Wer sind wir ? Und für wen ?

Appell für mehr Ord­nung im Radio­la­den und Lob des Autors als Erzäh­ler. Aus mei­nem Bei­trag für den swr Docu­b­log > Radio­blog vom 03.04.2015.

Das Wort “Radio”, das als Fah­ne über unse­ren Tex­ten flat­tert, besagt alles und des­halb nichts. Mei­nen wir das tra­dier­te Trans­port­mit­tel zwi­schen dem ein­sa­men Autor und den unbe­kann­ten Vie­len “drau­ßen im Land” (öffent­lich-recht­lich pro­du­zier­te Pro­duk­te, live gesen­det oder als Pod­cast auf Fla­sche gezo­gen?) Oder die “klas­si­sche” Ad-hoc-Repor­ta­ge? Expe­ri­men­tel­le For­ma­te zwi­schen Audi-Art und Video-Spiel ? Auf Ser­vern oder in Clouds gespei­cher­te Samm­lun­gen von O‑Tönen aus aller Welt ?  Oder viel­leicht das Dis­ku­tie­ren noch ofen­fri­scher Autoren­pro­duk­tio­nen in den wie­der auf­ge­leb­ten Salons der Groß­städ­te? Oder den “User-Gene­ra­ted Con­tent”, der von “Crea­tors” in das www abge­son­dert und von “Lur­kers” kon­su­miert, von ande­ren zer­ris­sen, ver­än­dert, wei­ter­ge­strickt wer­den kann. 

Ich den­ke, wir soll­ten den Radio-Laden etwas auf­räu­men. In dem Buch “Objek­ti­ve Lügen – sub­jek­ti­ve Wahr­hei­ten / Radio in der Ers­ten Per­son” habe ich ver­sucht, mei­ne Laden-Ecke neben all den ande­ren (Hör­spiel, Repor­ta­ge, Essay u.s.w.) näher aus­zu­ma­len. An der Tür steht: “Doku­men­ta­ri­sche Abtei­lung / Fea­ture”. Ich habe 40 Jah­re dort ver­bracht , als wir noch ohne schlech­tes Gewis­sen zwi­schen “Pro­fis” und “Ama­teu­ren” unter­schei­den durf­ten. Bis heu­te mei­ne ich, ohne letz­te­re (die “Lieb­ha­ber”) gering zu schät­zen, dass Radio­ma­chen auch ein Beruf ist, der neben Lei­den­schaft und Phan­ta­sie einen beträcht­li­chen Vor­rat an Kennt­nis­sen und prak­ti­schen Erfah­run­gen voraussetzt. 

Aus­zug aus mei­ner Berufs­be­schrei­bung: “Der Fea­ture-Autor ver­folgt Ent­wick­lun­gen als punk­tu­el­le Ereig­nis­se von mit­tel­fris­ti­ger Aktua­li­tät. Er wählt im Ide­al­fall Orte, The­men, Blick­win­kel und die Metho­de der Beschrei­bung selbst. Er recher­chiert und schreibt ergeb­nis­of­fen. Er soll fin­den, nicht Erwar­te­tes bele­gen. Er nähert sich dem Gegen­stand tas­tend, ellip­tisch, mean­dernd – der ‘gera­de Weg’ führt womög­lich an bedeu­ten­den Details vor­bei. Der doku­men­ta­ri­sche Autor (Ach­tung, Meta­pher >) lie­fert Schnapp­schüs­se vom Tat­ort und seziert auch die Lei­che. Er bear­bei­tet Stoff-Gebie­te am Bei­spiel von Per­so­nen und Ereig­nis­sen (‘Small sto­ries – Big issues’); wei­tet, wenn nötig, das Arbeits­feld räum­lich und zeit­lich aus – oft über Tage, Wochen, Mona­te; ‘arbei­tet’ The­men und Stof­fe nicht ‘ab’ son­dern lebt mit ihnen. Er bezieht die Hörer in sei­ne eige­nen Gedan­ken ein, macht sie mit den Gedan­ken Betei­lig­ter ver­traut, initi­iert inne­re Dia­lo­ge mit dem Publi­kum (Wie wür­de ich mich ver­hal­ten ? – Pro und Kontra). 

Fea­ture-Autoren sind hybri­de Wesen (sprach- und auf­nah­me­tech­nisch begab­te, musi­ka­lisch emp­fin­den­de Zeit­ge­nos­sen mit jour­na­lis­ti­schem, sprich: detek­ti­vi­schem Spür­sinn). Sie las­sen sich von Fak­ten aber auch von Phan­ta­sie, Inspi­ra­tio­nen, Träu­men, Zufäl­len, per­sön­li­chen Erfah­run­gen lei­ten. Ihre Auf­ga­be ist ver­ant­wor­tungs­vol­les und intel­li­gen­tes Ein­ord­nen, Zurecht­rü­cken, Über­set­zen, Ent­klei­den, Ein­damp­fen und Weg­las­sen, um auf die­se Wei­se das, was wir etwas leicht­sin­nig ‘Wirk­lich­keit’ nen­nen, über­schau­ba­rer machen; ist auch die Ent­de­ckung ver­bor­ge­ner oder kaum beach­te­ter Qua­li­tä­ten und Schön­hei­ten. Herz und Ver­stand kri­ti­sie­ren und kor­ri­gie­ren einander…” 

Der Ber­li­ner Autor und Mit-Blog­ger Micha­el Lis­sek hat das einen “war­men Code” genannt – im Gegen­satz zum “küh­len Code” (dem sta­ti­ons­ty­pi­schen Ein­heits-Sound zum Bei­spiel). Nen­nen wir ’s ruhig “das Mensch­li­che”. Da ich mich mit offen­bar anti­quier­ten Begrif­fen gern in die Nes­seln set­ze, füge ich noch fol­gen­de Berufs­tu­gen­den hin­zu: kla­re, doch kei­nes­falls plat­te Aus­drucks­wei­se; Fass­lich­keit (auch eines die­ser schö­nen alten Wör­ter mit Gold­rand); schließ­lich erkenn­ba­re Empa­thie für The­ma, Prot­ago­nis­ten und Zuhö­rer.  Axel Egge­brecht, Mit­be­grün­der des Nord­west­deut­schen Rund­funks in Ham­burg, der sich nicht vor “gro­ßen Wor­ten” fürch­te­te, sofern sie groß gedacht waren, schrieb über das neue, von der bri­ti­schen Besat­zungs­macht impor­tier­te Gen­re “Radio­fea­ture” 1945: 

Der Ver­fas­ser muss sein The­ma ken­nen und lie­ben, ehe er beschloss oder beauf­tragt wur­de, es zu schrei­ben. Kaum eine ande­re Funk­ar­beit braucht so viel Ver­traut­heit mit dem Gegen­stand, so viel Lust zur Sache, wie die­se (…) In jeder Hör­fol­ge muss der Druck einer leben­di­gen Gesin­nung spür­bar sein”. 

Stark! 

In 10 Jah­ren wer­den nach Über­zeu­gung des Grün­ders der US-Fir­ma “Nar­ra­ti­ve Sci­ence”, Kris­ti­an Ham­mond, 90 Pro­zent der jour­na­lis­ti­schen Nach­rich­ten welt­weit von “Bots” erle­digt wer­den – von Com­pu­ter­pro­gram­men also, die ohne Inter­ak­ti­on mit leben­den Men­schen aus­kom­men. Mit den “sozia­len” Netz­wer­ken hat sich die Welt ande­rer­seits in einen Chat­room zum Aus­tausch kurz­at­mi­ger Selbst­ge­sprä­che ver­wan­delt. Alles live, alles mal so aus dem Ärmel geschüttelt. 

Die der­zeit letz­te Stu­fe vor dem Aus­tausch von Rönt­gen­bil­dern auf der Exhi­bi­tio­nis­ten-Büh­ne, genannt “Live-Strea­ming”, beschreibt “Tagesspiegel”-Autorin Maria Fied­ler so: “In New York City gibt es eine Gas­ex­plo­si­on, kurz danach zücken ers­te Nut­zer ihre Han­dys. Eini­ge star­ten gleich PERISCOPE, eine Live-Strea­ming-App von Twit­ter  (…) Nun kön­nen wir uns in Echt­zeit anse­hen, wie dort über einem Häu­ser­block Rauch­wol­ken auf­stei­gen und die Feu­er­wehr anrückt“ (…) „Nun fra­gen sich eini­ge”, fährt die Autorin in ande­rem Zusam­men­hang fort, “wie die­se Mög­lich­kei­ten den Jour­na­lis­mus oder auch das gan­ze Inter­net ver­än­dern könn­ten. Bes­ser wäre aber zu fra­gen, wie Apps à la PERISCOPE uns alle ver­än­dern (…) Wenn unser ers­ter Reflex nicht ist, den Moment zu genie­ßen, son­dern ihn zu doku­men­tie­ren und ande­re dar­an teil­ha­ben zu las­sen, viel­leicht sogar in Echt­zeit –  dann läuft im Grun­de etwas gewal­tig schief“. 

Refle­xe erset­zen die Refle­xi­on. Das alles muss auch ande­ren auf­ge­fal­len sein. Des­halb holt man auf der Suche nach einem Erfolgs­re­zept den leicht ange­staub­ten “klas­si­schen” ERZÄHLER aus der Kis­te. Im Kata­log “Jour­na­lis­mus und Public Rela­ti­ons” des UVK-Medi­en-Fach­ver­lags für 2015 taucht der längst Tot­ge­sag­te in allen Abwand­lun­gen wie­der auf. Die Rat­ge­ber hei­ßen: “Sto­rytel­ling für Jour­na­lis­ten”, “Digi­ta­les Erzäh­len”, “Mul­ti­me­dia­les Erzäh­len”, “Short Sto­rytel­ling” (für kur­ze Video- und Film­for­ma­te), “Sto­rytel­ling in vir­tu­el­len Wel­ten” (“Wie Film und Game ver­schmel­zen”), “Sto­rytel­ling” (“Wie Geschich­ten wir­ken und wie Unter­neh­men sie pro­fes­sio­nell erzäh­len kön­nen”), “Krea­ti­ve PR” (“Wie man aus drö­gen The­men span­nen­de Geschich­ten kreiert”). 

Klar – es geht um eine METHODE, eine TECHNIK.  Nicht Men­schen mit ihren Eigen­ar­ten, ihrer Intel­li­genz erzäh­len, son­dern Unter­neh­men mit der Stim­me von Ghost­wri­tern. Und die Pro­gram­mie­rer schar­ren mit den Fin­ger­spit­zen schon auf ihren Key­boards: “Die Fir­ma Nar­ra­ti­ve Sci­ence ist dar­auf spe­zia­li­siert, aus Daten­sät­zen GESCHICHTEN zu gene­rie­ren”. Nicht die Daten­ana­ly­se, son­dern “erst deren Umset­zung in Geschich­ten” sei die Leis­tung künst­li­cher Intel­li­genz, so der besag­te Kris­ti­an Ham­mond, neben­bei auch “Pro­fes­sor für Infor­ma­tik und Jour­na­lis­mus” in Chicago. 

Gera­de las ich in “Nach­ruf”, der Auto­bio­gra­phie des gro­ßen Ste­fan Heym (1913 – 2001), “dass man am meis­ten aus­sagt, indem man die Din­ge erzählt“.

Er frei­lich hat­te etwas zu erzählen!