Ypern

Die Stadt, die mit den Toten lebt

DLF 2003 – Dau­er 44:24 – Sprecher/in: Ute Marin, Eck­hard Gar­c­zyk, Tho­mas Vogt und der Autor

Ypern (Ieper) in Flan­dern, heu­te 35 000 Ein­woh­ner, war die ers­te Stadt, die im 20. Jahr­hun­dert dem Erd­bo­den gleich gemacht wur­de — aus­ra­diert wie Sta­lin­grad oder die Alt­stadt­ker­ne von War­schau und Dan­zig. Deut­sche Artil­le­rie leis­te­te gan­ze Arbeit. Rund um den Ort, auf mehr als 170 Grä­ber-fel­dern, ruhen die Über­res­te von einer hal­ben Mil­li­on (meist bri­ti­scher) Soldaten. 

In 60jähriger Arbeit wur­de Ypern, Stein für Stein, wie­der auf­ge­baut — “mit­tel­al­ter­li­cher denn je”, wie ein Stadt­his­to­ri­ker frot­zelt. Die Ein­woh­ner von Ypern haben sich auf dem weit­läu­fi­gen Fried­hof ein­ge­rich­tet; vie­le zie­hen Nut­zen dar­aus. Seit Jahr­zehn­ten boomt der Schlacht­feld­tou­ris­mus. Ande­re möch­ten die­ses Image los­wer­den. Das kühns­te Unter­neh­men, genannt “Fland­ers Lan­guage Val­ley” (eine High-Tech-Sied­lung für die Ent­wick­lung von Sprach­er­ken­nungs-Pro­gram­men) ende­te aller­dings mit einem Fiasko.

Der Autor trifft Opfer die­ser Rie­sen­plei­te. Er gräbt mit den “Dig­gers”, einer Grup­pe von Ama­teur-Archäo­lo­gen nach Kno­chen und Waf­fen, die noch über­all ver­streut sind. Geht mit bri­ti­schen Tou­ris­ten auf Grä­ber­su­che. Er schlen­dert über den Markt­platz und durch nächt­li­che Stra­ßen. Lauscht dem Caril­lon-Kon­zert auf dem Bel­fried der wie­der-erstan­de­nen Tuch­hal­le. Blickt beim all­abend­li­chen “Last-Post”-Blasen am Stadt­tor in die trä­nen­feuch­ten Augen ordens­ge­schmück­ter World War One Vete­ra­nen. Besucht das akus­tisch auf­re­gen­de, inter­ak­ti­ve Anti­kriegs­mu­se­um “In Fland­ers Fields” und unter­hält sich mit Mit­ar­bei­tern und Besu­chern über die Fra­ge, ob erleb­tes Grau­en den Nach­ge­bo­re­nen ver­mit­telt wer­den kann. Er zitiert aus  Kriegs­brie­fen deut­scher Land­ser, die mit sport­li­cher Begeis­te­rung eine der schöns­ten Städ­te Euro­pas in Trüm­mer leg­ten. Er spricht auch mit dem Bür­ger­meis­ter und vie­len Ein­woh­nern und trifft Jugend­li­che, die der “Kriegs­kult” nur noch langweilt.

Aber so schnell wird Ypern sei­ne Toten nicht los …

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