Ein Mailwechsel vor der Internationalen Feature Konferenz (IFC) in Lublin 2015.
Am 18. Mai mailte Peter Leonhard Braun:
Lieber Helmut,
- Als ich mich vor circa 60 Jahren bemühte, Zugang zum Feature zu finden, also um Lohn und Brot durch Programmarbeit — da wurde eine einzige Sache von mir verlangt: Ich hatte schreiben zu können. Wir waren also Rundfunk-Schriftsteller oder Radio-Schreiber, wir waren keine Journalisten sondern Autoren. Unsere Eintrittskarte war die Fähigkeit, eine Thematik möglichst bindend und sogar anspruchsvoll schreiben zu können. Unser Produkt war ein Skript.
- Später kam dann der Ton, die Aussenaufnahme, der Kampf um Eintritt in ein technisch hochgerüstetes Studio, die Regie. Das akustische Denken. Also die Thematik nicht nur durch Sprache sondern ebenso durch akustische Mittel auszudrücken. Unser Produkt war eine Produktion.
Das sind also die ersten beiden Kilometersteine der Entwicklung.
Ich möchte Dich bitten, der Du Dich mit dem Fortgang des Features so intensiv auseinander gesetzt hast, mir die weiteren Kilometersteine aufzuschreiben.
Ich möchte den Kollegen auf der IFC klarmachen, was man früher – als Autor / als Macher – für ein Feature brauchte und was man dagegen schon heute und allerspätestens morgen dafür braucht:
Was hat der neue Macher mitzubringen, welche Fähigkeiten sind unverzichtbar? Lass uns beide alten Haifische doch mal versuchen, den neuen, erfolgreichen Kollegen zu entwerfen.
(Nur Kilometersteine, Siebenmeilenstiefel –- ich muss das in 3’ rüberbringen oder es kommt nicht an!)
Herzlich
Leo
&
Lieber Leo,
bei allen Überlegungen, zu denen Du mich einlädst, ist mir am Wichtigsten, dass wir unser erworbenes Terrain nicht ohne Not verlassen – und das besonders bei einer Versammlung, die “Feature Conference” heißt. Ich habe das Gefühl (und die Hoffnung), dass unser “armes” Medium in dieser zugebilderten Welt wieder als das BESONDERE erkannt wird. Das Hör-Feature ist vielfältig und bunt, darf aber kein verschwommener Irrwisch zwischen allen denkbaren Programmformen werden.
Deine Fragen müssen einerseits von der technischen Entwicklung und einem veränderten Rezeptionsverhalten her beantwortet werden, aber auch vom Herzstück, dem Kern, der Seele, the core dessen, was wir weiterhin “Feature” nennen wollen.
In der Folge “Der Ast, auf dem wir sitzen” meines Radioblogs vom 1. März (siehe www.dokublog.de > Radioblog) habe ich ein “Überlebenspaket” für den Feature-Autor der näheren Zukunft geschnürt. Es enthält: “1 Thema von mittelfristiger Brisanz; wenigstens 1 mutige These; 1 Story with teeth; 1 gute Dosis unverwechselbarer Klänge und erzählerischer Energie; 1 gedankenreichen, schlackenlosen Text. Und alles eingepasst in eine perfekt sitzende dramaturgische Form”.
Das sind großteils tradierte, aber wie ich meine, unverzichtbare Inhalte. Keine Frage, dass in das Überlebenspaket auch das wache Interesse für die Möglichkeiten der digitalen Verbreitung und Kommunikation gehört. Als unersetzliche Tools sind die “neuen Medien” ja längst Gebrauchsware (…)
Bei all diesen Selbstverständlichkeiten dürfen wir aber unsere Erdung als Zeitgenossen und Beobachter – eben als AUTOREN – nicht verlieren.
Und dieses noch: “Radio” (oder wie unsere Plattform in Zukunft genannt werden wird) ist ein AKUSTISCHES Fach. Wie ich als Hörer täglich erleben muss, hat die Bedeutung und die Qualität des O‑Tons kontinuierlich nachgelassen. Auch unter den Kollegen – nicht nur den ganz jungen – grassiert eine naive Technikgläubigkeit nach dem Motto: “Das Teil, das ich benutze (und das teuer genug war), wird ’s schon richten!”
Ohne craftsmanship und ‑pride werden wir auch in Zukunft nicht auskommen. Ernst zu nehmende Featuremacher und ‑macherinnen müssen wieder zu SOUNDSPEZIALISTEN werden.
Möglicherweise wird die Zukunft des Features eines Tages den Independent Producers (“Indies”) gehören, die ihre Programme komplett auf dem heimischen Desktop produzieren und im Netz selbst vermarkten – analog zum Self publishing in der Buchbranche.
Auf jeden Fall sollten die “Neuen, Erfolgreichen” die Arbeiten anderer, auch früherer Kollegen und ‑innen aufmerksam hören, analysieren und ihre zeitgemäßen Schlüsse daraus ziehen. Das kostet Mühe, Zeit, devotion. Bedeutet: das Fach und sich selbst ernst nehmen.
Jetzt sollte ich aufhören …
Ich werde in Gedanken bei Euch sein. Grüße alle lieben Menschen in Lublin!
Dein H.
P. S. Ich hätte nie erwartet, in unserem Diskurs eines Tages die “konservative” Karte spielen zu müssen – das Eigenschaftswort aber bitte in Anführungszeichen.
&
Lieber Helmut,
ich wandere also durch einen verzweigten Wald und versuche mit Umsicht meinen Weg zu finden. Und wenn ich dann endlich auf der anderen Seite des Waldes ins Freie trete, wer sitzt da gemütlich und schon länger und vor ausgebreitetem Picknick: Helmut Kopetzky. Hat alles längst selbst durchwandert und schon ganze Abhandlungen darüber geschrieben. Liest sich alles wunderbar, ist schlüssig, hat Credo und den Nachteil, dass ich nicht als Kopetzky auftreten will.
Meine Fragestellung ist viel einfacher, ich möchte den blutjungen Wanderer von den ihm notwendigen Fähigkeiten her zusammensetzen. Was braucht er, um durchzukommen, ohne zu fragen, was er mit den Fähigkeiten macht.
Nimm Braun und seine Ausstattung.
1. Er konnte schreiben
2. Er konnte akustisch denken
3. Er konnte technisch aufwendige Produktionen im Hörfunk-Studio machen.
Das konnte Kopetzky auch, aber er fügte der Ausstattung entscheidende Fähigkeiten hinzu.
4. Die Beherrschung des selbstständig aufgenommenen O‑Tons
5. Dessen selbstständige Verarbeitung
6. Die Eigen-Produktion oder die Unabhängigkeit vom Hörfunk-Studio oder die Trennung von Produktion und Ausstrahlung.
Bei Braun kannst Du fragen, ob der blutjunge Wandersmann die Punkte 1+2+3 überhaupt noch braucht, die Kopetzky-Punkte 4+5+6 scheinen dagegen unverzichtbar.
Aber wie geht jetzt die Reise weiter? Der Zug fährt unaufhaltbar und beeindruckend schnell jetzt auch über ganz andere Gleise.
Zwei Beispiele von SR (Sveriges Radio AB), führend im Prozess der Umwandlung, die ich auf dem nächsten ‚Berlin Summit‘ (Conference of Cultural Radio Managers) thematisieren werde.
1. Tomas Granryd of SR: „The 1st real study on the behaviour of the smart phone audience plus insight in how SR is developing innovation teams to come up with ideas of new formats focussing on the audience in the smart phone“.
2. Cilla Benkö, SR: „How to get the staff going from an analog to a digital world. How to change the focus and the mind set internally (Journalism 3.0)?“
Gesichert scheint zu sein, dass ohne visuelle Anreize das Feature nicht mehr auskommen wird. Und auch das lineare Erzählen wird nicht ausreichen, sondern wir haben die Linie durch ein sich drehendes Kontakte-Karussel von Zugängen und Ausgängen, also von hoher Beweglichkeit, zu ersetzen. Die Märchentante (wir) wird zur Begegnungs-Plattform.
Du bist und bleibst der große Hans Dampf in allen Gassen. Der Ironman und Kanal-Durchschwimmer. Hast alles selbst gemacht, probiert, kennst Handgriffe und Werkzeuge. Also bitte: Du sollst ihn mir jetzt ausrüsten, unseren blutjungen Wanderer – für seinen Weg. Oder backe ihn wie einen Kuchen. Man nehme ein Pfund Talent (welcher Art), dazu ein Kilo technische Beherrschung usw. Und vergiss nicht: Der Wurm soll dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Leo
&
Lieber Leo,
ich versuche der Zwickmühle zu entgehen, die Du in Deinem e‑letter aufgemacht hast. Für mich besteht sie in zwei Sichtweisen auf die Zukunft der akustischen Gattung “Radio” in der sich so schnell verändernden Welt: Hier die Position des Programm-Visionärs, der das große Ganze im Blick hat; dort die zweifellos leichter zu beschreibende Philosophie des Autors, der in einiger Entfernung zu den statistischen, ökonomischen, letztlich medienpolitischen Facts spinnen darf, so viel er will. Beide Annäherungen sind nötig, werden aber – auch in den Fachdiskussionen – leicht vermischt.
Bevor ich zu Deinen 3′ für die “blutjungen Wanderer” in Lublin komme, noch ein paar thesenhafte Sätze vom Picknickplatz am Waldrand:
LINEARITÄT: Ich bemühe mich seit längerem (und propagiere das auch bei den Workshops), Seiteneinsteigern bei langen Sendungen den Zugang zu erleichtern, zum Beispiel durch diskrete Wiederholung relevanter Namen, Jahreszahlen etc. Allerdings ist das Problem durch Podcasts und die Möglichkeit zum individuellen Download nicht mehr so gravierend. Die Hörer/User entscheiden selbst, wann und wie lange sie “hineinhören” wollen – worin natürlich wiederum Probleme dramaturgischer und rezeptioneller Art stecken.
Lineares Hören sollte weiterhin möglich sein. Also kein Entweder / Oder.
VISUALISIERUNG DES RADIOS: Als Anreiz – um auf ein Programm, eine Strecke, ein einzelnes “Stück” aufmerksam zu machen: JA. Als ablenkende Zutat, Soundtrack “unter” bewegten oder statischen Bildern: NEIN. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, Vivaldis “Vier Jahreszeiten” im Konzertsaal mit “passenden” Videos zu hinterlegen – wo die Musik doch alles erzählt.
Die völlige Verschwisterung von Ton und hinzugefügtem Bild kann nie gelingen. Wegen anders verlaufender Wahrnehmungsprozesse wird das Bild immer Sieger bleiben.
Auf der Homepage des ARD-Radiofeatures werden Fotos, Texte, Link-Hinweise seit langem als Bonusmaterial mitgeliefert. Der mündige User / Hörer wird sie parallel benutzen – oder auch nicht.
SMART PHONE AUDIENCE (Tomas Granryd): Den Begriff halte ich für eine Schimäre. In der Regel dient das Phone dem schnellen Austausch, der ad-hoc-Kommunikation, aber nicht dem ZUHÖREN. Andererseits sind die “future possibilities in reaching a younger radio audience” weniger eine Sache der Hardware als der Themen, der Inhalte. 90 Prozent unserer gegenwärtigen Produktion könnten wir mit Blick auf diese Hörergruppe in die Tonne kippen.
“Younger audience” ist eine sehr unscharfe Beschreibung. Schicht, Bildung, Altersgruppe spielen eine Rolle. Und “elder listeners” gibt es ja auch noch. “Journalism 3.0” (Cilla Benkö) finde ich genauso fragwürdig. Was ist gemeint ? Hardware, Software, Tempo, sprachliche Anmutung (…)?
Von Granryd lese ich im Netz über eine EBU lunch debate ziemlich verschwommenes Zeug à la “On hybrid radio devices, social media even allow listeneners to directly interact with the radio DJ…”
(Gibt ’s außerdem längst bei den privaten Terrestrischen rund um die Uhr!)
Was die Fähigkeiten der Blutjungen betrifft, habe ich meiner gestrigen Mail wenig hinzuzufügen: Neugier auf alles, was sich in der Welt tut (nicht zuletzt im Mediensektor), Selbstbewusstsein, Teamfähigkeit, Ausdauer; auch ständig fortzuschreibende Bildung schadet nicht; Beherrschung des Equipment im weitesten Sinn (Was nehme ich auf und wofür ?), akustisches Denken, Sprachgefühl (…)
Aber das alles hängt natürlich von Entwicklungen ab, die wir nur teilweise beeinflussen können. Fox News, las ich irgendwo, hat 30-Sekunden-Module zur Regel gemacht –– wozu dann einen halben Tag lang O‑Ton und Geräusche aufnehmen?
Ich denke: Freshmen und ‑women sollten sich immer wieder die Frage stellen: Was will ich im Leben und im Beruf über ein Traumgehalt hinaus erreichen ? Wem nützt meine Arbeit ? Vielleicht sogar der Allgemeinheit ?
Und außerdem ist Opas Radio ja noch gar nicht tot …
Herzliche Grüße von Deinem Wanderer zwischen den Welten!
Helmut
&
Mein lieber Helmut,
Die interessierende Frage ist, ob Du ein bequemeres Leben hättest führen können, wenn Du etwas dämlicher wärst. Alles stimmt, was Du handgeschmiedet schreibst. Ist aber auch sperrig – bis zur Unerbittlichkeit.
Mein Kuchen gärt, aber er gart noch nicht. Nächste Woche schiebe ich ihn in den Ofen und wenn es ein besonders gelungener und ausgreifender Zukunftskuchen wird, dann schmeisse ich ihn wahrscheinlich weg. Danach erinnere ich mich, wer da in welcher Situation in Lublin vor mir sitzt – und finde einfach die für diese Situation richtigen Worte.
Es mag um noch so viel gehen, Entwicklungen spielt man besser auf der Hirtenflöte als auf dem Revolver.
Bin selber neugierig, was draus wird
und lasse von mir hören.
Leo
&
Lieber Leo,
jetzt aber ganz kurz !
Die polnischen Greenhorns sollen bloß die Sache (unsere Sache !) und sich selbst ernst nehmen. Dann finden sie ihren Weg. Beim Start würde ich sie gern auf der Fidel begleiten. Musste leider grade eine Jury-Teilnahme beim “DokKa”-Festival in Karlsruhe absagen, weil ich mich seit Januar mit einer gerissenen Plantarsehne im Fuß ‘rumplage. Humple aber tapfer hinter Euch her und hoffe, aus Lublin wieder einen Conference-Blog zu lesen !
Gute Reise !
Präferenz des Hörsinns
oder Raum für Geschichten
Aus einem anderen Mailwechsel (19. Mai 2015)
Lieber Michael,
Du hast Recht – ich rede immerzu vom Radio, vom Feature, von der Soundgattung und fürchte im Hintergrund, dass deren Tage gezählt sind. Ich selbst höre nur noch selten linear, shame on me. Selten dass es einen packt.
Schön, dass ich aus Deinen Worten mehr als Zweckoptimismus heraushöre. Meine liebe Großmuttel hat das bei jeder Gelegenheit so aufgesagt: “Hoffen und Harren / macht viele zum Narren / Aber Harren und Hoffen / hat auch schon getroffen !” Und damit ging ’s ihr gut.
Neue “hybride” Formate würden mich unbedingt reizen, wenn ’s in meinem Fall für den Umstieg auch etwas spät ist. Ich meine einen wirklichen, einen radikalen Umstieg. Keine halben Sachen. Vom noch existierenden Radiofeature auszugehen, um dieses mit Hilfe von Zutaten, Ausweitungen, Seitenästen zu “retten”, finde ich einen Irrweg.
Eine Hybrid-Form lässt dem ERLEBNIS, das mit (gutem) Sound doch immer verbunden ist, keinen Raum. Der Genuss kommt höchstens zustande, wie ihn Brecht als Begleitung jedes Nachdenkens beschrieben hat, also kognitiv. Alles okay –– kann auch sehr schön sein.
Ich bleibe, ohne multimediale Möglichkeiten zu verwerfen, persönlich lieber bei der Präferenz des Hörsinns – nicht zuletzt aus meiner erst jetzt so aufgeflammten Begeisterung für Musik und Musikmachen.
Insofern bin ich halt – verzeih’ mir ’s – konservativ.
Antwort (20. 5. 015)
my dear,
dein konservativismus ehrt dich. ich teile ihn. konservativ zu sein in dieser zeit ist kein verbrechen. im gegenteil. deshalb rauche ich pfeife und zigarre. (…)
der unterschied zwischen unserem „reinen“ radiomachen und allen gedachten oder gewünschten formen des hybriden besteht im wesentlichen darin, dass wir linear erzählen, und sei’s fragmentarisch. die hybridformen hingegen bewegen sich nicht auf einer linie, sondern in einem RAUM, und der benutzer dieser RÄUME entscheidet, wohin er blickt, wohin er hört. beim hybrid ist der RAUM DIE GESCHICHTE. was letztlich (und verwirrenderweise) bedeutet: es scheint nicht mehr darum zu gehen, eine geschichte zu erzählen, sondern einen raum für geschichten zu schaffen.
eigentlich doch auch ganz schön?