… im Kontext unserer eigenen Erinnerungen. Aus meinem Beitrag für den SWR Docublog > Radioblog vom 18.02.2015.
Um es ein für allemal zu sagen: Als Sender wie Empfänger bestehe ich auf meinen subjektiven Wahrnehmungen, meiner Sicht der Dinge, meinen shades of life. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich traute, das Wort “Ich” ungeschützt anzuwenden, zumal im Feature, dem Radio-Format, das sich gern Begriffe wie “objektiv”, “investigativ”, “unbestechlich”, “unparteiisch” an den Hut steckt.
Das kam so: Jedes der sonntäglich live gesendeten, feature-ähnlichen Radiostücke des SFB-Jugendfunks, bei dem ich 1971 anfing (“Wir um Zwanzig”) hatte bis zu sechs Autor(inn)en. Es konnte sein, dass in rauchgeschwängerten nächtlichen Redaktions-Sitzungen Satz für Satz per Akklamation bestätigt werden musste. Wir verstanden uns als Kollektiv. “Ich” zu sagen verbot sich von selbst. Wir sagten “wir” und erklärten allen anderen die Welt (der Geist der 68er Revolte zog noch durch das Funkhaus).
Je ne regrette rien!
Doch nach und nach ging mir das Licht auf, dass unsere Ansichten und Wahrnehmungen “der Welt” nicht in jedem Fall kompatibel sein konnten. Die fortgesetzten Kompromisse ödeten mich an. Nachdenken über das “ICH” im vermeintlich “neutralen” Medium wurde mein Steckenpferd. Konvertiten sind die Schlimmsten!
Ich erzähle das so ausführlich, weil ich – auch beim Lesen einiger Doku- und Radioblogs – befürchte, dass durch die allgemeine Verfügbarkeit der Produktions- und Verbreitungsmedien und die Ausdehnung des Dampfradios ins Netz hinein eine neue Art “Kollektivismus” entsteht. Wenn alle “Ich” sagen & senden, meint am Ende niemand mehr sich selbst.
Zurück zu den Basics, den Tönen: Radio ist Sound ! Beim Erraten unkommentierter Geräusche – das habe ich selbst getestet – hören keine zwei von uns das gleiche, abgesehen vielleicht von archetypischen Schallereignissen: Big Ben, die tickende Uhr, historisches Schreibmaschinen-Geklapper, das auch auf der Liste der aussterbenden Geräusche steht; oder von Aufmerksamkeits- und Warnsignalen verschiedener Herkunft – Klängen, die so einfach sind wie Piktogramme – hier for Ladies, dort for Gentlemen.
Komplexe Geräusche brauchen Kontext. Der wichtigste Kontext sind unsere eigenen Erinnerungen. Was ich nie zuvor gehört habe – das Unerhörte – bleibt rätselhaft. Hören ist erinnern und vergleichen. Unser Gehirn ist Projektionsfläche akustischer Wahrnehmungen. Es – das Gehirn – googelt als Suchmaschine nach Bedeutungen und gleicht das Gehörte mit unserem Erinnerungs-Archiv ab. Impulse werden dechiffriert und mit erinnerten Sinneseindrücken verglichen. Im auditorischen Cortex, im “Hörzentrum” also, entsteht aus dem originalen Schallereignis eine individuelle Kopie. Was ich Mikrosekunden später tatsächlich “höre”, ist bereits meine Version. Das Original war kaum mehr als ein Rohling, ein Muster. Je komplexer und reizintensiver das Muster, um so vielfältiger und “farbiger” die persönliche Kopie.
Ein berühmtes Beispiel für diese zerebrale “Verschaltung” stammt aus Marcel Prousts Hauptwerk “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”. Auslöser in diesem Fall sind Les Petites Madeleines, muschelförmige Törtchen aus sogenanntem Sandteig:
In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. (…) Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray (…) meine Tante Leonie anbot, nachdem sie es in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte
Der Geschmack des Törtchens zum Tee ist in der Lage, “das unermessliche Gebäude der Erinnerung zu tragen”. Der Ich-Erzähler assoziiert:
… Das graue Haus mit seiner Straßenfront (…) und mit dem Haus die Stadt, vom Morgen bis zum Abend und bei jeder Witterung; den Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte; die Straßen, in denen ich Einkäufe machte; die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war (…); alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung. All das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg aus meiner Tasse Tee …
Mein Getränk der Erinnerung ist der heiße, kräftig gesüßte marokkanische Pfefferminztee aus dem Jahr 1961, als ich ein Jahr nach dem Erdbeben von Agadir (15 000 Tote) als Freiwilliger des Internationalen Zivildienstes dort einen Kindergarten bauen half. In jeder Mittagspause kam der Tee in großen Kannen. Kaum fließt das sprudelnde Wasser heute über die Minzeblätter, steigen aus der Kanne Bilder, die in 50 Jahren nicht verblasst sind: weiße Mauern; nackte Füße auf staubigen zerfurchten Wegen; der kleine Hafen am Stadtrand; dösende Fischer; abends die dicken Backen der Flötenspieler in einem halb-zerstörten Kulturhaus. Für meinen Namensvetter Steffen Kopetzky (“Marokko — Tagebuch einer Reise” 2006) gehört der “im Beutel verabreichte” Pfefferminztee hingegen “ganz und gar der Sphäre der Erkältung und des nasskalten Unbehagens” an. Daran, dass jede der genannten Kopien anders ausfällt, scheitert häufig der Versuch, mit Tönen mehr zu sagen, als mit Wörtern. “Lieder ohne Worte” zehren meist von ihren Titeln, von der Sprache also. Ohne Sprachprothesen bleiben auch Geräusche vieldeutig, ambivalent. Und missverständlich.
Als Radiomacher habe ich das oft erlebt. 1988 versuche ich für hr2 das weithin unbekannte Territorium der UdSSR akustisch abzubilden. Als Radiohörer haben wir uns daran gewöhnt, die Sowjetunion als Endlosschleife marschierender Stiefel-Kolonnen und knirschender Panzerketten auf dem Pflaster des Roten Platzes wahrzunehmen. Ich möchte mit Hilfe dokumentarischer Tonaufnahmen auch den Subton der Veränderungen hörbar machen, die sich östlich des Eisernen Vorhangs vollziehen. Ich greife also “in die Geräuschkiste”, lasse Lastwagen starten, Baumaschinen werden angeworfen, Dampframmen und Presslufthämmer setzen ein – akustische Metaphern für “Appell” und “Aufbruch”. Und damit untermale ich eine Radioansprache des Generalsekretärs Michail Gorbatschow über sein Lieblingsthema “Perestroika”, Umwandlung. Nach einer Vorführung des akustischen Hörspiels in der West-Berliner “Galerie am Chamisso-Platz” meldet sich einer zu Wort und lobt den “Einfall mit den Panzerketten”. Diesen Russen, sagt er, sei “bekanntlich nicht zu trauen”. Da haben wir’s! Beim Stichwort “UdSSR” denkt der Mann reflexhaft an das “Reich des Bösen”. Als einziger in dieser Runde hört er Panzer, wo doch Lastwagen rollen. Weil: Wir hören, was wir denken. Für die Vermittlung des Gehörten muss ich mir als Radioautor allerdings Zeit nehmen, und den Hörern muss ich für die Rezeption, das Nach-Hören, wiederum Zeit geben.
So verbietet sich der allzu häufige Gebrauch einer montage rapide, die sich der Radiopionier Alfred Braun vom Film abgucken wollte. Ganz ohne das Medium der Sprache, wie gesagt, wird mein Atmofilm im documentary selten auskommen. Wie könnten meine Zuhörer sonst erfahren, dass der Sänger und Ziehharmonika-Spieler auf dem zentralen Marktplatz von Tallin (Estland) ein ehemaliger sowjetischer Offizier in Uniform ist – vor ein paar Jahren noch respektiert, wenn nicht gefürchtet. Und jetzt schlägt er sich als Straßenmusikant durchs Leben. “Ein Tag in Europa” am 28. Februar 1999, ebenfalls in hr2, dauerte von acht Uhr morgens bis Mitternacht und war eine Miniaturen-Sammlung aus den Klängen, Geräuschen, der Musik und den (unübersetzten!) Sprachen und Dialekten des Kontinents – mal drei, mal sieben, mal zwölf Minuten lang; das Ergebnis einer halbjährigen Autofahrt, 41000 Kilometer mit Heidrun durch 32 Länder – senderfinanziert (Das waren noch Zeiten!)
Auch hier genügten zweizeilige Moderationstexte (Wer? Was ? Wo?), um die Hörerphantasie auszulösen. Aus einem Interview mit mir selbst:
? Herr Kopetzky — beschreiben Sie ihre Vorgehensweise!
Sechsmonatiges Driften mit offenen Ohren. Immer auf Empfang, der Rekorder als Audio-Sofortbildkamera.
? Aber ist das nicht allzu … privat. Wo bleibt das Exemplarische?
Ich denke mir das so: Indem ich ein Hör-Phänomen (Stimmen, Geräusche, Musik) aus der Klangumwelt heraus-isoliere, erhält das zufällig Gehörte, Belauschte auf einmal Bedeutung. In den besten Momenten wird es sogar exemplarisch.
Es wäre arrogant, den Hörern weiszumachen, so oder so klinge (oder gar: so sei) ein bestimmter Ort in Europa. So kann auch die Auswahl der Klangereignisse für diesen Radiotag nicht „ausgewogen“, „repräsentativ“, im Sinn abstrakter Erbsenzählerei „richtig“ sein. “Ein Tag in Europa” ist der Gesamteindruck einer langen, sehr persönlichen Expedition; keine Bestandaufnahme, keine akustische Kartografie, nichts für die Abteilung „Dokumentation“. Der Zufall ist ein verlässlicher Begleiter (Aber der Zufall — sagte der Naturwissenschaftler Louis Pasteur — “trifft nur den vorbereiteten Geist”).
? Also mal praktisch … Sie kommen in eine fremde Umgebung – und dann?
Lauschen ! Ich richte mein „Hörrohr“ auf die noch unbekannte Stadt und entdecke (es ist Mittagszeit), dass die Einwohner Käfige mit Singvögeln auf die Balkone gestellt haben. Das ist anders, als in meiner Berliner Straße. Und es klingt wunderschön. Da ich gewöhnlich im Stadtzentrum, in einer Hauptstraße, lande, wird mich natürlich der Verkehrslärm stören. Die Sittiche können mit dem Krach nicht mithalten. Ich wandere also etwas herum. Es gibt ja auch Seitenstraßen…
? Sie manipulieren den Verkehrslärm einfach weg?
Ja, mein Gott — würden Sie gern 16 Stunden lang nur Straße hören.
? Herr Kopetzky, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!