Nachkriegskinder auf der Couch
RBB + MDR / RB / SR / WDR 2006 – Dauer: 50:51
Erzähler: Tom Vogt und der Autor
PRESSETEXT:
Der Zweite Weltkrieg hinterließ in Deutschland zweieinhalb Millionen Halbwaisen, in ganz Europa 20 Millionen. Fast ein Drittel aller Männer, die zwischen 1933 und 45 geboren wurden, starteten vaterlos ins Leben — oft im Schatten einer übermächtigen “tapferen Kriegerwitwe”. Auf jeweils 170 Frauen im heiratsfähigen Alter kamen 1946 nur 100 Männer.
Auch die Mutter des Autors erlebte den totalen Zusammenbruch: In Russland fiel ihr erster und ihr zweiter Mann; mit ihrem fünfjährigen Kind wurde sie im Viehwaggon 1946 aus dem früheren “Sudetenland” in das besiegte, frierende, zerbombte “Reich” abgeschoben. Die Frau, die in der mährischen Provinzstadt Everybody’s Darling war – bewunderte Eisprinzessin, Angehörige der deutschen Oberschicht – war in der neuen Heimat fremd und unerwünscht. Sie legte sich einen Körperpanzer zu, die Fassade musste gewahrt werden. Mit 14 Jahren wurde der Sohn mit Bügelfaltenhose und Beamten-Hut zum Ersatzgatten gestylt – “seht her, mein Mann ist nicht umsonst gefallen !” Seine Fantasie-Väter hießen Kirk Douglas und Jean Gabin.
65-jährig besucht er jetzt einen Kriegskinder-Kongress und trifft dort 700 “krumme weißhaarige Greise, andere noch aufrecht, tapfer durchgedrücktes Kreuz” – seine Jahrgänge. Mit einem Schulfreund (er ist Psychotherapeut geworden) versucht der Autor in das Kellergeschoss der eigenen beschädigten Biographie einzusteigen. Radikal ziehen sie Bilanz einer konfliktreichen Mutter-Sohn-Beziehung und entdecken zugleich ein Generations-Schicksal: die lebenslange Nachkriegszeit der Gleichaltrigen mit ihren nie ganz weggeräumten Trümmerbergen.
➤MANUSKRIPTE / PRESSE
Aus dem rbb-Programmheft “Kulturradio” 5 / 2006:
Mein Vater starb mit 26 an der Ostfront. Er hatte keine Zeit gehabt, ein “richtiger Vater” zu werden. Meine Mutter hauchte 93-jährig ihr künstlich beatmetes Leben aus (…)
Für das elf Monate alte Krabbelkind war der Vater auf Heimaturlaub ein fremder Mann in Uniform. Die Mutter blieb zeitlebens hinter ihrem Gefühlspanzer verborgen, den sie als doppelte Kriegerwitwe angelegt hatte. Denn nach der “Kriegsheirat” 1944 verschwand auch ihr zweiter Mann “an der Spitze seiner Einheit” in den Trümmern von Sewastopol auf der Krim. Ich kenne beide Männer nur von Fotos.
Die Hinterbliebene, damals 33 Jahre alt, mühte sich, Vater und Mutter zu sein. Ich ersetzte ihr wie ein schlechter Schauspieler den Gatten. Mit 14 trug ich sonntags Hüte, und wir promenierten Arm in Arm durch die Kleinstadt:
Wir Vaterlosen – zweieinhalb Millionen nur in Deutschland – wuchsen in einem Mutterland auf. Und wir übernahmen die Zähigkeit, aber auch die Härte unserer allein erziehenden Mütter. Sie vermachten uns den Zorn auf alte und neue War-Lords, die unreife Männer in Kriegen verheizen und junge Witwen in “Eiserne Ladies” verwandeln.