SFB 1991 (48:40)
AUS DEM MANUSKRIPT:
LEISE ATMO MIT GELEGENTLICHEN EINWÜRFEN DER GROSSEN TROMMELN. ZIKADEN (TÜREN ZUR STRASSE WEIT OFFEN). GEMURMEL. SEUFZER.
Die Götter haben sich verspätet (…) Die Trommeln tändeln. Sie tun harmlos, wie zerstreut. Man sagt: Sie kitzeln die Götter. Welcher Gott beißt heute an ?
Wir sind einundzwanzig. Alle barfuss – Männer hier, Frauen dort. Niemand schert sich um den blassen Deutschen mit dem Zuschauergesicht.
VON DER STRASSE DAS KRACHEN DER FEUERWERKSKÖRPER
Plaudern. Warten. Eine Ewigkeit, auf Holzbänken. Die Tür weit offen. Lauer Wind weht Blütenduft herein – Jasmin. Und Müllgestank und Autoabgase. Und Volksfestlärm. Bahia feiert São João.
DIE TROMMELN FALLEN JETZT IN EINEN GLEICHMÄSSIGEN RHYTHMUS. JUBEL DER GLÄUBIGEN, BEIFALL
Jetzt kommen die Eingeweihten herein. Die “Heiligentöchter”. As Filhas de Santo. Weiße Spitzenkleider über vielen Röcken. Greisinnen und junge Gänschen. – Nun die “Söhne”, Filhos de Santo. Hübsche Männer, duftendfrisch, wie aus der Reinigung. Blütenweiße Anzüge und bunte Ketten.
(…)
DAS LIED DER ALTEN
Die Alte mit dem Einfaltslächeln singt zuerst. Wie sie dasteht ! Gottergeben. Demut in Person. Unten aus dem Kindernachthemd ragen ihre dürren Beine, ängstlich abgespreizt wie Stützen gegen Einsturz. Die schwarzen nackten Ärmchen baumeln wie an Schnüren.
“Komm, Oxóssi, der Du auch St. Georg heißt, Du Drachentöter ! Komm, Du streitbarer Ôgum ! Ich singe alles, was ich bin, aus mir heraus !”
Und da ist ER, Pai de Santo, “Vater” oder Vorsteher des Heiligtums, ein großgewachsener Mulatte ohne Alter. Dunkelbraunes Porzellangesicht. Er segnet uns, einen nach dem andern. Auch ich verbeuge mich vor ihm (Mein Gott, was würden meine Freunde von mir denken !)
(…)
DIE ZEREMONIE
… Und die Geister sprechen – manche in der fremden Sprache der Yorubas aus Nigeria, die meisten aber portugiesisch. Dieser spricht aus einer alten, dürren Frau im Kindernachthemd.
Woher nur diese Grabestöne ?
Sie stemmt sich gegen eine unsichtbare Last. Zuckt wie unter Hieben. Schlottert. Schwankt. In den Augenwinkeln scharfe Schmerzfalten.
Sie sagen: “Der Heilige reitet sein Pferd” …
ABRUPT EINSETZENDE GROSSTADT-GERÄUSCHE. DIE STIMMEN DER BETTLER
Salvador. Die Zwei-Millionen-Stadt. Wirtschaftszentrum des Nordostens. Zucker, Kakao, Elektronik. 42 petrochemische Fabriken. Explosion des Reichtums, die Devisenkurse schwanken wie in Trance.
(…)
Inflation der Armut. Bettler leiern ihren Spruch. Obdachlose hausen auf dem Parkplatz vor meinem Hotelfenster. In der Rua da Misericórdia stellt eine kleine Schwarze jeden Abend ihren Kinderbusen aus. Draußen auf der Abfalldeponie in Canabrava kämpfen Menschen mit den
Geiern um den Inhalt aufgeplatzter Müllsäcke …
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