SFB+ORB / DLF / NDR 1998 (54:21).
AUS DEM MANUSKRIPT:
HUBSCHRAUBER-GERÄUSCH, VERLANGSAMT
Autor Gold ist billig im Sommer ‘83. Die Feinunze gleich 31,1 Gramm, kostet 400 Dollar oder 984 Deutsche Mark. Knapp die Hälfte im Vergleich zu 1980.
Im Juni tausche ich den größten Teil meiner mageren Ersparnisse — ungefähr 6000 Mark — in kanadische Münzen — 189, 4 Gramm Krisen-Gold. Wenn’s knüppeldick kommt, kann ich damit vielleicht Brot kaufen.
FLUGFELD SICKELS. DRACHENFEST. KAMPFDRACHEN-WETTBEWERB.
Lautsprecherstimme: „Eins, zwei, drei… (SCHREIEN) Zieht alles hoch was ihr habt…“
Autor Heute kämpfen grinsende Papierdrachen über dem Flugfeld in Sickels bei Fulda. Heute grapschen Kinder nach Bonbons, die vom Himmel fallen. Heute ist Drachenfest.
Lautsprecherstimme: „Oioioioioi … Kämpft Leute, kämpft !“
DOKUMENT: HUBSCHRAUBER DAMALS
Damals, 1983, war hier Sperrzone. „VORSICHT ! SCHUSSWAFFEN-GEBRAUCH !“ Wo jetzt die vielen bunten Autos parken, drohten Flugabwehrraketen und MGs. In den Hangars „Cobra“-Kampfhubschrauber. Olivgrüne US-Soldaten rannten übers Flugfeld wie in einem Film von Francis Ford Coppola. Übten Alarmstart. Denn dort drüben – waffenstarrend, Hand am Abzug, Finger schon gekrümmt –- dort drüben war der Feind.
DOKUMENTARFILM-TON:
Kommentator Hier könnte der Dritte Weltkrieg beginnen. Die Fulda-Senke ist die traditionelle Einfallstraße von Ost- nach Westdeutschland. Längst verfügen die USA über 1000 Kurzstreckenatomwaffen wie diese und ebenso die Sowjets. Die meisten verschießen Granaten, die stärker als die Hiroshima-Bombe sind. Ihre Ziele wären Truppen, Panzer und Einsatzräume hinter der Front.
Autor Dort drüben, in den blauen Bergen, ist die Grenze — der schmale Graben zwischen Ost und West, Gut und Böse, Krieg und Frieden, Vernichtung und Vernichtung. Auf beiden Seiten atomare Kurzstrecken-Geschosse, viele tausend. Und im Osten: die Rakete SS-20, russisch: „Pionier“. Ein 16 Meter langes, 1‑Meter-und-70 dickes Rohr, elf mal Hiroshima im spitzen Sprengkopf. Zielgebiet: ganz Westeuropa. Neun SS-20 waren vor sechs Jahren aufgestellt. Im Raketensommer ’83 sieht man auf den Spionage-Fotos schon 350.
Im Westen vorerst nur die Drohung. 108 Atomzigarren der Marke „Pershing“ würden bis nach Moskau fliegen, 464 „Marschflugkörper“ fast bis zum Ural.
Ziel der „Nachrüstung“: ein Gleichgewicht des Schreckens. Der eingefrorene Showdown.
DOK-FILM:
Kommentator Wie viele Atomwaffen sind jetzt in Deutschland stationiert — 5000 oder 7000 ? — US-Instrukteur “Sprengköpfe ? Ja.“ – Kommentator Aber sie haben keine interkontinentale Reichweite ? — „Nein. Die meisten sind Kurzstreckenwaffen mit weniger als hundert Kilometern Reichweite.“ – Kommentator Es würde sich also alles hier abspielen ? – „Genau ! In beiden Teilen Deutschlands“ („in both Germanies“).
Autor Seit 1980 herrscht Krieg am Schatt el-Arab. Schon im dritten Jahr streiten sich die Nachbarn Irak und Iran über den Grenzverlauf. Der Irak blockiert iranische Erdöl-Verladestationen. Der Iran spielt Schiffeversenken im Golf. Die schnelle Eingreiftruppe der USA übt für den Einsatz in Mittelost. Präsident Ronald Reagan testet schon mal die fliegende Befehlszentrale, die in Washington bereitsteht.
GERÄUSCHKULISSE WEG
Orth Kein Mensch wusste damals, daß hier Atomwaffen rund um die Uhr einsastzereit waren, daß innerhalb von drei Minuten deutsche „Tornados“ mit amerikanischen Atombomben starten konnten. Daß deutsche Raketen innerhalb von Minuten mit Atomsprengköpfen aus Amerika bestückt werden konnten. Das wußte hier keiner.
Alt Die Friedensfrage war deshalb so wichtig damals – die Friedensbewegung – weil unser Überleben immer auf etwa 7 Minuten gesichert war. Das war die Vorwarnzeit.
Schubarth Also nach den normalen Erfahrungen, die wir mit menschlicher Geschichte hatten, bestand damals die sehr, sehr große Gefahr, dass es zu einem Atomkrieg kommen wird, dass sich dieses ganze Wettrüsten dann letztlich doch in einer gewalttätigen Konfrontation zwischen Ost und West entladen könnte (nicht muss), und dass das das Ende möglicherweise der Menschheit hätte bedeuten können. Um nichts geringeres ging es.
Bahr Die Instrumente hätten irren können und hätten zeigen können, es kommen Raketen. Sowas ist auf der interkontinentalen Ebene passiert. Und da hat man das nach sieben, acht Minuten erkannt und wieder alle Systeme in Ruhe gestellt. Wenn es um Systeme geht, die aber nur sieben Minuten fliegen, kann man nicht warten, bis der Irrtum in sieben, acht Minuten erkannt wird. Das heißt: Man muss auf den Knopf drücken.
Vogt Das heißt, die Menschheit war in der Lage — und das ist sie ja im übrigen heute noch — sich mehrfach massenhaft wechselseitig umzubringen. Egal, wer angefangen hätte, es hätte jeder sozusagen nicht gesiegt.
Bahr Die Dinger waren real vorhanden, um Gottes Willen — mit ihren Kapazitäten ! Und jede war ein bißchen mehr als Hiroshima ! Und es waren Dutzende ! Obwohl nach allen Ausrechnungen zwei, drei Explosionen genügt hätten, um die Zivilisation reaktionsunfähig zu machen.
Alt Also — das hab ich als eine unerträgliche Provokation für jeden nachdenklichen Menschen auf diesem Planeten verstanden — dass wir eine solche Situation zugelassen haben, dass unser Überleben immer auf’n paar Minuten gesichert war. Menschen dürfen einen solchen Unsinn, auf Atomraketen zu setzen, nicht machen.
Zwerenz Es wird ja heute von den Siegern der Geschichte so getan, als wäre das damals eine Einbildung der Pazifisten, der Friedensbewegung gewesen, dass also ein atomarer Krieg, eine atomare Auseinandersetzung, möchlich gewesen ist Das sehe ich ganz und gar nicht so. Im Gegenteil — wir wissen ja nun aus den geöffneten Akten, dass beide Seiten durchaus bereit gewesen sind, zu einem atomaren Schlagabtausch. Wir standen einige Male nur ganz kurze Zeit, wahrscheinlich nur Sekunden, vor einem solchen Inferno.
Bahr Wir haben Glück gehabt ! Wir haben wirkliches Glück gehabt, dass nie erprobt worden ist, wer zuerst auf’n Knopp drückt und wer gewinnt. Und man muss auch sagen: Es hat auf beiden Seiten genug verantwortungsbewußte Menschen gegeben, damit das Glück seine Chance bekam.
HUBSCHRAUBER-GERÄUSCH, VERLANGSAMT. DARAUF:
Autor Ich mache Verlust. Wie zur Zeit des Falklandkriegs vor gut einem Jahr fällt der Goldpreis im Sommer ’83 unter 400 Dollar pro Unze. Die „Fluchtwährung“ müsste jetzt eigentlich steigen. 70% der Amerikaner halten einen dritten Weltkrieg für unvermeidlich.
Frauenstimme „BESUCHEN SIE EUROPA, SOLANGE ES EUROPA NOCH GIBT!“
US-Zivilisten üben in Hanau die Evakuierung. Soldaten vertreiben sich die Zeit mit einem Brettspiel: „Fulda Gap — Die erste Schlacht des nächsten Krieges“.
Militär umgibt sich mit Stacheldraht; baut Wachtürme; gräbt sich tief ein, hängt Warnschilder auf. Unsere Straßen sind mit Sprenglöchern durchbohrt. Regelmäßig üben Spezialtrupps das Füllen der Schächte und das Anbringen der Zündvorrichtungen.
DOKUMENTARFILM:
US-Instrukteur „Im Umkreis von Punkt Null wird nichts mehr da sein. Was da ist, würde buchstäblich weggeblasen — keine Ortschaft mehr, nur ein Trümmerhaufen aus flachen Trümmern“ („basically blown away“).
Autor Wir sehen einen Film der amerikanischen Fernsehgesellschaft CBS. Ein knochensteifer Typ in Uniform mit Zeigestöckchen stochert auf einer Landkarte Mitteleuropas herum. Er zeigt auf uns, auf unsere Gegend; spricht vom integrierten Schlachtfeld, von „Ground Zero“ – „Punkt Null“; vom Zentrum einer „kontrollierten Atomexplosion“. Er beklagt, dass deutsche Städte nur zwei Kilotonnen weit auseinander liegen. Wie lässt sich da ein ordentlicher Krieg führen!
Und dann sagt der Kommentator diesen Schreckenssatz: „Hier könnte der Dritte Weltkrieg beginnen !“ Wir mittendrin — Statisten eines Katastrophenfilms.
KAMPF-JETS. STIMMEN DER MILITÄRISCHEN FLUGLEIT-ZENTRALE. SCHRITTE, HUNDEGEBELL.
Wachmann Hier — rufen Sie mal Ihre Leute zurück ! Mir müssen schießen ! Wir müssen schießen ! Im Bereich von 30 Metern … hier steht’s ! Lesen Sie’s durch! Rufen Sie die Leute zurück!
Autor Also leben wir auf einem Schlachtfeld. Wir sind Front — vorderste Front. Hubschrauberlärm grundiert unsere Tage. Sprachlos umrunden wir die Waffenlager. 250 NATO-Depots, 5000 Munitions-Bunker in West-Deutschland — „Strategische Reserven“. Sie sind wirklich da, vor unserer Haustür. Auf diesem Feldweg spielten wir als Kinder — nach dem letzten Krieg. Aber das Riffelmuster der Panzerketten ist ganz frisch.
BLASMUSIK / PROZESSION
Mann Es gibt bald keinen Ort mehr in Osthessen, wo nicht irgend ein Armee-Objekt ist, ‘n Bunker. Wo man hinguckt, ist’n Sprengstoffdepot. Unsere Feldwege hier oben haben Sprengschächte — das muss man sich mal überlegen ! Die Straßen haben Sprengschächte ! Jedes zweite Auto, was hier auf der Bundesstraße fährt, ist ‘n Militärfahrzeug. Wo man hinguckt: nur noch Militär !
Autor Vom NATO-Übungsplatz bellen die Haubitzen in die Litanei der Gläubigen hinein.
PROZESSION, BLASMUSIK UND SCHIESS-LÄRM
Gläubige „Heilige Maria Muttergottes, bitte für uns Sünder, jetzt, und in der Stunde unseres Todes — Amen. Gegrüßet seist Du, Maria voll der Gnaden, der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen. Und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesu. — Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen. Gegrüßet seist Du, Maria…“
KULISSE WEG
Antelmann Ich meine, das war ja erklärte Politik von Seiten der Amerikaner, die Sowjetunion totzurüsten. Und Reagan hat noch eins draufgegeben und von der Regierung von „Monstern“ gespochen.
Alt Was ist das für eine Politik gewesen, damals. Die Wiedervereinigung sagte, dass von Osten Deutschlands her nach Westen, und von Westen Deutschlands her nach Osten sich gegenseitig die Vernichtung angedroht hat.
Guha Ich habe nie verstanden — und betrachtete deshalb die Befürworter der Rüstungs- und Abschreckungs-Theorie als lebende Zombies -, dass sie zu einem Atomkrieg entschlossen waren, ohne eine Vorstellung von einem Atomkrieg zu haben — nur, weil eine Generation ihre Konflikte und Händel nicht lösen konnte, ein System mit dem anderen nicht klarkommen konnte, und deswegen die Zukunft – nicht nur die eigene sondern auch der Kinder und aller weiteren Generationen – zu beenden, das erschien mir irgendwie grotesk.
Krahulec Es waren ja nicht nur die Hauptstrategen in Fort Leavenworth (das war die atomare Denkzentreale in Texas), sondern es waren vielfältige Transmissions-riemen ins Örtliche, ins Regionale hinein – von der Baufirma, die daran verdient hat, die Betonbunker in den Wald zu stellen und die Bäume zu fällen, von den Bürgermeistern, die genau wußten, was in den Wäldern … in den Bunkern lag, zu den Politikern auf allen Ebenen, die unterschiedlich aber immerhin davon wußten: Hier wird nicht Verteidigung praktiziert, sondern Vernichtung. Zu-Tode-Vertei-digung.
Staisch Während der Stationierungsdebatte und während des gesamten nuklearen Gleichgewichts hab ich mich eigentlich immer ziemlich sicher gefühlt, weil – das soll nicht zynisch klingen – Hiroshima und Nagasaki eine unheimlich … lehrende Funktion für die Menschen hatten. Niemand konnte sich vorstellen, bis die beiden Bomben fielen, was das heißt: nuklearer Einsatz ! Und ich habe den Eindruck, daß diese Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki alle verantwortungsvollen Politiker sehr diszipliniert haben.
Antelmann Also — es hätte ja nur eines Fehlalarms oder Fehlinterpretationen bedurft — und es wär’ alles in die Luft gegangen. Und es war ja damals schon eine ganz merkwürdige Stimmung auch …
FRIEDENS-GRUPPE / SINGT: „Dona nobis pacem“ – DARAUF:
Autor Im Schatten der Raketen proben wir das Neue, Bessere. Wir üben für den Tag danach: Friedensland. Da blüht die Romantik, das Pathos der Gesänge. Da lassen wir den deutschen Schillerkragen blitzen. Formen Peace-Zeichen aus unseren Körpern; ordnen die Masse zum Ornament. Auch so mancher Protest ist auf rührende Weise gestrig.
Frau Das ist einfach ständig angewachsen. Der Sprengstoff, der in der Aufrüstung auf beiden Seiten drinsitzt. Diese riesigen Mengen von Zeug, die hier rumliegen. Totale Ohnmacht!
Frau Eines Tages, unvermittelt — „Bäng !“ — ist’s aus !
Frau Das hab ich gestern dem Michael gesagt: Weißt Du was — ich möchte das am liebsten eigentlich gar nicht miterleben. Ich möcht irgendwo ‘n Tablettchen haben, und wenn’s dann so weit ist, dann möcht ich’s schlucken. Und dann ist Feierabend.
Frau Ich bin sehr dankbar, dass mein Mann ganz zufällig Jäger ist und in dem Schrank da hinten vier Gewehre stehen. Ich bin auch dankbar, dass welche mit kurzem Schaft da stehen. Die sind leichter zu handhaben.
Mann Ich hab mich mit meiner Frau in nächtelangen Gesprächen darüber unterhalten. Ich hab’ drei Kinder. Die will ich natürlich groß kriegen. Aber ich muss mir doch ernsthaft Gedanken machen, soll ich sie denn am Tag X mit dem Beil totschlagen oder was…?
ATMO WEG
Scholl-Latour Es gab etwas, was Helmut Schmidt damals als die „Graue Zone“ bezeichnet hatte, nicht wahr ! Das war eben dieses westeuropäische NATO-Gebiet, das atomar nicht entsprechend zu den sowjetischen Möglichkeiten geschützt war. Und konventionell waren wir damals den Russen unterlegen. Ich glaube nicht, dass damals eine wirkliche Kriegsgefahr bestand, aber wir waren im Zustand der Erpressbarkeit.
Alt Ich halte das für typisches altes Denken, diese Position ! Das ist das Denken der Leute, die nach wie vor sich nicht vorstellen können, daß man Frieden durch Dialog — dadurch, dass ich mich vernünftiger verhalte, als ich’s dem anderen unterstelle — hinkriegen kann.
Das sind Leute, die leben in Angst; sind gefangen in ihren eigenen Ängsten, ihren eigenen persönlichen Erfahrungen, und haben nie erlebt, was Vertrauen bedeutet.
Also zum Beispiel in der Schule des Meisters, der für mich ein großes Vorbild ist, Jesus von Nazareth, lerne ich, dass Vertrauen etwas ist, das die Welt bewegt und verändert — und nicht die Ängste, die dann schließlich zur atomaren Rüstung führen !
Scholl-Latour Wir müssen uns in die Zeit zurückversetzen von damals, nicht wahr ! Damals galt noch der alte lateinische Spruch: „Wenn Du den Frieden willst, dann bereite Dich auf den Krieg vor!“
Orth Die Friedensbewegung hat ein völlig anderes Prinzip zu Grunde gelegt: „Wenn Du den Frieden willst, dann bereite Dich auf den Frieden vor!“ Warum dann auf den Krieg?
Scholl-Latour Wir dürfen ja eines nicht vergessen: Heute wissen wir ja über die Offiziere der DDR, mit denen man reden kann, dass im Raum Magdeburg eine sowjetische Stoßarmee stand mit Ziel Rhein und Atlantik; und dass die auch genügend Treibstoff und Munition gebunkert hatten, um tatsächlich bis zum Rhein und bis zum Atlantik vorzustoßen. Das war wirklich die letzte große Kraftprobe zwischen West und Ost!
HUBSCHRAUBER-GERÄUSCH, VERLANGSAMT. DARAUF:
Autor Wir verteilen Zifferblätter aus Papier, die Zeiger eine Minute vor Zwölf. Wir brüten über Stationierungskarten. Das Vokabular unserer kleinen Friedensgruppe wird zusehends militärischer: Waffenmix, Erstschlagfähigkeit, Nulllösung, Enthauptungsschlag. Wir verschießen Wörter größten Kalibers. Niemand von uns lügt, niemand übertreibt mit Vorsatz. Und doch werden die Raketenschatten täglich länger. Mit jedem Flugblatt wächst auch unsere Angst.
Junge Frau Zukunft bei mir? Das geht vielleicht grade so über vier Wochen. Keine Vorstellung … Wir wissen ja nicht, was hier passiert oder in Europa überhaupt passiert. Was soll ich mir da Zukunftsgedanken machen ! Ich hab alles aufgegeben. Die letzten Sachen stehen bei meinen Eltern im Keller. Aber sonst hab ich alles hier, was ich brauch.
ATMO WEG
Staisch Ich habe nie dran geglaubt, dass mit etwas blauäugigen Friedensmärschen die Welt verändert werden kann.
Scholl-Latour Also, ich mein’ — diese Leute im Kreml, auch wenn sie sehr alt waren, waren ja doch ausgemachte Zyniker der Macht ! Die hätten sich doch durch ein großes Friedensbegehren im Westen nicht beeindrucken lassen — im Gegenteil: Das war ja das, was sie wollten!
Staisch Ich war immer der Meinung, daß potentielle Stärke mit potentieller Gegenstärke ausgeglichen werden muß!
Scholl-Latour Das ganze entsprach natürlich einer großen Naivität.
Zwerenz Große Bewegungen sind immer naiv!
Oeser Was heißt „zu naiv“ ? Sich für das Leben und für die Zukunft einzusetzen, mag immer naiv erscheinen. Aber gibt’s eine Alternative dazu?
Antelmann Ich kann mich erinnern, dass ich grad mit meiner Frau ‘ne Radtour machte in Westdeutschland, als wir in einem Gasthof die Nachrichten hörten, dass Reagan, als er dachte, die Mikrophone wären abgeschaltet, sagte: „Und in fünf Minuten wird Moskau bombardiert!”
DOKUMENT:
Ronald Reagan My fellow Americans ! I’m pleased to tell you today that I signed legislation that will outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes ! (GELÄCHTER)
Zwerenz Ich hab nie die Friedensbewegung für hysterisch gehalten, sondern ich habe stets die Generalstabsplaner, die Waffentechniker und diejenigen, die sich auf die großen Kriege vorbereiten, für Hysteriker gehalten. Und ich sehe diese Hysteriker auch jetzt wieder am Wirken!
Zint Es gibt natürlich in jeder Bewegung immer ‘n paar, die überziehen. Genauso hab ich mich damals bei der Friedensbewegung von den Leuten ferngehalten, die meiner Meinung nach auch sehr viele psychische Defekte gleichzeitig mit beheben wollten – mit ihrem Engagement. Solche Leute gab’s natürlich immer.
Ach, ich glaub — da lohnt sich’s gar nicht drüber zu reden ! Das war eine prozentual verschwindend kleine Menge. Aber auf solche Leute stürzen sich natürlich bestimmte Medien.
Orth Das war nicht so, wie Gegner dachten: Das sind alles nur Leute, die stricken und Angst haben ! Nein — dann hätten wir’s nicht geschafft, so viele Leute auf die Straße zu bringen ! Es war eine politische Bewegung. Das war keine emotionale Bewegung. Das waren keine Angsthasen. Also — wir sind ja nicht die Dummköpfe gewesen, als die uns manche gern immer darstellen! Ne, so war das nicht!
Zint Da, wo ich aktiv war, war ganz schön was los ! Das war nicht betulich! Wir haben Panzer mitten im Manöver blockiert, wir haben denen Steine in die Ketten geworfen. Und wir haben dann auch damals unfreiwillig ein paarmal Prügel von GIs bezogen. Da hatte ich schon gelernt, daß durch vorbildliches Leben und Stillhalten nix passiert. Da hatte ich schon gelernt, daß wir eingreifen müssen, daß wir was tun müssen.
DEMONSTRATIONEN, BLOCKADEN, AUSEINANDERSETZUNGEN (MONTAGE): POLIZEIDURCHSAGEN, GERÄUSCHE VON HUBSCHRAUBERN UND KETTENFAHRZEUGEN, DRAMATISCHE SZENEN BEI RÄUMAKTIONEN DER POLIZEI
Weinende Frau … Das geht doch nicht so ! Hab doch gar nichts getan ! …
Nachrichtensprecher Zu Zwischenfällen kam es, als bisher Unbekannte an mehreren Stellen die Zäune des amerikanischen Hubschrauber-Landeplatzes in Fulda-Sickels sowie des US-Versorgungslagers in Neuhof-Giesel durchschnitten.
Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Dregger, bezeichnete heute in Fulda die Manöverbehinderungen als „eklatante Verletzung des inneren Friedens und Gefährdung der äußeren Sicherheit“.
Schubarth (REDE-DOKUMENT) Wenn wir im kommenden Herbst die Aktion „Manöverbehinderung und Menschennetz im Fulda Gap“ durchführen, wollen wir eine Aktion gegen den Militärapparat aber für und mit den Menschen in dieser Region machen. Deshalb muss unsere Aktion verständlich und der Bevölkerung vermittelbar sein.…
HUBSCHRAUBER-GERÄUSCH, VERLANGSAMT. DARAUF:
Autor Aber „die Menschen“ sind — leider — gegen uns, nicht gegen die Raketen; nicht der Stacheldraht stört — sie stoßen sich am losen Treiben in den Camps. Giftblicke prasseln auf unsere Wigwams, unsere Indianer-tänze, die Parolen, die Fahnen.
Was wissen diese Zuschauer von uns ?
Gerade erst beginnen wir das ganze Ausmaß der Nazi-Greuel zu begreifen – da soll „der Russe“ wieder Feind sein ?
Und was ist mit Vietnam (Napalm, Agent Orange) ? Oder mit den CIA-Leichen in Südamerika — Salvador Allende, Victor Jara ? Auch die westliche Seite ist kompromittiert.
Sollen wir das mir-nix ‑dir-nix ausblenden? Viel verlangt!
Frau Politik stört mich net ! Honn ja im Haus genug zu tun un’ honn für die Kind’ zu sorge, for die Enkelcha — dat is mei Aufgab. Aber Politik geht mich nix an.
Andere Frau Mir sind ja die einfache Leut. Mir müsse stillhalte ! Das is alles, was wir könne!
Dritte Frau Ja, was halte mir davon ? Das is net gut, das gefällt uns auch net ! Aber wir könne ja nix da dran tun, gell ! Gefällt uns auch net. Wir wollen doch alle keinen Krieg mehr ! Aber mir könne doch nix dran tun ! Ja, was soll’n mir denn tun ? Ja, was soll’n mir denn mache ? Wir haben so’n kleines Dorf hier. Die nehmen dat so hin, net!
Mann Mir brauche die Amerikaner zum Leben hier. Sonst ham wir doch garnix. Was solln mir denn sonst arbeiten? Absolut!
Anderer Mann Es sind zirka 2000 deutsche Arbeiter hier im Depot beschäftigt.
Dritter Mann Sie sehen hier ein Bauunternehmen, das hat 95 Mann. Dieses Bauunternehmen beschäftigt jetzt zur Zeit rund 35 Mann hier im US-Bereich. Wenn wir diese Baustellen hier im US-Bereich nicht hätten, dann ständen die 35 Mann, die hier sind, wahrscheinlich auf der Straße und täten der Bundesanstalt für Arbeit zur Last fallen. So sieht’s aus!
VERFREMDETES HUBSCHRAUBER-GERÄUSCH WEG
Zint Ich war auch ein relativ unpolitischer Pazifist. Als Woodstock und dieses Fehmarn-Festival –- letzter Auftritt von Jimmy Hendrix –- und diese Geschichten passierten … da saßen wir alle beisammen und haben gedacht: Es wird nie wieder Krieg geben. Wir haben es geschafft. Und nun wird alles einen guten Gang gehen. Das war Ende der 60er, Anfang der 7oer.
Und wir haben geglaubt, dass das so weitergeht. Wir haben geglaubt, dass wir alle Konflikte dadurch lösen, dass wir selbst gewaltfrei sind –- damit werden andere Leute zwangläufig genauso gewaltfrei, wie wir sind. Und diese Naivität ist ‘n Vorrecht der Jugend! Diesen Traum darf man haben!
Wir haben unsere Camps gehabt, und diese Friedenscamps waren also nicht nur von Leuten besetzt, die die Traurigkeit gepachtet hatten. Ich erinnere mich an sehr lustige Feten, die wir gefeiert haben. Wir hatten unsere eigenen Lieder, unsere Musik, und da ging’s auch gut zur Sache. War ‘ne schöne Zeit!
VOR DEM ATOMWAFFEN-LAGER: SONNTAGNACHMITTAG- STIMMUNG. DARAUF:
Autor Im Schatten der Raketen proben wir das Neue, Bessere. Wir üben für den Tag danach. Friedensland.
Da blüht die Romantik, das Pathos der Gesänge. Da lassen wir den deutschen Schillerkragen blitzen. Formen Peace-Zeichen aus unseren Körpern; ordnen die Masse zum Ornament.
Auch so mancher Protest ist auf rührende Weise… gestrig.
Frau Ländle Die sind viel ernsthafter. Die denke viel mehr nach wie die ältere Leut ! Die ältere Leut — die sind schon so wie abgestorbe ! Habe den Beruf hinter sich und jetzt is’ so ’s Lebe vorbei. Und die junge Leut — die denke doch mehr zukunftsbewußter, und sind auch politisch besser orientiert. Und könne — ich glaub — auch ‘s Ausmaß besser erfasse, was über uns hängt !
Da denk ich immer: Ja gut, ich werd mit jedem Jahr älter und meine Kräfte lasse nach. Aber wenn’s noch solche junge Leut gibt, die mit so viel Optimismus an des rangehe und diese Aufrüstung, diese sinnlose Aufrüstung in der Welt bekämpfe, das beruhigt mich einerseits. Das macht mich sogar ganz glücklich !
ATMO WEG
Bahr Ich glaube, dass die Friedensbewegung nötig war. Ich glaube, dass sie dem Gefühl, dem richtigen Gefühl der Menschen entsprach, dass die Bedrohung zunimmt, und dass Rüstung plus Rüstung plus Nachrüstung plus Nachrüstung zu keinem Ergebnis führen. Sie war auf einem Auge blind — genauso wie die Regierungen auf dem anderen Auge blind waren.
Zwerenz Die linken Gruppen — sowohl die K‑Gruppen als auch die DKP-Gruppen — waren natürlich auf dem linken Auge blind. Sie haben nicht wahrnehmen wollen –- manche auch nicht wahrnehmen dürfen, aber die meisten nicht wahrnehmen wollen –-, dass zu der Weltuntergangs-Bedrohung durch Atomkrieg eben zwei Seiten gehörten.
Alt Im großen und ganzen … jetzt versuch ich mir noch mal die Hauptftiguren in Erinnerung zu rufen: Petra Kelly — wie oft war Petra Kelly bei Herrn Honecker und hat den zum Stop von Weiterrüstung gedrängt; Pfarrer Albertz, Heinrich Böll, Alfred Mechtersheimer –- das war ja nu kein Mensch, der auf dem linken Auge blind war sondern … der hat ja eher ‘n Rechtsschwenk gemacht inzwischen. Und auch ich bezeichnete mich damals und tu’ es heute als Konservativen.
Orth Die paar DKP-Mitglieder –- das waren nicht die, die die Millionen auf die Straße gebracht haben !
(HUBSCHRAUBER)
Autor Mein Gold sackt weiter ab. 393 Dollar… 380 Dollar… Die kana-dischen Münzen liegen unten in der Mehlkiste für den Tag X, wenn die Bank geplündert oder überrannt wird oder einfach nicht mehr da ist. Krisen-Metall — als Tauschwert für Brot oder russische Rubel. Mausetotes Kapital.
BONN, HOFGARTEN
(KULISSE DER MASSENVERSAMMLUNG)
Sängerin „Make love, not war — make love, not war (…) Liebende aller Länder, vereinigt Euch ! Make love, not war (…) Lovers of the world unite side by side…“
DARAUF:
Autor 23. Oktober 1983, Sonnabend. Strahlender Spätherbst.
Im Bonner Hofgarten versammeln sich 500 000 Menschen. Die größte Protestkundgebung der Nachkriegszeit. In Paris und West-Berlin sind es 150 000 – 300 000 in Stuttgart, 400 000 in Hamburg, 500 000 in London, 750 000 in Rom.
Wir sind ‘ne Menge, Herr Kohl ! Herr Reagan! Sie müssen uns zur Kenntnis nehmen, Herr Breschnew!
Perry Friedmann Das ist das schönste Bild, das ich je gesehen habe. Wir sind die Mehrheit ! Wir sind hergekommen um zu sagen: Wir wollen in Frieden leben! In Freundschaft leben!
Bastian Liebe Verbündete im gemeinsamen Kampf ! Lassen Sie uns den Machthabern in West und Ost, die ihre Macht schamlos missbrauchen, um immer mehr Waffen anzuhäufen, anstatt die Probleme der Menschheit gewaltlos zu lösen, den Gehorsam aufkündigen und unüberhörbar entgegenrufen, dass wir nicht länger gewillt sind, unsere Zukunft ihren verderblichen Parolen von Abschreckung und militärischem Gleichgewicht anzuvertrauen.
Mechtersheimer Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik verwahrt sich gegen Streicheleinheiten aus Moskau, so lange die aufkeimende Friedensbewegung in Osteuropa und in der DDR behindert wird.
Jungk Nein, das ist eine wahnsinnige Welt, und wir wollen raus aus dem Wahnsinn. Wir wollen eine Welt, in der man für seine Kinder sich freuen kann, für seine Enkel hoffen kann. Diese Angstwelt — mit der muss Ende sein! Und hier beginnt heute ein Lebensfest!
Böll Ich weiß nicht, wieviel Kinder man mit dem sattkriegen könnte, was eine Rakete kostet (BEIFALL). Ich weiß nur, dass der Rüstungsetat der Vereinigten Staaten im nächsten Jahr pro Tag eineinhalb Milliarden Mark betragen wird (PFIFFE).
Brandt Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freundinnen und Freunde! Als einer der weit über eine Million Menschen, die heute hier und anderswo zusammenstehen, will ich über sonst Trennendes hinweg bekunden: Wir brauchen in Deutschland und in Europa, so lange es steht, nicht mehr Mittel der Massenvernichtung sondern weniger !
Kelly Wir müssen Schritte aus diesem NATO-Bündnis wagen ! Ein Nein zu den Waffen und ein Ja zur NATO ist absurd. Ich habe gehofft, daß es ein Nein wird ohne jedes Wenn und Aber. Ich habe ein Nein gehört, was längs überfällig ist, aber ich warte auf das „Ohne-jedes-Wenn-und-Aber“! (BEIFALL)
Perry Friedmann Liebe Freunde ! Singen wir dieses letzte Lied zusammen — im Geist Marthin Luther Kings jr., der in Amerika ermordet wurde ! Singen wir es in Solidarität mit allen Menschen auf dieser Welt, die für den Frieden demonstrieren, kämpfen wollen!
„WE SHALL OVERCOME…“
ATMO WEG
Staisch Was mich an dieser Friedensbewegung immer fasziniert hat, obwohl ich ihre Ziele nie geteilt habe, war die mentale und auch durchorgansierte Friedfertigkeit. Nicht nur, daß die Leute friedlich sein wollten, sondern, dass sie’s auch organisatorisch geschafft haben, immer friedlich zu sein!
Scholl-Latour Das war eben der Trend. Das war die political correctness, wie wir’s heute nennen. Ich hab eine gute Bekannte gehabt, und die war in dieser Riesenmasse und hat gesagt: Mein Gott, das war so ein herrliches Gefühl, gemeinsam in einer solchen Masse zu marschieren! Und ich bin nun wirklich ein sehr alter Mann inzwischen, ich hab noch die Reichsparteitage erlebt — da hatt’ ich auch so’n Gefühl!
Staisch Ich hab den Hofgarten 1981 gefilmt, und ich hab -– ich glaub es war der 22. Oktober 1983 –- die Menschenkette Stuttgart-Ulm gefilmt. Und da war immer eine friedfertige, ja fast volksfesthafte Stimmung dabei. Wenn ich mir manche Demonstrationen über Kernkraft und Castor-Transporte angucke und das Gewaltpotential da beobachte heute, dann hat sich die Friedensbewegung in ihrem Willen und in ihrer organisatorischen Schlagkraft, friedlich zu sein, davon immer sehr, sehr positiv abgehoben.
HUBSCHRAUBER-GERÄUSCH, VERLANGSAMT. DARAUF:
Reagan The simple hope for peace is not enough. We must continue to improve our defences to preserve peace and freedom. The people of the United States are saying: We are with you, Germany — you are not alone!
LANGER BEIFALL
DEUTSCHER BUNDESTAG. STIMMENGEWIRR NACH DER ABSTIMMUNG AM 22. 11. 83
Rainer Barzel Meine Damen und Herren ! Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung über den Antrag der Fraktion CDU/CSU und FDP auf Ducksache 620 bekannt. Abgegebene Stimmen: 513. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit „Ja“ haben gestimmt: 286. Mit „Nein“ haben gestimmt 226. Enthaltungen: eine.
Damit ist dieser Antrag angenommen.
UNRUHE, BEIFALL
Rainer Barzel Meine Damen und meine Herren, damit sind wir am Schluss unserer Tagesordnung. Bevor ich die Sitzung schließe, möchte ich bekannt geben, daß die bereits angekündigte Sitzung des Ältestenrates (…)
DARAUF:
Autor Ein Monat später: der Schock. Mit der Mehrheit von 60 Stimmen beschließt der Deutsche Bundestag den Vollzug der NATO-Nachrüstung. Schon am nächsten Tag kommen die Raketen — je 36 Pershing II nach Mutlangen, Heilbronn und Neu-Ulm, 96 Marschflugkörper in den Hunsrück.
HUBSCHRAUBER
Von nun an sind sie auf den Straßen Süddeutschlands — immer neun. Neun Pershings bilden eine Feuereinheit. Sie donnern durch die Dörfer, bergauf-bergab die schwäbische Achterbahn, mit heulenden Motoren, qualmenden Bremsen. Blaulicht, Stahlhelme, MGs im Anschlag. Der geballte Wahnsinn.
VOR DEM RAKETENGELÄNDE IN MUTLANGEN:
FRIEDENSGRUPPE, singt: „Hey-ho — der Kampf geht weiter…“ SPRECHCHÖRE (DEUTSCH, NORWEGISCH)
Autor Wir belagern die Macht: im englischen Greenham, im norwegi-schen Rygge, im italienischen Comiso, im holländischen Woensdrecht, im sauerländischen Hasselbach, im schwäbischen Mutlangen. Tagaus, tagein. Blanke Ohnmacht, kalte Wut in Schlafsäcken auf bloßer Erde.
Frau Lendle … Man muss sein Herz in beide Hände nehme, um das mache zu könne. Weil — das wär wirklich zum Verzweifeln, wenn man dem allen gegenüber steht. Dieser Aufwand an Polizeimaterial ! Im Hintergrund diese Vernichtungswaffen ! Also — da kommt man sich schon ohnmächtig vor. Aber wie ich bin: In mir regt sich dann manchmal doch der Trotz. Es kommt auf die Stimmungslage an — manchmal kann ich mich allein gegen das alles so kräftig wehre und stelle. Und manchmal denk ich einfach: Es ist zwecklos oder sinnlos. Aber das will ich garnet aufkomme lasse. Ich find, das ist sehr, sehr wichtig, daß die wisse, dass es uns so nicht recht ist mit dene Rakete, dass die hier sind!
HUBSCHRAUBER, KAMPFJETS
Autor Mein Krisengold weiterhin auf Talfahrt: 345 Dollar, 300, 285 … Bisheriger Verlust: 115 Dollar = 27 Prozent. Im ganzen: 1 713 Mark minus in sechs Monaten.
Iran und Irak schießen gegnerische Tankschiffe und Städte in Brand. Westliche Länder schicken Flotteneinheiten in den Golf, um den Ölfluss zu sichern. Bei uns wird Heizöl knapp. Die Preise steigen. Man beobachtet die ersten Hamsterkäufe: Mehl, Zucker, Dosenmilch und Fleischkonserven. Benzin.
Die zuständige Behörde teilt uns mit, wie man Jodtabletten gegen Strahlenkrankheit einnimmt. Ärzte protestieren. Wir lesen auf den Transparenten: „Im Atomkrieg gibt es keine Hilfe“ — „Die Lebenden werden die Toten beneiden“.
Wir bilden eine Telefonkette. Wir entrümpeln den Keller. Demonstrativ hängen wir das blau-weiße „Kulturgut“-Abzeichen vor die Tür — nach der „Haager Landkriegsordnung“ (1907) ist das Haus für Luftangriffe ab sofort tabu.
Ein Freund aus der Baubranche macht jetzt in Bunkern. Tief im Gestein der Eifel probt das Bonner Notparlament.
Alle in einem Boot !
ATMO WEG
Bahr Ich glaube, dass der NATO-Doppelbeschluss, rückblickend gesehen, überflüssig war. Er hat zu einer objektiven Erhöhung der Gefahr geführt, und er hat meines Erachtens auch einen anderen politischen, sehr viel bedeutsameren Fehler gehabt. Nämlich: Er hat zur Stabilisierung der Regime im Osten beigetragen. Denn selbstverständlich im Zustand weiterer Rüstung nahm die Bedeutung und das Gewicht des militärisch-industriellen Komplexes zu. Ein Mann wie Gorbatschow konnte sich gegenüber seinen Marschällen nicht wehren, wenn die sagten: „Nun müssen wir aber auch was machen… Wir müssen weitergehen.“ — Mit anderen Worten: Der NATO-Doppelbeschluß hat die Militärs gestärkt und die Regime drüben länger stabilisiert.
Scholl-Latour Ich bin überzeugt, dass im Frühjahr und Sommer 1983, als die Nachrüstung durchgesetzt wurde, das absolut entscheidend gewesen ist für ein ausgewogenes Verhältnis zur damaligen Sowjetunion. Dann sind die Gespräche in Gang gekommen. Und dann hat sich jener Prozess entwickelt, der zur Beendigung des Kalten Krieges führte, und dann –- o Wunder –- zum Zerfall der Sowjetunion, mit dem nun wirklich damals niemand rechnen konnte!
Staisch Hätte sich die Massendemonstration dieser Tage … 81 bis 83 -–- hätte die sich durchgesetzt, hätte es niemals die Massendemonstration von Dresden und Leipzig geben können und die deutsche Einheit.
Ich habe diese Waffen auch nie gemocht, aber ich hab immer daran geglaubt, daß die Politik der Stärke der richtige politisch-philosophische Ansatz ist.
Alt Ich hab insofern umgedacht, als ich davon ausging, daß der Westen – die Demokratie sozusagen – allein die Kraft haben müsste, als erster aufzuhören, und dadurch die andere Seite zu zwingen, auch aufzuhören. Nun hat uns Michail Gorbatschow eines Besseren belehrt. Offenbar weht der Geist — der heilige Geist — wirklich, wo er will.
Guha Die Abschreckungstheorie verbietet ja Vorleistungen, weil Vorleistungen missdeutet werden könnten als Bereitschaft zur Kapitulation und entsprechend Aggressivitätsneigungen der scheinbar überlegenen Macht nach sich ziehen könnten. Mit diesem … geradezu … Dogma der Abschreckungstheorie hat Gorbatschow Schluss gemacht.
Alt Das hat mir Michail Gobatschow jetzt nochmal bestätigt, dass er in seinem Zentralkommittee und bei denen, die gegen ihn waren, deshalb sich durchsetzen konnte, weil er auf die Position der Friedensbewegung und damit auf die Position der Mehrheit der Menschen im Westen verweisen konnte.
Scholl-Latour Wir haben ja den Frieden erreicht ! Der Kalte Krieg ist vorbei. Das Entscheidende ist wohl gewesen, daß die Friedensbewegung gemeint hat, durch Konzessionen den Frieden zu erreichen, und wir haben diesen Zustand des Friedens jetzt erreicht durch die Verweigerung von einseitigen Konzessionen.
Oeser Ne — das war’s ja garnicht ! Das war’s ja garnicht ! Ein interner Prozess in der Sowjetunion hat zum Zusammenbruch geführt! Das System brach einfach in sich zusammen. Weil es refomunfähig war!
Staisch So, wie’s letztlich auch gelaufen ist, war das NATO-Konzept das erfolgreiche und –- ich glaube –- das Friedensbewegungs-Konzept das träumerische.
Alt Natürlich ! Natürlich ! Es gibt Leute, die lernen nichts dazu — auch im Journalisten-Kreis ! Mir hat Gorbatschow gesagt, als ich ihn frage: Was war das größte Problem für Sie ? Da sagte er: Mein eigenes Hirn — bis ich den Wahnsinn, den wir hier gemacht haben, selber begriffen habe ! Also — das ist einer, der sich geändert hat. Nur, weil er sich geändert hat, konnte er die Welt verändern.
HUBSCHRAUBER
Autor Am 8. Dezember 1987 unterzeichnen Reagan und Gorbatschow den INF-Vertrag: Kontrollierte Vernichtung aller landgestützten Mittelstrecken-Waffen mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometern und der Abschussvorrichtungen.
Der Weltuntergang ist erst mal verschoben.
In diesem Augenblick erklimmt mein Kriesengold den vielleicht letzten Gipfel seiner Laufbahn: 500 Dollar pro Unze. Unerwartet von den Fachleuten und –- leider –- unbemerkt von mir. Ich könnte die Verluste wieder wettmachen, mit einem Schlag. Doch dem Einmarsch des Irak 1991 in Kuwait folgt ein Preissturz — runter, auf traurige 350. Adieu, Fluchtmetall!
GOLFKRIEG IM RUNDFUNK:
Nachrichtensprecher Am Persischen Golf hat heute Nacht der Krieg begonnen. Kampflugzeuge der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Saudi Arabiens und Kuweits griffen militärische Ziele im gesamten Iraq sowie im besetzten Kuweit an.
Korrespondent (TELEFONBERICHT) Ja, es sieht so aus, als ob dieser Luftan-griff –- diese erste Welle –- die in den Irak geflogen wurde, sehr erfolgreich für die Amerikaner ausgegangen ist. Und es heißt, dass zunächst einmal die irakische Luftwaffe angeblich fast vollständig ausgeschaltet worden ist.
Nachrichtensprecher Nach Bekanntwerden der ersten Luftangriffe auf den Irak versammelten sich in zahlreichen Städten der Bundesrepublik mehrere Tausend Menschen, um gegen den Krieg zu demonstrieren. In Berlin zogen rund 700 Personen zur Gedächtniskirche. Protestkundgebungen wurden unter anderem auch aus Bonn, Hamburg, Göttingen, Osnabrück und Freiburg gemeldet…
LANGSAME KREUZBLENDE IN FLUGFELD SICKELS, DRACHENFEST
Autor Gegenwart. Gold ist endgültig out. Meine Kriegsangst war ein glatter Spekulationsverlust. Die letzten Gemeinden kassieren die Ortsschilder mit dem Zusatz „Atomwaffenfreie Zone“. Boris Jelzin sagt: Russische Atomraketen zielen nicht mehr auf die NATO. Der Regierungsbunker in der Eifel ist schon dichtgemacht. In der Flugabwehrstellung auf dem Finkenberg sammelt jetzt die deutsche Kreisverwaltung Wertstoffe und legt Komposthügel an. Schafe weiden auf dem Flugplatz Hahn im Hunsrück. Im Raketensilo wachsen Champignons. Die Sprenglöcher der Straßen an der früheren Grenze werden mit Beton gefüllt. Bei Schwäbisch-Gemünd tanzt die Jugend in den Hangars. Und in Fulda-Sickels lassen sie Drachen steigen…
DRACHENFEST-ATMO HOCH UND ALLMÄHLICH WEG
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