Beichte eines verlorenen Sohns.
Deutschlandfunk (2004).
Die Sendung entstand kurz vor der endgültigen Rückkehr (2005) in die osthessische Mittelstadt. Den Fuldaern gefiel sie nicht. Die gelbe Post brachte uns ein stark riechendes Zehn-Kilo-Paket voll Hühnerkacke „mit Grüßen der dankbaren Zuhörer“.
TEXTFRAGMENTE:
Autor / Erzähler Zurück aus der Großstadt — zum Altwerden. Viele Jahre war ich weg. Mein Gott ! Alle haben mich gewarnt. Nach Fulda? Bist Du krank?
(…)
Sprecherin Häuser von der Stange, Garagen-Würfel zwischen Obstbäumen. Haustüren aus dem Katalog.
Autor/Erzähler Viel Himmel — immerhin.
Sprecherin Wolken ziehen und Mauersegler schießen durch die Luft. Geruch von Apfelblüten.
(…)
Sprecherin Fulda ist eine Hochburg der Katholiken. Ein nördliches Rom. Weit über tausend Jahre hat die Herrschaft der Äbte und Fürstäbte gedauert. An den Hochfesten entfaltet sich hier immer noch der Pomp
der römisch-katholischen Weltkirche. Wuchtig dröhnend, imperial.
DOM-CHOR MIT BLÄSERBEGLEITUNG: “Singet dem Herrn ein neues Lied…” GLOCKEN / ORGEL
Autor / Erzähler Fronleichnam standen wir in Blöcken auf demDomplatz. Block der Nonnen, Block der Mönche. Frauen‑, Männer‑, Kinderblock. Aus den Bischofsgärten platzen Böllerschüsse. Und bei jedem BUMMM fuhren
wir zusammen. Wir — die kleinen Bräutigame, schwarz mit weißen Kniestrümpfen. Die Mädchen kleine weiße Bräute.
Dominus vobiscum — Et cum spiritu tuo ! — Pax domini sit semper vobiscum … Kyrie eleison … Kirchenlatein konnten wir im Schlaf.
Jeden Freitag war Beichte. Unabwendbar. Das heißt: Knien mit mageren Knabenbeinen auf dem unbarmherzig harten Holz. Hereingeschleppter Schotter knirscht im leeren Kirchenschiff. Füße scharren. Türen schlagen, Münzen klirren. Dochte knistern. Kerzen tränen. Und draußen scheint die Sonne!
Dann die beklemmende Stille des Beichtstuhls. Flüstern und Frösteln in diesem wurmstichigen Kasten mit dem Holzgitter, dahinter die schemenhafte Gestalt des Priesters in der Soutane. Die peinlichen Fragen. Auswendig gelernte Missetaten aus dem Katechismus, kleine pubertäre Ferkeleien. “Ich habe Unkeusches gerne gedacht … Ich habe Unkeusches gerne getan – allein, mit anderen … Meine Seele ist befleckt…”
Sprecherin “… Weil ich genascht und Böses gesprochen habe, brennt dein heiliger Mund vor Durst. Weil ich die Hand ausgestreckt habe zum Schlagen, sind deine heiligen Hände ans Kreuz geheftet. Weil ich unschamhaft gewesen bin, hängst du entblößt, mit blutigen Wunden bedeckt, am Kreuz … Ich habe verdient, lange im Fegefeuer oder gar ewig in der Hölle zu brennen…”
Autor / Erzähler “Ich bin der verlorene Sohn !”
Hastig abgespulte Reue. Dann Erleichterung. Bis zum nächsten Freitag.
(…)
Jeden Abend ertönt im Kloster auf dem Frauenberg der Vespergesang der Franziskaner. Und die Benediktinerinnen preisen den Herrn in der Klosterkirche St.Mariae mitten in der Stadt. Ut fiat voluntas illius in nobis — Dass sein Wille in uns geschehe. Regel des heiligen Benedikt.
Uns Kindern waren sie immer etwas unheimlich – die Mönche, wie von einem anderen Stern: das dunkelbraune Habit aus schwerem Stoff, der Strick um die Hüfte, die Rübezahlkapuze. Und so auch die schwarz-weißen Nonnen, von denen man so wenig sah, wenn sie vorüber huschten, Kopf gesenkt.
(…)
Autor / Erzähler An Samstagen wird unsere Siedlung gefegt. In den Häusern riecht es nach Spülmittel und Waschpulver. Man putzt feucht und gründlich.
Sprecherin Wäsche hängt man nie am Sonntag auf.
WISCH- UND WASCHGERÄUSCHE
Autor / Erzähler Kaum angekommen, und schon bin ich über alles informiert. Männer verlassen ihre Frauen, Frauen ihre Männer, Kinder schlagen aus der Art … wie überall. Aber hier ist alles vergrößert, es steht an den Wänden, man trägt es auf der Stirn, man ist nackt.
Sprecherin Die Hecke ragt in den Gehweg — abschneiden. “Bei X. brennt noch Licht !” — “Muß der nicht zur Arbeit ?” Die Prozession der Neugier zieht durch Gärten, Küchen, Schlafzimmer. Töpfe haben keine Deckel.
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Autor / Erzähler Nach dem Abitur zur “Schwarzen Tante”. So hieß die Zeitung im Volksmund, die “Fuldaer Zeitung” – ein christlich-konservatives Käseblatt damals. Ich war Volontär, also zuständig für alles.
Sprecherin Pkw rammt Moped, Rad prallt gegen Fußgänger, Prügelei nach Polterabend. Der jährliche Aprilscherz. Unwetter und Überschwemmungen. Der größte Kürbis. Die Fronleichnamsprozession. Der Karneval (jedes Jahr die Pappnase im Schubfach).
Autor/Erzähler Lokalredaktion – das ist das Leben “an sich”. In Fulda schwamm ich wie in schwabblig-eingedickter Sülze – the same procedure every year…
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Ja, ich habe gesündigt, Herr ! Mit 20 las ich James Joyce: “Hier ist kein Leben — keine Natürlichkeit oder Aufrichtigkeit”, schrieb der Ire als junger Mann über sein “dear dirty Dublin”, die “verfluchte Pfaffenstadt”, “Heimat der Scheinheiligen”. Ich hatte einen Komplizen!
Sprecherin “… Und reiste weg in ein fernes Land” … Gleichnis vom verlorenen Sohn, Lukas 15 / 7.
(…)
SUPERMARKT
Autor / Erzähler Diese Einkaufswut ! Der Großeinkauf ist die Leidenschaft meiner Fuldaer. Hier müssen riesige Familien wohnen, Clans, unglaublich hungrige Esser. Einkaufswagen überladen, Kofferräume schließen nur mit Nachdruck. Mein Blick streift erstaunliche Schenkel und Hüften. Auch die Stadt setzt an. Fulda geht in die Breite.
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Nie habe ich „meine“ Stadt intensiver durchstreift als in den Wochen nach der Heimkehr. In diesem ollen Jesuitenbau aus dem 16. Jahrhundert ging ich mal zur Schule. Wo jetzt das Kaufhaus steht, war unser Pausenhof, nur für Jungs natürlich, eine Art Schafspferch, in dem die verschüttete Schulspeisung herumschwamm, Nudeln mit Fleischfäden oder dicker Kakao mit bläulich schimmernder Haut. Und wenn es eine Scheibe Ananas gab — die kam in Dosen aus Amerika — war Feiertag.
Auch die Fuldaer Fürstäbte haben, wer weiß warum, goldene Ananasfrüchte auf ihre Dächer gepflanzt. Die glänzen in der Sonne.
Die Blütezeit der Stadt war im 18. Jahrhundert. Berühmte Architekten habe ihre Bauten hinterlassen — das Schloss, den Dom, die prächtigen Adelspalais. Fulda ist auch die „Barockstadt”. Überall heidnische Üppigkeit, Putten, Voluten, im Schlosspark die nackten Allegorien (“Der Frühling”, “Der Sommer”, “Die Jagd”), riesengroße runde, dralle Weiber, die uns Pubertierende verwirrten.
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Die Stadt sortiert sich … Massenartikel am Rand, auf der “grünen Wiese”. Luxus, Wellness, Lifestyle in der Innenstadt.
Sprecherin Fast alles, was das Globale Dorf zu bieten hat: das Freizeit- und Erlebniszentrum (Restaurant, acht Kinos, Pub und Varieté, Fitness-Center)…
INDOOR-CYCLING, VERFREMDET IM HINTERGRUND
… Tattoo und Piercing, Night-Clubs, Rotlicht, Sex-Shops, Indoor-Cycling…
Verkäuferin … Da würd’ ich vorschlagen eine Potenzpumpe zu verwenden Käufer Ne Pumpe ? Verkäuferin Ne Pumpe – dass die Erektion auch größer wird…
Sprecherin Ein Transparent wirbt für die “Kickbox-Gala” in der Richthalle. Im “Parkhotel” servieren Weihnachtsmänner auf Stelzen den Festtags-drink.
Autor / Erzähler Und – kaum zu glauben: Die Einheimischen sprechen um ein Drittel schneller als vor 50 Jahren!
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Sprecherin Diese Stadtrandsiedlung, gegründet und Jahrzehnte lang bewohnt von „Heimatvertriebenen“ („Heute benutze ich lieber das neutrale Wort „Deportierte“ – H. K. 2019), war nie eigentlich “Fulda”.
Breslauer , Danziger, Mährisch-Schönberger und Leitmeritzer Straße, Ordenslandweg. So steht es auf den Straßenschildern. Der Osten im Süden der Stadt.
Jetzt gibt es hier oben eine “Swiss-event-catering-Agentur”. Ein grie-chischer Gemüseladen — der Chef Iraner — hat gerade dichtgemacht. Stattdessen ist die deutsche Bäckerei nun ein türkischer Pizza-Laden, der frühere Besitzer backt als Angestellter Fladenbrote. Die nächstgele-genen Supermärkte heißen “Odessa” und “Anatolien”. Den Wohnblock gegenüber nennen die Nachbarn “Klein Moskau”. Erste Kopftücher sind aufgetaucht.
Autor / Erzähler Wir alle kommen ja aus dem Osten — die Sudeten-deutschen, die Türken, Russlanddeutsche. Und auch die Pendler – jeden Tag aus Thüringen.
HEIMATABEND
Autor / Erzähler Auch unsere Mütter trugen damals Kopftuch. Unser Supermarkt hieß “Zukunft mbH“ – „Zukunft mit beschränkter Haftung“. Nicht alle Fuldaer mochten uns. Wir waren die “Sudetengauner”, “Knoblauchesser” (noch nach 50 Jahren ist das hier die “Knoblauchsiedlung”).
Sprecherin Diese Leute waren keine Hinterwäldler. Viele zweisprachig und weitgereist: Österreich-Ungarn. Das mochten die “Hiesigen” nicht. In der Kleinstadt gilt die Traufhöhe.
Autor/Erzähler Und die “Hiesigen” kamen “Unsrigen” provinziell vor.
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Autor / Erzähler Nein – noch bin ich keiner von denen. Alles wie hinter Glas — Fische im Aquarium. Sie lachen, sie trinken, sie klopfen den Takt auf die Schenkel. Nachbars Kinder planschen im Gummi-Pool. Und der Rasen wird gestutzt wie ein Drei-Tage-Bart. Zu Anfang wurden die Straßenbäume nachts abgesägt.
Sie lassen ihre Blätter fallen!
Sprecherin Nun sind sie doch groß geworden und spenden ordentlich Schatten. Der kleine Laden vis-à-vis ist längst verschwunden. Auch die Postfiliale hat zugemacht. Abends zieht der Duft von Kaminholz durch die Siedlung.
Autor / Erzähler Sogar einen Mord hatten wir neulich !
PROGRAMM HR 2 Moderator Nach ersten Erkenntnissen hat wahrscheinlich der Verlobte die 22-Jährige in ihrer eigenen Wohnung erschossen. Anschließend versuchte sich der Mann selber das Leben zu nehmen. Dabei erlitt er lebensgefährliche Verletzungen. Motiv für die Tat soll Eifersucht sein — so die Staatsanwaltschaft in Fulda…
(…)
IN DER SIEDLUNG: SCHRITTE, STIMMEN / DAS RASSELN DER FENSTERLÄDEN / EIN RADFAHRER / HUNDEHECHELN
Autor/Erzähler Nun rasseln die Läden herunter. Die Siedlung verbarrikadiert sich. Durch ein paar Ritzen schimmert noch Leben – bläulich, flackernd. Den Spaziergänger mit seinem Hund begleitet jetzt das Knacken elektronischer Bewegungsmelder und das grelle Licht der Halogenscheinwerfer an den Hauswänden. Abendfrieden. Der verlorene Sohn ist wieder zurück.
Sprecherin “Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel um seinen Hals und küsste ihn (…) Bringt das gemästete Kalb, und lasst uns essen und fröhlich sein !
Denn ich sage euch: So ist mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte!”
Autor/Erzähler Lukas, 15 / 7.