Ich würde nicht sagen, dass ich sie ausgebeutet habe, wir waren eigentlich damals befreundet, weil ich oft bei ihr zuhause war. Sie kam auch zu uns, als unser Sohn geboren wurde. Von Weihnachten 1976 haben wir noch Fotos, als sie zu Besuch waren.
Ich wollte wissen, wie es für die Kinder ist, die nichts mit dem Sänger anfangen können. Die Mutter ist verliebt in den Schlagersänger Quinn und gibt dafür ihr ganzes Geld aus. Er mag sie schon gar nicht mehr sehen, er sagt: „Was machst Du denn schon wieder mit Deinen Kindern hier?“ Sie hat Angst, dass er sie ausschimpft. Eine menschlich sehr komplizierte Situation. Und ich habe mich da rein gedrängelt.
Du hast daraus auch ein TV-Stück gemacht?
Freddy Quinn passte nicht, dass ich mich für diese Art weiblicher Fans interessierte. Er hätte sich andere gewünscht und versuchte über den SFB-Rundfunkrat, die Ausstrahlung zu verhindern, weil er um sein Image bangte. Es waren ja alles vom Leben getretene Frauen. Die kannten einander. Sie alle liebten Freddy, und wenn er zu einem Gastspiel fuhr, etwa nach Norwegen, dann haben sie ihm Pullover gestrickt. Oder haben Geburtstagstorten gebacken. Das geht schon zu Herzen. Wobei diese Hardcore-Fans auch Konkurrentinnen waren. Jede wollte ihn ja für sich haben. Sie brauchten sich untereinander. Nur wer selbst so besessen war, konnte das nachvollziehen.
Ich habe den Film neulich an der Uni Potsdam vorgespielt; sah alles groß auf der Leinwand. Da lief es mir kalt den Rücken runter, ich dachte: „Mein lieber Mann! Diesem Elend so lang auf der häuslichen Mattscheibe zugucken“ (LACHT). Trotzdem würde ich es nicht als Voyeurismus bezeichnen. Voyeurismus hat was mit Ausbeutung zu tun für eigene Interessen. Autoren machen es zwar auch für sich, aber dem Auftrag gemäß für das Publikum.
Du hast als Zeitungsreporter in der “Fuldaer Zeitung” begonnen, bevor es Dich nach Berlin zog.
Ich habe als Schüler der Fuldaer Zeitung angeboten, über irgendwelche Jazz-Konzerte in Frankfurt zu berichten, Duke Ellington zum Beispiel, und hab mir da meine 30 Mark verdient. Ja, ich habe eigentlich in der Zeitung schon angefangen featuremäßig zu arbeiten. Als damals der Bumerang in Mode kam, habe ich so ein Ding mit einem Fotografen ausprobiert, und als das Holz zurückkam, flog es uns natürlich an die Birne. Bei der Zeitung „DER ABEND“ sind wir später Gold graben gegangen, weil jemand erzählt hatte, dass er am Ufer der Havel einen Claim abgesteckt hat. Da ist die halbe Redaktion mit Spaten losgezogen. Es war alles nicht so ernst. Aber da war schon die Tendenz, als Autor mit dabei zu sein – teilzunehmen.
Beim „ABEND“ war ich u. a. für die Jugendseite zuständig. Ich hatte mich auf eine freie Feuilleton-Stelle beworben, als Spezialist für „Show und Unterhaltung”. Von beidem hatte ich nicht die geringste Ahnung. Ich wollte einfach aus der Kleinstadt raus. Hab denen alles mögliche vorgeflunkert und den Job tatsächlich bekommen. Die haben wahrscheinlich auch niemanden gekriegt für 900 Mark als Redakteur.
Wie alt warst Du da?
Das war 1968 und ich war 28. Da kam ich mitten in die „Studentenrevolte“. Ich wäre fast nach zwei Wochen wieder rausgeflogen, weil ich am Tag des Anschlags auf Rudi Dutschke mit meinem Deux Chevaux bei den Demonstranten war, die die Auslieferung der BILD-Zeitung blockieren wollten. Anderntags hat mich der Staatsschutz nach Tempelhof bestellt. Da konnte ich dann auf einem Foto sehen, wie sechs oder sieben Schutzleute versuchten, meine Ente wegzuschleppen. Das ging nicht so leicht, weil die Kiste eine besondere Radaufhängung hatte: Man hob das Auto hoch, aber die Räder blieben unten – wie bei einem Maikäfer. Das hat vor Ort eine große Gaudi ausgelöst, sie kriegten die Ente nicht weg. Mein Verleger hat mich dann rausgehauen, so konnte ich beim „ABEND“ bleiben.
Das war eine tolle Zeit – gerade, wenn man aus der Provinz kommt. Meine erste Frau habe ich im Strahl von Wasserwerfern vor dem Amerika-Haus am Zoo kennengelernt. Wir waren beide pudelnass. Ich hatte eine kleine Studentenbude in der Nähe und fragte sinngemäß: „Hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee ?“

Wie bist Du dann zum Radio gekommen?
Beim „ABEND” hatte ich eine Kolumne eingeführt, die hieß „Plattentüte“, da wurde die neueste Popmusik besprochen. Eines Tages flog die Redaktionstür auf, ein junger Mann rauschte herein – es war der später sehr bekannte RIAS-Moderator Barry Graves – und sagte ungefähr, so eine Scheiße habe er schon lange nicht gelesen: „Wer ist das, der da gar keine Ahnung hat?“ Da hab ich den Finger gehoben. „Bitteschön“, sagte ich Kraft meines Amtes, „Machen Sie ’s besser !“ Und das hat er dann eine ganze Zeit lang erfolgreich gemacht.
Später bat ich drei Radio-Moderatoren von „SFB Beat“, einer beliebten aber keineswegs unpolitischen Popsendung, abwechselnd die Plattenkritiken für unsere Zeitung zu schreiben. Ulli Herzog, „Pfeifen-Lange“ und Hans-Dieter Frankenberg waren damals richtige Radiostars, sie bekamen bergeweise Fanpost. Und als einer von den Dreien fragte, warum ich nicht selbst für den Rundfunk arbeite, war es das erste Mal, dass mir so etwas überhaupt in den Sinn kam.
Im Kollektiv
Einschub aus meinem Werkbuch
“Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten”
»WuZ« (»Wir um Zwanzig«) heißt das wöchentliche Live-Feature, »gefahren« von einer festen Studio-Mannschaft, oft in letzter Minute. Manchmal werden Einspiel-Bänder »hinten« noch geschnitten, während »vorn« die Sendung schon läuft. Jedes Manuskript in meiner Sammlung trägt vier oder fünf Autoren-Namen. Im Zigaretten-Qualm nächtlicher Sitzungen hat das Kollektiv Satz für Satz gemeinsam redigiert und meine kunstvollen Metaphern reihenweise hingerichtet (…)
WuZ handelt von Erziehung und Strafe, Sex, Jugendkriminalität; von »Gastarbeitern« und Wohngemeinschaften, Musikgeschäft und Werbung, von Behinderten und sozialen Randgruppen aller Art. Jugendfunk-Mitarbeiter glauben Anfang der Sieziger fest an die gesellschaftsverändernde Kraft jeder einzelnen Sendung (…)
Und doch haben wir von »WuZ« und SFBeat einmal pro Woche reihum Suppen und Eintöpfe gekocht, kartonweise Rotwein aus dem Getränke-Discount über den Theodor-Heuss-Platz geschleppt, Janis Joplin gehört, getanzt und geflirtet. Dies der Vollständigkeit halber.
In der Rückschau fällt mir auf, wie sehr jeder von uns jungen Autoren seinem Leben einen individuellen Sinn geben wollte, der über Karriere und materiellen Verdienst hinausging. Im »Kollektiv« klammerten wir uns an die gleiche »politische Aufgabe«, hinter der Fassade aber lebte das biographische ICH unausrottbar weiter. Wir waren Gespaltene. Wie die meisten Anhänger oder – in meinem Fall – Mitläufer der Außerparlamentarischen Opposition rebellierten wir auch gegen den »bürgerlich-opportunistischen Bodensatz« in uns selbst.
DAS UMFELD,
in dem wir uns eine Jugendsendung wie »Wir um Zwanzig« denken müssen, markieren Arbeiten wie »Die Sieben-Tage-Woche des Drahtwebers Rolf Piechotta« (Boldt/Garczyk), »Akkord« (Kratisch), »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« (Praunheim) oder »Ich heiße Erwin und bin 17 Jahre« (Runge), »Porträts junger Arbeiter« (Strobel), »Liebe Mutter, mir geht es gut« (Ziewer), »Vera Romeyke ist nicht tragbar« (Renke Korn), Ulrike Meinhofs Radio-Features (»Karl Wolff oder: Porträt eines anpassungsfähigen Deutschen« und »Gefahr vom Fließband«), Max von der Grüns Geschichten aus der Arbeitswelt, Katharina de Fries (»Sie können keinen erziehen, den sie nicht haben«), Jochen Ziem (»Die Klassefrau«), Ingeborg Drewitz (»Vater spielt mit meiner Eisenbahn«) und dazu passend die aufklärerische Periode der«Schaubühne am Halleschen Ufer«.
Bremer Gespräch (Fortsetzung):
Dein Einstieg zum Radio war also rein zufällig?
Ja, zuerst beim Kinder- und Jugendfunk. Und nach ein paar Tagen wurde ich gefragt, ob ich einen Fernsehfilm machen möchte. Ich gab zu bedenken, dass ich noch nie eine Kamera aus der Nähe gesehen hätte, und der Redakteur sagte: „Die meisten hier auch nicht!“ So bin ich zum Fernsehen gekommen und hab den größten Teil der 70er Jahre parallel zum Radio Kinder- und Jugendfernsehen gemacht, später dann auch TV-Features und ein paar Sachen für die Reihe „Das Kleine Fernsehspiel“ im ZDF.
Damals hatten die Sender noch ordentlich Kohle …
Warum bist Du dann doch mehr Radio- als Fernseh-Autor geworden?
Es war in den 70er Jahren, als ich gemerkt habe, dass die Herstellung eines Films ein sehr zäher Prozess ist, der einen womöglich mehr hemmt als beflügelt. Der technische Stab war groß, selbst bei Interviews waren wir meistens vier Leute. Und die Gewerkschaft hat sehr genau darauf geachtet, dass Arbeitszeiten eingehalten wurden.
Das war so: Wenn du eine Szene in einem Spielfilm gedreht hast und viele Leute beschäftigt waren, und wir brauchten Sonne, dann haben wir rumgehangen und gewartet, dass die endlich wieder rauskommt. Sie kam auch kurz vor Fünf, prima, wir haben alle zusammengerufen, aber es konnte passieren, dass der Kameramann sagte: „Tut mir leid. Ich habe Feierabend.“ Das ist mir mehrmals passiert. Ich verstand das ja auch, die Leute waren fest angestellt, die konnten nicht immer so, wie sich das freiberufliche Regisseure ausmalten.
Das führte dazu, dass ich mir selbst eine gebrauchte Kamera-Ausrüstung kaufte (ich blätterte auf den Schlag ein paar Riesen hin), weil ich dachte: „Wenn die den Hammer hinlegen, dann fang ich erst richtig an !“ Das war natürlich völliger Quatsch, weil das gar nicht vorgesehen war, dass sich da einer nebenher selbstständig macht. Diese Karriere ist dann auf elegante Weise dadurch zu Ende gegangen, dass eines Tages zwei Kriminalbeamte bei uns zu Hause auftauchten und die Geräte konfiszierten. Die waren irgendwo gestohlen worden, was weder der Gebrauchtwarenhändler noch ich wissen konnten.
Hat es Dich zum Radio gezogen, weil Du der Film-Teamarbeit überdrüssig warst? Oder war es eine Entscheidung für das Medium Rundfunk?
Beides. Ich hab erst später gemerkt, dass mich am Hörmedium besonders die abstrakte Komponente reizt. Das heißt, die Person, die ich aufnehme, ist für den Zuhörer äußerlich nicht festgelegt, so dass er schon bei ihrem Anblick Aversion oder Zuneigung empfinden könnte. Er konzentriert sich auf das, was der unsichtbare Mensch zu sagen hat. TV-Bilder sind zunächst nur Oberfläche, die ich durch immer rasantere Schnitte nur drei Sekunden oder weniger pro Einstellung betrachten darf. Fernsehen – ich rede von der täglich erlebten Praxis – ist ein ungeheuer invasives, dominantes Medium. Das Radio gibt mir größere Freiheiten. Jeder Mensch wird beim Zuhören andere Bilder produzieren. Das ist, was ich daran besonders liebe – genauso wie die Schwarz-Weiß-Fotografie im Gegensatz zu Farbbildern.
Als Radioautor konnte ich aber auch viel eher … Autor sein. Mit meinem eigenen Arbeitsgerät war ich unabhängiger – mehr wie ein Schriftsteller der alten Schule mit seinem Füllfederhalter.
Waren Aufnahmegeräte damals nicht sehr teuer?
Das stimmt schon. Aber wenn Du Musiker bist, hast Du auch deine eigene Geige und leihst dir nicht vor jedem Konzert eine andere aus. Ich hatte jetzt die Möglichkeit, spontan zu reagieren. Das Gerät hing bei mir am Kleiderhaken, ich brauchte es nur zu nehmen, und ab ging die Post. Aber ich hatte nicht nur die technische Freiheit, sondern auch die inhaltliche – mehr als beim Fernsehen. Man zieht los und weiß nicht immer, was passieren wird.
Manchmal gehe ich irgendwo hin, notiere ein paar Sachen, und es hat keinen Sinn, etwas aufzunehmen. Das andere Mal ist es umgekehrt. Oft, besonders auf Reisen, ist meine Frau dabei. Hinterher erzählt mir Heidrun genau, wie jemand auf sie gewirkt hat, wie er oder sie ausgesehen hat und so weiter. Meine Erinnerung an Äußeres ist viel zu ungenau. Ich habe immer mehr gehört als gesehen.
In der früheren Sowjetunion war es zum Beispiel wichtig, welche Gerichte in welchem Ambiente wir zu uns nahmen. Uns Berichterstatter versuchte man ja regelmäßig mit sehr gutem Essen und Wodka zu erschlagen, damit wir nicht zu neugierig wurden. Heidrun hat immer aufgepasst, dass die kritischen Fragen nicht zu kurz kamen.
Wir sind nachher dazu übergegangen, selbst zu produzieren. Seit etwa 1981/82 haben wir fast jede Sendung technisch hergestellt, davon 15 Jahre lang analog, mit Magnetband. Auch im eigenen Studio hatte ich die Freiheit als Radio-Autor. Ich konnte mitten in der Nacht aufstehen und ein Band schneiden, weil ich dachte: Jetzt will ich aber wissen, wie das klingt.
Das längste Format, das wir uns zumuteten, waren die „Radiotage“ des Hessischen Rundfunks, zum Beispiel „Ein Tag in Europa“ 1999 – 16 Stunden lang reiner O‑Ton aus 33 Ländern. Soundscapes, dem Uhrzeiger folgend. Keine Übersetzung. Das Programm, an dem wir fast ein Jahr lang arbeiteten, begann am Morgen mit einer langen, sehr stillen Passage, zwölf Minuten – kein Voice-over-Kommentar! Zu Anfang sagte ein Moderator nichts weiter als: „8 Uhr 5. Beim Schlagen der Toaca erwacht das Frauenkloster Varatec im nordöstlichen Rumänien. Es ist Winter, acht Grad unter Null. Der Schnee hart gefroren“. Und das reichte, um die Geräusche zu identifizieren: Wie die Frauen durch den hart gefrorenen Schnee zur Morgenmesse stapfen, auf ihr Klangholz schlagen, durch die knarrende Eichentür in die Kapelle huschen … Man hörte sogar das Geräusch ihrer Wollröcke.
Natürlich lauert in dieser Methode auch eine Gefahr. Ich will so wenig Text wie möglich verwenden, die Töne „selbst sprechen“ lassen. Doch manchmal reden sie zu ungenau. Die Aussage bleibt ambivalent. Mit der Zeit habe ich gelernt, den O‑Ton „abhängen“ zu lassen wie geräucherten Schinken. Am besten, ich höre meine Aufnahmen drei oder vier Wochen überhaupt nicht mehr, so dass sie mir fremd werden. Es kann sein, dass ich den O‑Ton, der an meiner Stelle reden sollte, selbst nicht mehr verstehe. Und was machen Zuhörer dann mit diesem Knarren, Schaben, Knirschen ? Dann brauche ich einen kleinen Text.
Manchmal genügt nur ein Wort.
Wie viel Freiheit bekommen Autoren von Redakteurinnen und Redakteuren? Du hast die Erwartungen eines Redakteurs in Deinem Buch anhand eines Features über Autonome beschrieben.
Am Anfang fand ich den Redakteur furchtbar lästig. Es stellte sich schnell raus, dass er bei dem Thema etwas völlig anderes erwartete. Vereinfacht gesagt: Er wollte eine Art Abrechnung mit diesen Menschen, die sich politisch vorkommen aber in Wirklichkeit keine Ahnung haben und das Ausleben ihrer Aggressionen nur rechtfertigen, indem sie sich ein politisches Mäntelchen umhängen. Und ich wollte denen mal zuhören und sie reden lassen.
Die erste Verabredung war mit einem vom schwarzen Block, der schon Knasterfahrung hatte, ein ziemlich radikales Leben führte und die härteste Kampfsportart betrieb, um sich beim Zusammentreffen mit den Neo-Nazis behaupten zu können. Der hat sein ganzes Leben darauf abgestellt. Ich hab mich dann konspirativ verabredet und dachte: „Mit dem musst du umgehen wie mit einem rohen Ei!“ Weil die Kneipe geschlossen hatte in Kreuzberg, haben wir uns dann bei mir zu Hause verabredet. In meinem kleinen Studio in der Knesebeckstraße. Er musste also ins Feindesland gehen, von Kreuzberg nach Charlottenburg, das war schon ein Schritt.
Ob er überhaupt kommt? Und wenn er kommt, kommt er bestimmt zwei Stunden zu spät. Von wegen. Er war fünf Minuten vor dem Termin da, hat geduldig nachgedacht über jede Antwort, bevor er sie gab. Vieles war eher gefühlt als gedacht, aber er war ein interessanter Mensch. Jemand, der keine große Schulbildung hatte, der früh aus der Schule ausgestiegen war und sich durchs Leben schlug; jemand den man ernst nehmen muss schon allein durch seine Biografie.
Aber ich konnte den Redakteur nicht überzeugen. Wir waren mehrmals nah am Abbruch unseres Projekts. Aber am Ende dachte ich doch: „Im Kern hat der Mann Recht.“ Das ganze „Mal-Zuhören-und-Reden-lassen-und-den-Autonomen-eine-Bühne-geben“ hat nicht alles gebracht, was ich mir versprochen hatte. Ich würde heute viel härtere Fragen stellen als damals und auch manche Sprechblase vor offenem Mikrophon platzen lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Redakteur fand ich jedenfalls sehr lehrreich.
Als Autor braucht man Aufträge, um das Leben zu finanzieren. Gab es in den 40 Jahren Situationen, wo Du Erwartungen nicht erfüllen wolltest und den Auftrag wieder zurückgegeben hast?
Hm … Es gab eine Geschichte, die habe ich von mir aus abgebrochen. Es ging dabei um drei jüdische Gemeinden in Deutschland. Das hätte ich ganz spannend gefunden, weil da so viele Verwerfungen waren – der Ansturm der Juden aus der Sowjetunion zum Beispiel, auf die sie sich plötzlich einstellen mussten. Bisher waren es kleine Gemeinden gewesen, religiös orientiert, und jetzt kamen die alle und sagten: „Wir sind auch Juden, wir gehören zu Euch.“ Das Problem ist bis heute nicht gelöst.
Ich war schon dran, hatte gute Aufnahmen, und dann passierte es, dass das israelische Militär Teile eines Flüchtlingslagers im palästinensischen Gebiet, in Jenin, geschleift hat. Dies wurde auch als Massaker bezeichnet. Bis heute kann man darüber streiten, weil Jenin galt auch als Schwerpunkt der radikalen Hamas. Für uns aber aus der Entfernung stellte sich das als Massaker dar. Es war fürchterlich, man sah nur die zerstörten Häuser – doch mir fiel auch auf, dass im Fernsehen immer dieselben Häuser gezeigt wurden.
Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich in dieser Situation die Sendung über die jüdischen Gemeinden in Deutschland und ihre vergleichsweise kleinen Probleme mache und den aktuellen politischen Aspekt völlig ausblende. Ich habe es dem MDR so gesagt und sie haben es hingenommen.
Wir haben viele Freiheiten im öffentlichen Radio hier in Deutschland, gerade beim Hörfunk. Wir bewegen uns ja auch in einer Nische. In Berlin gab es einen Intendanten, Lothar Löwe, mit dem ich vorher nie gesprochen hatte, und ich arbeitete an Sendungen über die Friedensbewegung in verschiedenen Ländern. Ich stieg im Haus des Rundfunks in den Paternoster, Löwe zufällig dazu. „Ja, was machen Sie denn grade?“ … „Ich mache eine Reihe ‘Die Belagerung der Macht’ über die europäische Friedensbewegung“ … „Daraus wird nichts werden!“ Weg war er.
Ich in die Redaktion: „Der Löwe hat mir die Serie verboten – wegen des Titels wahrscheinlich. Im Fernsehen geht das nicht, hat er gesagt. Ich hatte gar keine Zeit zu sagen, dass ich für den Hörfunk arbeite.“ Da sind wir gemeinsam zu ihm hingegangen, haben gesagt: „Wir sind schon so weit und haben so viele Reisen schon gemacht, nach Norwegen, England, Frankreich.“ Dann sagte Löwe: „Ach so, das ist fürs Radio! Dann machen Sie das mal.“
Seitdem kenne ich den gravierenden Unterschied zwischen Fernsehen und Hörfunk.
Einen Aspekt in Deinem Buch fand ich besonders interessant: das Ende des Rundfunks in der DDR und die Neugliederung des gesamtdeutschen Rundfunks. Der Umgang mit den unterschiedlichen Biografien in beiden Teilen Deutschlands und in den Funkhäusern, die Gründung von Sachsenradio, MDR und ORB. War man gegenseitig neugierig aufeinander oder wussten die Westler schon, wie man „richtig Radio macht“?
Vor der Wende gab es eine Gruppe, die hieß „Rundfunk-Autoren und ‑Regisseure in der Neuen Gesellschaft für Literatur“, und in dieser Gruppe haben wir uns etwa alle zwei Monate mit Delegationen vom Rundfunk der DDR getroffen. Einmal bei uns im Westen und einmal „drüben“. Es war eine furchtbar komplizierte Angelegenheit, weil man u. a. für Ost-Berlin ein Sammelvisum brauchte, und da musste vorher genau eingetragen werden, wer teilnimmt.
Das war wirklich noch vor der Wende?
In den letzten drei DDR-Jahren hatten wir regelmäßig Treffen, bei denen mit offenem Visier diskutiert wurde. Wir haben uns gegenseitig Sachen vorgeführt – Fachleute unter Fachleuten, Hörspiel und Feature. Da waren viele, mit denen wir immer noch befreundet sind.
Beim „Tränenpalast“ an der Mauer wurden wir abgeholt, in den Bus verfrachtet und in die Nalepastraße gefahren. Dort angekommen, mussten wir unsere Ausweise abgeben. Am Eingang des Rundfunks der DDR saßen drei Frauen, alle wie ich mich erinnere in Kittelschürzen, und die guckten uns kaum an. Im Hintergrund summte ein Samowar, als wäre es ihr Wohnzimmer, so schön geschmückt, und die eine nahm den Ausweis, ohne dich anzuschauen. Nach einer Weile schob sie ihn der Zweiten zu, die guckte ebenfalls drauf. Die Dritte gab dir den Pass zurück.
Unsere Diskussionen mit den Kollegen waren nie feindselig. Das Freund-Feind-Schema spielte keine große Rolle. Man hat schon darüber geredet, was in der DDR möglich war und was nicht. Feature, wie wir es verstehen, gab es dort nur in Ausnahmefällen. Feature verlangt sehr weit gehende Autorenfreiheit. Die gibt es auch nicht immer in den alten Bundesländern. Wenn ich höre, dass junge Kollegen vorher genau sagen sollen, was bei der Recherche am Ende herauskommt, dann finde ich das schlimm. Dieses Thema hatten wir auch bei unseren Ost-West-Diskussionen – kontrovers, versteht sich.
Ich habe eine Sendung darüber gemacht, wie der DDR-Rundfunk im Nullkommanix aufgelöst wurde: „Der andere Kanal“. Das Ende war vielleicht unvermeidbar, aber menschlich war das eine große Tragödie.
Was konntest Du von den Kollegen des künftigen MDR lernen?
Ich wurde oft hingeschickt von Leo Braun, damals Feature Chef beim „Sender Freies Berlin“. In der Nach-Wendezeit bin ich immer brav gefahren, wusste aber gar nicht so recht, was ich ihnen da beibringen soll. Nachher ist die Kooperation zwischen den beiden Funkhäusern entstanden, sogar ein gemeinsames Programm.
Ja, was konnte man lernen? Auf jeden Fall die Dringlichkeit von Radioprojekten. Wir hatten uns im Westen ja oft Themen zugewandt, die eher privaten Obsessionen entsprangen. Das lag zum Teil an den Redaktionen, die einen als Autor nicht genügend an die Kandare genommen haben. Ich hätte mir manchmal mehr “Zucht” gewünscht, nicht als Verbot oder ausdrückliche Erwartung, sondern was die Relevanz eines Themas angeht. Ein gutes Feature-Thema hat eben verschiedene Schichten – historische, politische, soziologische, soziale.
Diese Dringlichkeit ist uns bei unseren Reisen in den sogenannten Ostblock überall begegnet. Durch den überstandenen Regierungsdruck waren die Gesellschaften nach 1989 gezwungen, sich dringlich-neuen Themen zuzuwenden. Auch das Radio. Also vorerst keine bloßen Spielsachen. Dadurch habe ich auch meine eigenen Themen-Vorschläge überprüft: „Muss das unbedingt sein?“ Es geht mir heute noch so. Ich möchte wieder thematisch dorthin kommen, wo es wichtig ist.
Ansonsten war die Herstellung von Sendungen hier und dort nicht besonders verschieden. Die hatten andere Begriffe, manche klangen nur anders – wie „cutten“ und „köttern“. Wenn es politisch nicht weiter ging, konnten wir eine Weile über die Studio-Arbeit reden, über den Umbruch der analogen zur digitalen Technik. Das war zu der Zeit ein großes Thema, weil das nicht überall so glatt ging. Da waren Audiofiles plötzlich verschwunden, die eben noch auf dem Schirm gewesen waren. Diese ersten digitalen Geräte konnten auch die Techniker zur Weißglut bringen – in Ost und West.
Als ich anfangs bei Radio Bremen meine Töne schneiden ließ, gab es Tontechniker, die den Übergang zur digitaler Technik gehasst haben.
Warum sollte man das hassen? Das ist die Entwicklung. Ich kann für meine Frau Heidrun und mich in Anspruch nehmen, dass wir zu den ersten freien Autoren gehörten, die ab 1995 digital produzierten, von der Aufnahme bis zur fertigen Sendung. Weil wir uns gesagt haben, das kommt sowieso. Man muss die neue Technik nicht lieben, kann sie aber benutzen.
Wie hat sich das Feature durch die Technik verändert? Kannst Du beschreiben, wie die Technik auch die Entstehung eines Stückes beeinflusst?
Sie hat mir mehr Freiheiten gegeben – aber mich leider auch Heidruns spontanes Feedback während des Machens gekostet. Manche O‑Töne sind ja auch im Dialekt oder genuschelt. Ich selbst weiß ja, was die Betreffenden sagen, ich hab’ es x‑mal gehört und aufgeschrieben, aber andere verstehen das vielleicht nicht.
In der Regel war Heidrun immer die Erste, die alles zu hören bekam. Sie hat eine Art, die Augen zu rollen oder zum Schlitz zusammenzuziehen – da weiß ich sofort was falsch läuft. Als wir analog produziert haben, saßen wir immer zusammen, jeden Tag acht, neun, manchmal zehn Stunden. Heidrun an fünf Zuspielmaschinen war auf ihrer Klaviatur wirklich brillant, so dass man mehrere Strecken hintereinander wegmischen konnte, ohne anzuhalten.
Heute macht es keinen Sinn mehr, zu zweit vor dem Bildschirm zu hocken. „Es“ denkt in Dir, dem “technischen Autor”, und deine Finger setzen es um, und da musst du nicht zwischendurch erklären, warum du am Regler diese oder jene Bewegung vollführst.
Habt Ihr überlegt, als Autorenduo gemeinsam Feature zu machen?
Da hatten wir „klare Verhältnisse“. Nie Konkurrenz. Heidrun ist als Mit-Autorin mehrfach erwähnt worden, zum Beispiel bei den HR-Radiotagen. Aber im Grunde hatte ich die Autorenrolle. Früher war sie neben der täglichen Studioarbeit viel in Bibliotheken unterwegs, hat Bücher und anderes Material zu den jeweiligen Themen nach Hause geschleppt. Das liefert uns jetzt hauptsächlich das Netz. Ist schon fantastisch, wirklich, wenn man damit umgehen kann – bei aller nötigen Vorsicht.
Heidrun hat nun eine etwas andere Funktion: Recherche, Lektorat. Und nicht ganz unwichtig: die Ökonomie.
Fällt dadurch auch ein Stück Korrektur weg?
Man muss sich die Korrektur-Möglichkeiten breit organisieren. Ich habe öfter so halbfertige Sachen, die ich Kollegen oder Freunden vorspiele, um sie zu fragen: „Was hältst Du davon? Hast Du alles verstanden?“ Die Kritik darf deutlich ausfallen. Freunde schulden das einander.
Oft heißt es immer noch: „Du bist ja jetzt so einsam, ist das nicht furchtbar? Immer allein vor deinem Bildschirm.“ Du lieber Gott, man lebt doch nicht nur vor der Mattscheibe. Wenn ich Gesellschaft nötig hätte und dafür ins Studio gehen müsste – das wäre ja traurig.
Aber es stimmt schon: Ich brauche diese freundschaftliche Korrektur-Instanz. Man verrennt sich leicht allein. Am Anfang war das Digitale einfach zu verlockend. Du kannst die fertige Sendung an jeder Stelle „verbessern“ — Schnitte, Übergänge, Lautstärken. Im Analogzeitalter hat die Band-Qualität gelitten, je öfter du nachgebessert hast. Bei der digitalen Technik gibt es keine Qualitätsverluste. Du kannst hundertmal über die gleiche Stelle polieren.
Ist es eine Gefahr der digitalen Technik, dass dadurch Lebendigkeit verloren geht?
Das höre ich immer: „Ja digital, das ist so clean, so trocken.“ Aber die sogenannte „Wärme“ kommt nicht aus der Aufnahme und nicht von den Tönen, um die es geht, sondern von dem betreffenden Tonträger. Es ist schön, dass Leute Langspielplatten so lieben. Nur die angeblich höhere Klangqualität hält keiner Nachprüfung stand. Ich arbeite wirklich viel lieber digital inzwischen, weil genau das Rauschen und Brummen des Tonträgers wegfällt – die vermeintliche Wärme.
Doch auch schon bei den Aufnahmen hat sich die Situation für Autorinnen und Autoren verändert. Kleine Geräte, weniger Gepäck, mehr Speicherkapazität…
Manche glauben, dass die Technik inzwischen so gut sei, dass sie alles alleine macht. Ja, die Aufnahmegeräte werden immer kleiner („Handhelds“), und viele ermöglichen Aufnahme und eine rudimentäre Tonbearbeitung in einem.
Aber?
… Aber unser Hausvorteil beim Feature ist der Autor, der seine Arbeit liebt; der sich mit Themen beschäftigt, die ihm am Herzen liegen. Dazu gehört auch die Akustik. Wir müssen im akustischen Gesamteindruck sehr viel besser sein als jeder aktuelle Berichterstatter.
Maßstab sind Hörgewohnheiten der Menschen, die ihre Ohren durch kommerzielle Produkte der Audio-Industrie mehr und mehr geschärft haben. Gerade Musikproduktionen haben ein Maß an Perfektion erreicht, das kaum zu überbieten ist. Dagegen sind unsere eigenen Aufnahmen manchmal noch grauenvoll schlecht.
Wir sollten die Qualität der Originaltöne und der im Studio aufgenommenen Sprechertexte so anzugleichen lernen, dass daraus eine einzige durchgehende Radio-Erzählung entsteht. Das heißt: Nähe, Stereo-Balance, Vermeidung von Störgeräuschen, ständige Kontrolle durch Kopfhörer, die Auswahl der geeigneten Mikrophone und Speichermedien. Handwerk eben.
Was kann Feature, was nur dieses Genre kann? Was spricht für die lange Form im Radio?
Menschen erzählen mir etwas – Wörter, Inhalte, nicht bits und bytes. Es sind menschliche Stimmen, die zu mir reden – von ihren eigenen Gedanken und Wahrnehmungen. Eine Stimme im Radio muss kompetent sein, sie muss intelligent sein, sie muss auf spezielle Weise interessant sein, und dann höre ich ihr gerne zu.
Feature nimmt sich Zeit für Entwicklungen, denen ich als Hörer folgen kann – gedanklich und emotional.
Und wie soll es weitergehen mit dem Radio ?
Wir sind eine Minderheit – genauso wie Leute, die Lyrik mögen oder in klassische Konzerte gehen. Eine Gesellschaft besteht aus vielen Minderheiten. Und wenn man allen sagen würde, das braucht man nicht mehr, ihr seid zu wenige, dann könnten wir unsere Kultur ganz einpacken. Wir brauchten keine Bücher mehr, Theater brauchten wir dann auch nicht, alles liefe im Fernsehen und im Multiplex-Kino in 3D.
Man kann das nicht in Quoten messen. Das Feature ist immer Minderheiten-Programm gewesen. Ernst Schnabel – er war ein deutscher Schriftsteller und Pionier des Radios –- hat schon ganz früh, in den 60er Jahren oder Ende der 50er sinngemäß gesagt: „Ihr könnt doch froh sein, dass wir die Mehrheit nicht immer bedienen müssen; dass alles, was wir machen, nicht mehrheitskompatibel sein muss; dass wir uns ein Publikum vorstellen, mit dem wir auf einem gewissen geistigen Niveau kommunizieren können.“
Allerdings – das ist nun wirklich meine Privatmeinung: Jungen Hörernachwuchs mit viel Techno und Bum-Bum für unsere Feature-Programme zu gewinnen, stößt hoffnungslos ins Leere. Ich erfahre durch meinen Sohn und dessen Facebook-Freunde: Die hören keine Kultur Programme mehr. Viele wissen ja nicht einmal, was das Wort „Radio“ bedeutet.
Hier in Fulda wollte meine frühere Schule, dass ich etwas übers Radio erzähle. Ich habe Beispiele ausgewählt, die gleichzeitig mit der deutschen Geschichte zu tun hatten – vom ersten Weltkrieg bis zu den Russlanddeutschen in einem bestimmten Stadtviertel, wo es vor kurzem noch große Probleme gab. „Unsere Russen“ hieß das Stück. Kurz gesagt: Radio dieser Art konnten sie sich gar nicht vorstellen. Nie so was gehört. Es waren immerhin Sechzehn‑, Siebzehnjährige im Gymnasium!
Ich erlebe schon, dass es einen Kreis von jungen Leuten gibt, die durch Internet, durch Podcasting von Sendungen hören, die sie interessieren. Und diese Feature laden sie runter und hören sie an.
Gut, ich will nicht zu sehr schwarz malen. Dass man mit Radio Jugendliche überhaupt nicht erreichen kann, ist eher eine traurig stimmende Vermutung. Nur sind unsere Kulturprogramme viel zu hermetisch, zu selbstverliebt. Die Schwelle schaffen schon viele Erwachsene nicht.
Würdest Du wieder Feature-Autor werden wollen, mit den Möglichkeiten, die es heute gibt, aber auch mit der Konkurrenz und den weniger werdenden Sendeplätzen?
Nein, das würde ich heute nicht mehr machen – nicht hauptberuflich. Als jemand, der bei Null anfängt — auf keinen Fall. Davon zu leben, so wie wir es 40 Jahre lang gemacht haben, ist heute fast nicht mehr möglich.
Um heute als Feature Autor überleben zu können, muss man ein Feature nach dem anderen machen. Alles wird enger: Koproduktionen, Übernahmen, Sendeplätze. Widerspricht das nicht der Idee, dass man als Autor für ein Feature mehr Zeit, mehr Experimente braucht, um den anderen Blick auf ein Thema zu haben?
Dafür müsste man schon einen starken Charakter haben und sehr viel Begeisterung. Unmöglich ist das nicht. Und alles, was möglich ist, und was man machen muss, muss man unbedingt auch machen.
Meine Frau und ich beziehen jetzt beide unsere Rente, von der wir leben können, und wir müssten nicht mehr arbeiten. Insofern kann ich die Frage nicht für andere beantworten. Ich würde mir wünschen, dass junge begeisterte Radioleute, die Feuer gefangen haben, auch wirklich dran bleiben. Sie werden nicht allein davon leben können. Aber viele berühmte Autoren haben vorgemacht, wie es dennoch geht –- Camus war Korrektor in einem Pariser Verlag, Joyce hat in Italien Sprachunterricht gegeben, um seine Bücher schreiben zu können.
Kannst Du denn vom Feature lassen?
Nee, Du siehst es ja, dass ich wieder angefangen habe. Eigentlich hab ich die Schnauze voll, aber das ist falsch gesagt — man wird ein bisschen müde mit der Zeit. Eine aufwändige Recherche-Sache mit anstrengenden Reisen würde ich nicht mehr anpacken. Ich dachte immer, eines Tages weiß man, wie es läuft, und dann hat man weniger und weniger zu tun. Bei mir ist der Aufwand – vielleicht auch der Anspruch – immer größer geworden. Das ist nicht gut, und das bekommt einem auch nicht. Aber – nee, aufhören geht nicht. Dann ist man eigentlich tot.
40 Jahre Radio heißt auch ganz viel hören. Merkst Du, dass die Hörfähigkeit abnimmt, was vielleicht dem Alter geschuldet ist?
Na klar, das ist ein Alterungsprozess. Das finde ich bei Gleichaltrigen fast überall. Die höheren Frequenzen höre ich von Jahr zu Jahr schwächer. Es gibt Dinge, die ich überhaupt nicht mehr höre, eine bestimmte Art von Zikaden zum Beispiel. Dann muss ich Heidrun fragen: „Hörst Du da etwas? Oder rauscht diese Aufnahme? Hör doch mal rein!“
Man fängt als junger Mensch bei etwa 20.000 Hertz an, und in meiner Altersgruppe sind nicht mehr als 7.000 Hertz übrig geblieben. Deshalb bin ich froh, dass ich bei dem neuen Stück über den Ersten Weltkrieg weniger auf Akustik baue als auf Inhalte; auf das, was Menschen sagen. Bei manchen Tönen aus unserem Archiv schwärme ich: „Wie schön !“ Und Heidi sagt: „Das rauscht wie Hechtsuppe!“
Das ist der natürliche Gang der Dinge. Und das geht in Ordnung.