Sowjetunion Stereo – Eine Reise für Zuhörer
HR / SFB / BR 1988 – Dauer: 79:47
Sprecher/in: Warwara Petrowa und Hermann Treusch
TELEX der sowjetischen Auslands-Presseagentur APN Moskau an APN Berlin/West:
“Stellungnahme zu dem Projekt SOWJETUNION STEREO. Welche Kontakte und Gespräche werden gewünscht? Worin besteht das Thema dieser Radiosendung?
Wir bezweifeln, ob man solche weiten Reisen braucht, nur um Geräusche aufzunehmen, die auf der ganzen Welt ähnlich sind“
Aus einem illustrierten Arbeitsheft an Stelle des üblichen Exposés
Muss der O‑Ton übersetzt werden? Eine Stunde und länger unkommentierter Originalton aus der UdSSR – Russisch, Usbekisch, Kasachisch ––– geht das denn?
Lieder, Reden, Trinksprüche, Arbeitskommandos, Rundfunkdurchsagen, private Gesprächsfetzen (die Musik des gesprochenen Worts) ohne Übersetzung?
Mit Ausnahme von drei mehrzeiligen Texten, die das Auf und Ab der Künstlerbiographie Dmitri Schostakowitschs dokumentieren, nur äußerst kurze russisch/deutsche Zwischentitel?
Die Ähnlichkeit mit Stummfilmtiteln ist naheliegend und gewollt: Sie verknüpfen einzelne Bauteile der Komposition; geben die unerlässlichen Hinweise auf Ort und Zeit; sie sollen der akustischen Phantasie des Hörers eine ungefähre Richtung geben, aber nichts „erklären“.
Dieses Hörspiel ist die Behauptung: „Es geht!“
“Moskauer Zeit” – Aus der Partitur
Arbeitsnotizen / Selbstermahnungen
Konzentration (nicht „Beschränkung“) auf das Hörbare / Keine Klang-„Bilder“ / Soweit möglich, optische Erinnerungen an die Aufnahmesituation ausschalten / Höchstens unbestimmte, archetypische Bilder zulassen („Winter“, „Reisen“, „Orient“ etc.) / Einordnung des Einzelgeräuschs ergibt sich aus der Komposition / Assoziationen möglich machen, aber dem Hörer keine „Bedeutungen“ aufzwingen / Das Ohr darf sich nicht beim fernseh-gewohnten Auge anbiedern (…)
Ein Sowjetbürger sagte 1986 nach einem Konzert in der Leningrader Philharmonie:
Ich möchte über Schostakowitsch reden. Er hat mir nie sehr gefallen. Nehmen wir nur das Getöse seiner XII. Symphonie –na, ich bitte Sie!“ Diese brüllenden Akkorde. Partituren wie Schlachtpläne. Warum gehe ich trotzdem in dieses Konzert? Schostakowitsch ist einer von uns. Mein Bruder. Ich höre in seiner Musik alles, was bei uns geschehen ist und jetzt geschieht. Auch Zukunftstöne höre ich heraus.
Er hat alles komponiert: Metro und Kommunalwohnungen, Stalin, Tauwetterperioden, Langeweile und Enthusiasmus, Kampf und Krampf, das wütende Zähnezusammenbeissen, dieses Zuviel… Wir Russen übertreiben so gern: immer die viel zu großen Erwartungen, dieser Musterknabenstolz“. Wir sind die Meister die guten Vorsätze.
Andererseits: 70 Jahre SU – das waren keine Zeiten zum Ausruhen. Nie haben wir uns ausgeruht seit 1905…1917…Immer bis zum Platzen unter Dampf. Schostakowitsch hat lebenslang Dampfkesselmusik komponiert.
Pressetext
Drei Schläge der Kreml-Uhr dröhnen über den nächtlich leeren Roten Platz in Moskau. In Aschchabad und Tjumen ist es jetzt fünf Uhr, in Frunse sechs, in Nowosibirsk sieben, in Tschita neun, in Wladiwostok zehn und in Petropawlowsk auf Kamtschatka gerade 12 Uhr mittags.
Doch überall auf diesen 22 Millionen Quadratkilometern Sowjetunion (88 mal die Bundesrepublik) fahren Züge, fliegen Flugzeuge, melden sich die Rundfunksender in „Moskauer Zeit“.
MOSKOVSKAYA VREMYA ist der Pulsschlag einer Weltmacht, Zeittakt zentralisierter Verwaltung. MOSKOVSKAYA VREMYA dient auch als Einteilung der 71 Jahre Sowjetgeschichte in Eiszeiten und Tauwetterperioden, in optimistisch beschwingte und finstere Zeiträume, in Phasen des Aufschwungs und der Stagnation: Lenins, Stalins, Chruschtschows, Breschnews Zeitalter. Und wieder einmal schlägt den Sowjetbürgern eine „neue Zeit“ aus Moskau.
Seit 1982 hat der Funkautor Helmut Kopetzky auf sieben journalistischen Erkundungsreisen dieses „Sechstel der Erde“ mit Stereomikrophonen ab-gehört: den lärmenden 1.Mai-Aufzug am Roten Platz und die beschwipsten Morgenstunden des Neujahrstags mit ostsibirischen Eisenbahnarbeitern; die „weißen“ Leningrader Nächte, in denen die Jugend mit Gitarren und Kassettenrekordern um die Bastionen der Peter-Pauls-Festung schwärmt; die benebelnden Dreiklangwolken religiöser Gesänge im Kloster Sagorsk und das orientalische Tohuwabohu auf dem Marktplatz von Kokant/Usbekistan; die laute offizielle und die alltäglich-private, die leise und nachdenkliche UdSSR, ihren Sound.
Die Geräusche der Jetztzeit und Anklänge vergangener (aber keineswegs vergessener oder gar bewältigter) Zeitabschnitte durchdringen einander in dieser akustischen Komposition wie im „wirklichen“ sowjetischen Leben.