Die Stadt, die mit den Toten lebt.
Deutschlandfunk (2003).
YPERN, MENENTOR / LEBHAFTES STIMMENGEWIRR
Autor Kein Stadttor – ein Triumphbogen … Viel zu groß für das kleine Ypern, 35 000 Einwohner. Das Riesentor an der Ausfallstraße nach Menen ist ein Siegerdenkmal. Und nicht das einzige in Flandern. Denn der Sieg war blutig. 55 000 Namen sind hier eingemeißelt — tote Engländer, Australier, Neu-Seeländer, Kanadier und Kolonialsoldaten. Die Stadt ist von fremden Toten besetzt.
Wir sind fünf‑, sechshundert — wir Touristen, die jetzt schlagartig verstummen und ein passendes Gesicht aufsetzen.
DAS STIMMENGEWIRR EBBT AB / TROMPETENSIGNAL
Ansage
REDNER … These stories are stories of mud and blood, of unspeakable suffering and limitless human endurance. However they are also stories of courage and devotion to duty, of comradeship and self-sacrifice…
Sprecher Schlamm- und Blutgeschichten … unaussprechliches Leid und grenzenloses Durchhalten … Mut und Hingabe … Kameradschaft, Opfer…
DASSELBE AUF NIEDERLÄNDISCH / DARAUF:
Autor Ein Gedränge wie bei der Wachablösung vor Westminster Palace oder an der Kremlmauer. Der Papst war schon da, Präsident Bush der Ältere, Mutter Theresa, Shimon Peres … Jeden Abend dieses Ritual, seit 1928.
REDNER …Today we commemorate in particular 14th August 1915. Captain Maynard Percy Andrews of the 1st / 4th Battalion, The Duke of Wellington’s Regiment. When one of his men — Private Lee — was badly wounded by a shell, Captain Andrews assessed that he needed to be got to the dressing station as a matter of urgency. As it was impossible to carry a stretcher through the flooded communication trench…
Sprecher Wir gedenken Captain Andrews. Ein Soldat aus seiner Einheit war verwundet worden. Der Verbindungsgraben überschwemmt. Ungedeckt trugen sie den Kameraden aus der Feuerzone. Dann, im letzten Augenblick, ein Treffer. Captain Andrews rettete ein Leben und bezahlte mit dem eigenen.
SPRECHER Now your attention in silence for the Last Post !
ZAPFENSTREICH
ZWEITER SPRECHER(David Bartlett) … They shall grow not old, as we that are left grow old. Age shall not weary them nor the years condemn. At the going down of the sun and in the morning we will remember them …
MEHRERE STIMMEN We will remember them…
STIMMENGEWIRR UND VERKEHRSLÄRM SETZEN WIEDER EIN / EINE FOLKLORISTISCHE MUSIK
Autor Da geht ein Pappbecher herum – mit gutem, altem Whiskey!
“Auf Captain Andrews !” Und jetzt ab in die Cafés am Marktplatz.
Das reinste Mittelalter, wie gemalt ! Und so gut erhalten!
HISTORIKER (DEUTSCH) Der ganze Stadtbereich ist von der deutschen Artillerie zerschossen worden. Bei der Zweiten Schlacht von Ypern – das ist April / Mai 1915 – war dann die Beschießung so stark – dann hat man die Bevölkerung endgültig evakuiert.
Autor Ypern, Ieper oder Wipers (im Jargon der Engländer) war 1918 praktisch ausradiert, ein flacher Schutthaufen wie später Stalingrad, wie die Altstadtkerne von Warschau oder Danzig — vier Jahre lang gehalten von den Engländern, belagert und zerschossen von den Deutschen.
HISTORIKER (DEUTSCH) Eines der wenigen Gebäude, die während des Kriegs nicht vollständig zerstört wurden, war das Gefängnis – also müssen die Mauern sehr gut gewesen sein.
STADTFÜHRERIN (DEUTSCH) … Und man sagte, dass 1919, als alles vorbei war, ein Reiter über die Stadt schauen konnte – also nichts war höher als der Reiter, der da war … Das Bild sagt alles …
BATTLE FIELD TOUR (I) / KARTEN WERDEN AUSGEBREITET / BERATUNG
AM STRASSENRAND / IM HINTERGRUND DIE GERÄUSCHE EINER SCHNELL-STRASSE
STIMMEN … The motorway goes up to this part … Tyne Cot … The railway line … Thames bunker … This is still the original railway line … When we come in to Zonnebeke we turn left and then we turn right…
Autor Die Urenkel von Captain Andrews auf der Suche nach dem Ort, wo ihn
die deutsche Kugel noch im letzten Augenblick erwischt hat, damals ‑1915.
STIMMEN
Autor Ihr Guide heißt David Bartlett. Einer der vielen Engländer hier. Hat sich mit den Toten eingerichtet.
STIMMEN … Everything was a muddy morast … They would have had to erect signs to say: This is Zonnebeke, this is Westhoek – there was nothing left …
Sprecher Damals nur Morast. Die mussten Schilder aufstellen. Von den Ortschaften war nichts mehr übrig…
Autor Das sind die “Killing Fields”, die Blutäcker… Zu Anfang war der Krieg noch Handarbeit. Man musste laden, schießen, zustoßen, das Bajonett im Feind herumdrehen … Hier war alles Front.
Heute eine Friedhofslandschaft. Rund um Ypern 150 britische Soldatenfriedhöfe.
Sprecher …Enclosure Nr. 3 — Elzenwalle Brasserie Cemetery — Ridge Wood Military Cemetery — Bedford House Cemetery — Hedge Row Trench Cemetery — Larch Wood Cemetery — Railway Dugouts Burial Ground — Blauwepoort Farm Cemetery — 1st Australian Tunnelling Memorial Hill 60 …
IN DER STADT / FÜHRERIN (DEUTSCH) Schon 1919 kamen viele Touristen … Katastrophentouristen … Und man hatte schon Führer geschrieben, man machte Cafés … Das war eigentlich der Anfang …
HISTORIKER Diese “Michelin-Battlefield-Tours”, die kommen schon 1919 auf den Markt. Und es ist interessant, dass Michelin heutzutage noch eine Sonderkarte hat, wo all die Friedhöfe drauf sind.
Sprecherin…Hotel Britannic, The Albion Hotel, Tearoom, The Times Bar,
Old Tom…
HISTORIKER Wir haben kaum Kosten damit – die Friedhöfe werden von den Briten selbst gepflegt. Also für die Ecke ist das heutzutage ganz klar Gewinn.
BATTLE FIELD TOUR (II) / BARTLETT … This is point A … The bottom of the trench line … This is D … A, B, C, D … (HANDYSIGNAL)
Autor “…In Flanders fields the poppies blow / Between the crosses, row on row /
That mark our place … We are the Dead …” John McCrae schrieb das 1915.
1918 war er tot. Die “Killing Fields” – um- und umgegraben, gut gedüngt – waren voller poppies – Klatschmohn – nach dem “Großen Krieg”. Blutrot.
“IN-FLANDERS-FIELDS”- MUSEUM EINBLENDEN
WEIBLICHE STIMME (LAUTSPRECHER / DEUTSCH) … Wenn man alle diese Verwüstungen sieht, die brennenden Dörfer und Städte, die ausgenommenen Keller und Speicher, die toten oder halbverhungerten Tiere, das brüllende Vieh in den Zuckerrübenfeldern, und dann die Toten, die Toten und Toten …
Autor “In Flanders Fields” heißt das Kriegsmuseum in den Tuchhallen von Ypern.
Piet Chielens, der Koordinator, nennt es “ein Kriegsmuseum mit Friedensbotschaft”.
PIET CHIELENS (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher Wir haben einen Überschuss an Toten hier: 100 000 Menschen auf der Erde, 600 000 darunter. Ich müsste an einem anderen Ort auf der Welt geboren sein, um das nicht zur Kenntnis zu nehmen ! Der Tod eines Soldaten ist so unheroisch. Zwei von drei Gefallenen, die hat es einfach zerrissen – eine Granate und Bumm. Keine letzten Worte.
CHIELENS … Blown to bits …
ATMO HOCH UND WEG
Zweiter Sprecher (ZITIERT) “Die Kerls da drüben mussten denken, wir seien blind oder dumm. Täglich kamen sie bei klarem Wetter auf den Turm, liefen auf der Plattform herum und gaben von oben mit der Hand Zeichen. Blitzschnell war von meinem Major der Entschluss gefasst, die Türme umzuschießen — “Na, das ist ja so ein Ziel für uns, die werden wir schon kriegen!” — Schnell waren Befehle gegeben, Mörser geladen und – bums – sauste die erste Granate im Bogen nach Ypern…”
Autor Ein Kriegstagebuch:
Zweiter Sprecher “Meinen lieben Eltern gewidmet”.
Autor Thomas Friz, früher ein Mitglied der Gruppe “Zupfgeigenhansel”, hat es dem Museum vermacht.
THOMAS FRIZ Im Grunde sind es die Impressionen meines damals sehr jungen Groß-vaters, der sich alles von der Seele schreibt … Wenn ich als Enkel das lesen muss, wie bösartig die Engländer sind und “denen haben wir’s mal wieder gegeben”, und wo die zwei Engländer da oben am Turm runtergucken, und dann der Großvater schreibt: “Da wird aber drauf geballert, dass die Heide zittert !” So ganz zynisch eigentlich, aber so frech auch … Plötzlich war Ruhe, die hat man runtergeholt … Es ist harte Kost ! Großvater war Pfarrer ! Der war total vernarrt in diese nationale Aufbruchsstimmung wie eben alle: Und ich kann mich noch erinnern – wir waren immer in den Sommerferien bei meinem Großvater im Pfarrhaus – und wenn der Opa vom Krieg erzählte, das war feierlich. Das war Kino !
Zweiter Sprecher “… Ein Beben drüben im ganzen Bau, und hier auf den
Gesichtern der Offiziere ein befriedigtes Lachen. Das war ein Kunststück ! Jetzt folgte Schuss auf Schuss. In sich zusammen brach der Turm. Denen, die da oben so waghalsig gestanden und beobachtet, wird wohl die Lust zum Ausschauen
vergangen sein…”
MUSEUMSAKUSTIK: EIN HEFTIGER GRANATEINSCHLAG
Autor Wir betrachten ein Modell des zerstörten Ypern 1918, und wir sehen Dresden und Berlin 1945.
FRIEDENSKONZERT-ATMO EINBLENDEN
An diesem Abend tritt Thomas Friz bei einem Friedenskonzert auf dem Tyne Cot Cemetery auf, dem größten Soldatenfriedhof des British Empire. 12 000 strahlend weiße Grabsteine, umgeben von Maisfeldern und Wiesen mit schwarzbuntem Rindvieh. Zwischen den Gräbern spielen die Kinder.
Ein Text von Kurt Tucholsky, Melodie Hans Eißler.
FRIZ SINGT “DER GRABEN”
Mutter, wozu hast Du Deinen aufgezogen / Hast Dich zwanzig Jahr’ um ihn gequält ? /
Wozu ist er Dir in Deinen Arm geflogen / Und Du hast ihm leise was erzählt? / Bis sie ihn Dir weggenommen haben / Für den Graben, Mutter, für den Graben! (…)
EIN OMNIBUS HÄLT / LUFTDRUCKBREMSE / ENGLISCHE TOURISTENGRUPPE STEIGT AUS /
Autor Dasprivates Kriegsmuseum an der N 8, gleich neben dem Erlebnispark mit der höchsten Wasserrutschbahn Europas.
GERÄUSCHE UND GEKREISCH AUS DEM “BELLEWAERDEPARK”
Man betritt das Museum durch eine Gasse aus Sandsäcken. Der Eingang von Mörsergranaten flankiert. An der Rezeption ein reichhaltiges Angebot an trench art, Schützengraben-Kunst: Zünder und Patronen, blank poliert, mit Goldkettchen. Toys for boys.
FREMDENFÜHRERIN Be careful – there is a slope here !
IM INNEREN DES MUSEUMS:
FREMDENFÜHRERIN Look here – I explain the map that you can understand the war … The fist battle here was a German attack, 1914 … 1915 another German attack … 1917 Passendale battle …
Sprecherin Der erste deutsche Angriff … der zweite …
FREMDENFÜHRERIN If the Germans succeeded to catch Ieper, they should have reached the coast and with their Big Berta canon should have reached Great Britain ‘cause that could fire as far as 70 miles…
Sprecherin Beim Fall von Ypern wäre Deutschland bis zur Küste durchgebrochen.
Und die “Dicke Berta” schoß 70 Meilen weit. Bis nach England.
FREMDENFÜHRERIN I show you something else: Gas 1915 ! The Germans were using Chlorine gas. It was in bottles – thousands of them. And on the 22nd of April, 5 o’clock in the afternoon, the wind was good. So it was then, the famous greenish yellowish cloud came out of the field.
Sprecherin Am 22. April 1915, fünf Uhr nachmittags, kroch zum ersten Mal diese grünlichgelbe Wolke übers Schlachtfeld. Chlorgas.
FREMDENFÜHRERIN They absolutely not knew what it was. And the Germans – they were not very lucky with their gas either. Because after a while the wind changed. And they had about 3000 killed by their own gas.
Sprecherin Die hatten noch gar keine Erfahrung. Auch nicht die Deutschen. Der Wind drehte. 3000 starben an ihrem eigenen Gas.
GASALARM / JEMAND BETÄTIGT DIE BETREFFENDE EISENRÖHRE IM MUSEUM
Autor Gasalarm —
TÜRGERÄUSCH “Thank you – good bye !”
STIMMEN / DIE GERÄUSCHE VON SPITZHACKEN UND SCHAUFELN
Autor Das neue Industrieviertel von Ypern – links eine Fenster- und Türenfabrik,
in den Hallen rechts werden Champignons gezüchtet. Es stinkt nach Pferdemist.
Zwei Jahre haben sie noch Zeit – die “Diggers”, dieser Club von Amateur-Kriegsarchäologen. Dann wächst endgültig die Stadt darüber.
JUNGER MANN (STELLT SEINE KOLLEGEN VOR / NIEDERLÄNDISCH)
Autor Metallarbeiter, Student, Elektroniker, Pensionierter Postbote … Kein Historiker wüsste mehr über dieses Schlachtfeld.
André, der Vorarbeiter, zeigt ein Album. Das alles haben sie hier freigelegt: unterirdische Kommandostellen, Tunnel, Munition und Stacheldraht, Bajonette, Stahlhelme … Gürtelschnallen, falsche Zähne, Kochgeschirr, Besteck, primitive Gasmasken, Erkennungsmarken, Pfeifen, Stiefel, Eheringe … Und natürlich Waffen — alles bestens konserviert in der blauen Tonerde von Ypern.
Niemand bückt sich mehr nach den Gewehrkugeln, die überall herumliegen.
“Eiserne Ernte”, sagen die Bauern.
DIGGER (DEUTSCH) … Deutsche Linie da – britische Linie hier … Sie sehen den Abstand ! Keine 100 Meter ! (NIEDERLÄNDISCH) Das ist ein Drama und bleibt ein Drama !
(DEUTSCH) Das ist vom Ersten Weltkrieg !
Autor Ein Fetzen Stoff von einer Militärdecke. Einfach so (…) Ein Unterstand, eingesackt im Lehmboden, voll Wasser. Schwarze Holzreste.
Sprecher (ÜBERSETZT) Eisenbahnschwellen und Windmühlenflügel …
DIGGER (DEUTSCH) Das ist die Arbeit von den deutschen Soldaten …
Sprecher (ÜBERSETZT) Blockbaumethode. Die Briten haben das dann noch verbessert.
Autor Verschiedene Stile und Techniken … Stellungsbaukunst …
Sprecher Hier haben wir zwei deutsche Soldaten gefunden … 22 Meter Abstand … Preußische Husaren…
DIGGER (DEUTSCH) Der eine lag hier, der andere hier …
Autor 50 Deutsche haben sie hier ausgebuddelt, in drei Jahren. “Jeder gefundene Soldat, der von uns ein Grab bekommt, ist ein Erfolg”, sagt ein blasser junger Mann.
Sprecher (ÜBERSETZT) Wir suchen keine Soldaten, aber finden sie !
Die rufen nicht “Hier !”
Autor Seltsame Faszination .…
Sprecher (ÜBERSETZT) Nach dem Krieg waren die Leute einfach abgestumpft. Überall Knochen. Kinder spielten Fußball mit Totenschädeln. So ist das…
WIR BETRETEN DIE ST.MARTINS-KATHEDRALE / LEISE ORGELMUSIK
STADTFÜHRERIN (SPRICHT LEISE / DEUTSCH) Das Interieur der Kathedrale ist auch treu nachgebaut worden … Man hat einige Sachen retten können, wie zum Beispiel die Grabmäler, die hier auch zu sehen sind…
AUTOR Und das war alles in Schutt und Asche hier ?
STADTFÜHRERIN Jaja ! …
Autor St. Martin, zerstört am 2. 11. 1914. Von dieser Leistung deutscher Kanoniere hat der Großvater des deutschen Sängers Thomas Friz in seinem Tagebuch geschwärmt.
STADTFÜHRERIN Das ist “Maria von Toene” , sie hat uns vor den Englischen beschützt im 14. Jahrhundert und ist eigentlich Schutzheilige der Stadt geworden … Es hat nur acht Jahre gedauert, dass man das alles so schnell wieder aufgebaut hat … In acht Jahren, das ist ein Wunder!
PIET CHIELENS (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher (ÜBERSETZT) Churchill und sein Anhang wollten Ypern als Ruine bewahren …
PIET CHIELENS “… Ein sehr imperialistischer Standpunkt … This is a holy place to the British race…”
Sprecher Ein Drittel aller Britischen Kriegsopfer sind bei Ypern gestorben –
250 000 von 750 000. Eine Viertelmillion !
Autor Jules Coomans, der Stadtarchitekt, hatte einen Koffer voller Baupläne nach Frankreich gerettet. Schon 1919 kamen die ersten Bewohner zurück. Sie wohnten in Baracken auf dem Schlachtfeld. Stein für Stein wuchs Ypern wieder aus dem Lehmboden.
HISTORIKER Das war auch ein ganz Komischer – dieser Koomans. Der ist hier um 1905 Stadtarchitekt geworden, und der hatte so den Gedanken, wie man in Köln noch im
19. Jahrhundert den Dom vollendet hat … Der wollte unbedingt zum Beispiel die Kathedrale (da war der Spitzturm nicht drauf) unbedingt gotisch, also neo-gotisch, fertig stellen.
Seinen großen Triumph hat er eigentlich gefeiert, als er die Kathedrale wieder aufgebaut hat. Der Turm ist jetzt höher, als er je war.
STADTFÜHRERIN Das ist eigentlich alles eine große Lüge. Man sagt auch immer:
“Die Lüge von Ypern” … Ypern ist eine große Lüge !
Autor Von weitem, wenn die Türme aus dem Morgennebel über Rübenfeldern auftauchen, gleicht Ypern immer noch einem Landschaftsbild von Jan Vermeer.
PIET CHIELENS (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher (ÜBERSETZT) Wenn du in die Innenstadt von Ypern kommst – ja wo ist da der Krieg ? Nirgends ! Du bist im Mittelalter. In einem Neo-Mittelalter freilich, wie es im 19. Jahrhundert Mode war. Ypern ist heute mittelalterlicher, als es jemals war – eine eher romantische Reminiszenz an die glorreiche Zeit der flämischen Städte.
Eine winzige Ruine hinter St. Martin — das ist alles was von der Zerstörung übrig blieb. Und das ist das Problem: Man will nicht wirklich lernen aus der Geschichte!
IN-FLANDERS-FIELDS-MUSEUM
AUTOR Where do you come from ?
ERSTER BESUCHER Australia … My interest is in military history …
Autor Dieser Australier interessiert sich für Militärgeschichte.
AUTOR And how are you satisfied with this museum ?
ZWEITER BESUCHER It’s a fair criticism …
Autor Das Museum ist OK – kritisch aber fair !
ERSTER BESUCHER There is not much joy in war. But there is some … comradeship, ideals – I mean, these are very positive things !
Autor Na, viel Freude macht der Krieg ja nicht. Aber Kameradschaft, Ideale – sind das keine Pluspunkte?
ZWEITER BESUCHER The tragic thing is, that it happened again in 1939 and that would be tragic now if – because of September 11th – some crazy Muslim-Christian war breaks out.
Zweiter Sprecher Das Tragische war ja die Wiederholung 1939. Und jetzt, nach dem 11. September, schlagen sich vielleicht die Moslems und die Christen!
BESUCHERIN … The sheer numbers of people and horses is mind buggling …
Sprecherin Diese Menge an Leuten und Pferden – das haut einen um!
BESUCHERIN … Things you don’t think about – all the noise – so much sound ! It must have been terrible ! It was going on all the time ! 24 hours a day ! How fortunate we are that we didn’t have to go through it!
Sprecherin Wer denkt schon an den ganzen Lärm – das muss ja schrecklich gewesen sein ! 24 Stunden am Tag ! Was haben wir ein Glück, dass uns das
erspart blieb !
DRITTER BESUCHER There can’t be a happy side of war ! There is nothing happy about war. I mean – it’s atrocious that we keep doing it !
Sprecher Nein, der Krieg hat überhaupt nichts “Schönes”. Ist das nicht grässlich, dass wir so weitermachen?
VERKEHRSGERÄUSCHE / SOUNDCHECK EINER BAND
MOPED / KOMMT UND WIRD ABGESTELLT
ERSTER JUGENDLICHER (NIEDERLÄNDISCH)
Autor Kriegsmuseum, Zapfenstreich … Manche finden das ja interessant, sagt der junge Mann vor dem Musik-Café. Wir aber nicht.
AUTOR Why not ?
SEIN KUMPEL LÄSST MIT ABSICHT DEN MOPED-MOTOR AUFHEULEN
AUTOR Thank you – you are great !
ERSTER JUGENDLICHER (NIEDERLÄNDISCH)
Autor Sie trinken lieber Bier (MÄDCHEN LACHT)
ZWEITER JUGENDLICHER (NIEDERLÄNDISCH)
Autor Er sagt: Alles dreht sich hier nur um den Krieg … Überall Friedhöfe…
ERSTER JUGENDLICHER (ENGLISCH) The cemeteries are always the same …
I think – it’s good for tourism, but … It’s a show … It’s always the same show…
It’s commercialising war ! They only have the museum to get some tourists here!
All the cemeteries here …
Autor Die Friedhöfe, das Museum — alles nur Show. Gut für den Tourismus. Der Krieg wird kommerzialisiert.
ANDERER JUGENDLICHER (ENGLISCH) … And the Belgian chocolate, of course ! The Belgian chocolate … English people pay much too much for the chocolate…
Autor Friedhöfe und Schokolade. Die berühmte belgische Schokolade.
Die Engländer zahlen dafür ein Heidengeld !
ERSTER JUGENDLICHER I live in a place where there are – I guess – in one kilometre circle there about five cemeteries … I used to play on them as a kid. So I didn’t realize they were actually cemeteries of soldiers … We are just used to it – all those white little rocks standing her …
Autor Dort, wo er wohnt, sind fünf Soldatenfriedhöfe in einem Kilometer Umkreis.
Als Kind hat er darauf gespielt – und er hat sich nichts dabei gedacht. Man gewöhnt sich an die vielen weißen Steinbrocken, die ‘rumstehen…
ANDERER JUGENDLICHER You should do other things than museums … It’s useless…
If you look at TV, you see exploding faces all the time … If we look at these things, it doesn’t really shock us anymore … It’s like that … If I see in the museum the movie of a man who gets cut his leg off it doesn’t really touch me because I see so many people getting (it) blown away on TV … That’s normal now … It’s a game…
Autor Er hält Museen überhaupt für nutzlos. Das Fernsehprogramm, sagt er, wimmelt von Grausamkeiten. Im Museum zeigen sie den Film, wie ein Bein amputiert wird, aber im Fernsehen — da siehst Du jeden Tag zerstörte Gesichter und abge-
trennte Gliedmaßen. Und es juckt dich nicht mehr. Ist wie ein Spiel.
ZWEITER JUGENDLICHER (NIEDERLÄNDISCH)
Autor Fernsehen ist Gehirnwäsche. Das hat bei uns schon funktioniert.
VOICE PROCESSING (LABORATORIUM VON L & H / ORIGINALAUFNAHME)
Autor Undso klang die Zukunft … Sie hieß: Flanders Language Valley – eine gesuchte Analogie zum Kalifornischen Silicon Valley. Ypern träumte von einer High-Tech-Siedlung für die Entwicklung von Spracherkennungs-Programmen. Interaktion zwischen Mensch und Computer. Der Rechner als hochintelligenter Sklave – Du redest Deutsch und Dein Geschäftspartner versteht Dich auf Japanisch. In Sichtweite der mittelalterlichen Skyline kreative Wollust. Geistesblitzgewitter. Ein olympisches Dorf für die Top-Stars der IT-Branche. Trainingscamp für Gehirnakrobaten.
KULISSE WEG
Und alles die Idee von zwei Nachbarn: Jo Lernout und Pol Hauspie.
Er hat sie gekannt:
Bart N. (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher (ÜBERSETZT) Die waren wie Brüder, wie Zwillinge. Paul Hauspie, Buchhalter aus Poperinge, experimentierte mit Informatik. Nacht für Nacht saß er
am Computer. Lernout kommt aus Zillebeke dicht bei Ypern. Bei den beiden hat es einfach klick gemacht !
Jo war mehr der Techniker. Pol konnte Menschen motivieren. Die zwei funktionierten perfekt. Pol hatte etwas Missionarisches. Er wollte Westflandern aus der Versenkung holen.
Die Leute hier waren mutlos geworden. Krieg und immer nur Krieg – Friedhöfe, Denkmäler, Tod. Nun sollte Westflandern zur progressivsten Ecke Europas werden.
DEMO: SPRACHERKENNUNGS-PROGRAMM
Sprecher Viele Mittelständler haben in ihr Flanders Language Valley große Summen investiert … Bäcker, Metzger … Ganz Ypern zog mit.
BÜRGERMEISTER (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher Die Botschaft war: Wir sind eine lebende Stadt …
Autor … sagt der Bürgermeister …
Sprecher …und Flanders Language Valley hätte dazu beigetragen.
BÜRGERMEISTER It was an opportunity … We have to know that until the Seventies
most young peoplehad no chance to find a job here in this region. They had to work in Gent, Antwerp and Brussels. So this was an opportunity for young people who had a degree at university to find a job here in this region. It was a unique opportunity – everybody thought, and everybody believed in that technology and in that project.
Sprecher Junge intelligente Leute hatten ja keine Chance in dieser Gegend. Sie gingen alle weg – nach Gent, Antwerpen, Brüssel. Das war nun die Gelegenheit.
Jeder hier glaubte an das Projekt.
Ypern auf dem Trip, wie benebelt. Jeder will dabei sein, wenn der Wohlstand ausbricht.
VOICE PROCESSING HOCH UND WEG
BART N. (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher Die Bombe platzte, als die SEC in New York, die Nasdaq und Easdaq kontrolliert, die Koreanische Niederlassung von L & H aufs Korn nahm.
14 Prozent Umsatz sollten von dort stammen. Das Wallstreet Journal brachte Reporter und Detektive auf Trapp. Was sie fanden, war mehr eine Briefkastenfirma – ein leeres Büro mit ein paar Computern drin. Niemand hatte diesen Firmenzweig jemals kontrolliert.
Flugs war die CIA im Spiel. Jo Lernout war ganz sicher, dass “Amerika” L & H vernichten wollte.
Die Leute haben bis zuletzt Anteile gekauft. Es hieß nur: kaufen, kaufen ! Die Bankrott-Nachricht war unbegreiflich ! Da hatten zwei, die jeder kennt, Milliarden in den Sand gesetzt. Trotzdem – niemand war ihnen wirklich böse. Jo und Pol durften einfach nicht die Bösewichter sein. “Amerika”, “die Multinationals”, “die Konkurrenten” waren schuld ! So denkt immer noch die Mehrheit.
Autor Die Buchstaben von L & H sind längst verschwunden. They had a dream …
AUTOR Where is your money?
Autor Und Ihr Geld ?
BART N. It’s gone …
Sprecher Weg!
Autor Und Ypern blieb auf seinen Toten sitzen.
IN-FLANDERS-FIELDS-MUSEUM
MÄNNLICHE STIMME (LAUTSPRECHER / DEUTSCH) … Ich war auf dem äußersten Verbandsplatz, der direkt an dem äußersten Schützengraben liegt – mitten in der großen Kanonade vor Ypern. In dem halbdunklen Unterstand halb entkleidete, blutüberströmte Männer…
WEIBLICHE STIMME They were very pathetic, the shell-shot boys; and a lot of them were very sensitive about the fact that they were incontinent. They say: I’m terribly sorry about it, sister. It’s shaking me all over and I can’t control it !
Sprecherin (ÜBERSETZT) Ein jämmerlicher Anblick – diese Jungs, die es erwischt hatte. Viele machten dauernd ins Bett. “Schwester, es tut mir so leid. Ich kann doch nichts dafür!”
PIET CHIELENS (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher Das Museum sagt, ohne dass es an der Wand geschrieben steht:
“Nie wieder Krieg !”
AUTOR (ENGLISCH)
Autor Aber ist das nicht ein geradezu verzweifelter Versuch, den Leuten das in die Köpfe zu hämmern?
CHIELENS Too obvious ?
Autor Alles … vielleicht zu deutlich ? fragt mich Piet Chielens, der Museumsmissionar.
Sprecher (ÜBERSETZT) Das haben wir wieder und wieder diskutiert …
Aus unseremMuseum spricht der ernüchterte Soldat vom Kriegsende 1918.
Unser Museum will nicht die Stimme von 1914 sein, als der Krieg noch ein Mittel der Politik war.
AUTOR (ENGLISCH)
Autor Nicht jeder wird diesen Standpunkt unbedingt teilen …
CHIELENS (NIEDERLÄNDISCH)
Sprecher Natürlich … Viele der britischen Besucher, sicher nicht alle, denken noch immer wie Robert Brook:
CHIELENS (ENGLISCH) “If I should die / think only this of me / that there is a corner of foreign field / that is forever England…”
Sprecher „Die Ecke, wo ich begraben bin, ist und bleibt ewig England”
Wir Belgier sind Pazifisten geworden. Und ich bin ein Produkt von diesem Land, das ist alles ! Besonders die Leute von Ypern haben ihre Lektion gelernt. Als es noch die Wehrpflicht gab, hatte unser Bezirk die höchste Zahl an Ersatzdienstleistenden.
GUY GRUWEZ (ENGLISCH UND NIEDERLÄNDISCH)
We must not victimise the sacrifice …
Autor In diesem Tuchhallen-Museum werden alle zu Opfern erklärt, beklagt der Chairman der Last Post Association. Er mag nicht das Gerede vom Kanonenfutter.
Die Menschen, sagt er, kämpften hier fürs Vaterland.
GUY GRUWEZ … to fight for king and country …You have primar pacifists and you have pacifists who think!
Sprecher Nach seiner Ansicht gibt es zwei Sorten Pazifisten: die klugen und die naiven. Die naiven schieben einfach alles den Ministern und den Generälen in die Schuhe.
GUY GRUWEZ Of course they made terrible errors and they sacrificed much too many men. That’s a fact.
Sprecher Sie haben schreckliche Fehler gemacht. Und es stimmt, dass sie manchmal viel zu viele Männer opferten. Unsere Tradition aber ist… Dankbarkeit!
We remember !
MENENTOR / DICHTE ATMOSPHÄRE / ZAPFENSTREICH
REDNER … They shall grow not old, as we that are left grow old. Age shall not weary them nor the years condemn. At the going down of the sun and in the morning we will remember them…
STIMMEN We will remember them…
EIN SCHOTTISCHER PIPER / LANGSAM AUSBLENDEN
Absage
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