Nachkriegskinder auf der Couch
RBB + MDR / RB / SR / WDR 2006 (50:51)
Erzähler = STUDIO-AUFNAHME
Der Sohn = STUDIO-AUFNAHME
AUTOR und andere Stimmen = ORIGINALTON
AUS DEM MANUSKRIPT:
♫ = VIOLIN-IMPROVISATION (ALS FORTLAUFENDER TEPPICH ODER KURZER BREAK)
Erzähler Mit acht bekam er eine Geige … ♫ (SPIELT) Mutter kaufte ihm auch Noten: “Die Lustige Witwe” von Franz Léhar. Auf dem Titel ein Pin-up Girl aus den Dreißigern. Unter dem Satinkleid war ihr Körper nackt.
Der Sohn Ich könnte sie jetzt noch genau beschreiben.
Erzähler Ein Menschenleben ist das her. Er kratzte auf der Geige, und die Mutter hat gesungen.
Der Sohn “Vilja, o Vilja / Du Waldmägdelein”.
Erzähler Wie in ihrer Jugend.
Der Sohn Bill Haley gründete gerade seine “Comets” …
“WATCHA GONNA DO” (BILL HALEY AND HIS COMETS)
ANSAGE Männer im Mutterland. Nachkriegskinder auf der Couch.
Ein Feature von Helmut Kopetzky.
AUSSEN-ATMO (EIN GARTEN)
AUTOR (ORIGINALTON) Erzähl’ doch mal von meiner Mutter – du hast sie doch noch irgendwie in Erinnerung. Sie war ja ’n bisschen ’ne auffallende Person …
EGON H. Ich fand, dass sie ’ne schöne Frau war. Und ich hab sie als sehr herzliche Frau … Ich bin ja doch nicht so oft bei euch zu Hause gewesen, aber wenn ich da war – das war das, was ich in Flüchtlingsfamilien kennen gelernt hab… Bei euch roch es immer gut. Es gab immer gutes Essen …
AUTOR Oh ja ! Ich wurde mit Liebe erdrückt …
EGON H. Ich hab’ dich nie schimpfen gehört über deine Mutter.
Erzähler Egon H. ist Psychotherapeut. Ein Schulfreund seit der ersten Klasse, 1947.
EGON H. Ich hab deine Mutter ja unter einem unglaublichen Anpassungsdruck erlebt. Ich denk noch an dein Geigenspiel, wo sie im Grund dir einen Rahmen geben wollte, dass du das durftest – aber ja net auffallen ! Und da war das Klo der einzige Platz, wo du Helmut Zacharias spielen durftest.
DER SOHN Franz Léhar musste ich mit ihr zusammen spielen …
EGON H. Das durftest du im Wohnzimmer …
♫ DAS VILJA-MOTIV
Erzähler Russland 1941.
OKW-FANFARE / LIED: “VORWÄRTS, VORWÄRTS”
SPRECHER Der deutsche Vormarsch geht unaufhaltsam weiter. Die gewaltige Angriffsfront der bolschewistischen Streitkräfte ist durchstoßen und zersplittert. Der deutsche Soldat hat sich schon jetzt im Kampf gegen den bolschewistischen Weltfeind unvergessliche Verdienste um die Rettung Europas erworben …
DARAUF:
Erzähler … Minsk … Borissow … der Dnjepr bei Orscha … Kämpfe im Raum Smolensk … Mglin … Noch 250 Kilometer bis Moskau … Auch sein Vater war im großen grauen Rudel, Sommer ’41. Starb schon in der fünften Woche. Er war 26, der Sohn elf Monate.
DIE MUTTER Du bist ja im Krieg auf die Welt gekommen – 4. 9. 1940. Du hast ihn nicht gekannt, und er hat dich nicht gekannt … Du warst ja im Körbchen, als Säugling. Du warst ja ein Säugling ! Du hast ihn doch nie kennen gelernt !
“DIE LUSTIGE WITWE” (OUVERTURE) / DARAUF:
Erzähler Familienalbum. Sein Vater mit Stahlhelm. Auf der rechten Brustseite der Adler mit dem Hakenkreuz im Schnabel. Am Halsband das Eiserne Kreuz. Siegerlachen in die Kamera.
Der Sohn Sieht so schrecklich jung aus.
DIE MUTTER Er war ja eine Schönheit, dein Vater ! Groß und wunderschön ! Die Haare hast du ja auch von ihm ! Kräftige schöne Haare … Keine Glatz’ und kein nix (LACHT)
Erzähler Stolz lädt der Vater seine P 38 durch … Reitet auf der Vierlingsflak wie auf einem Mustang. Auf, nach Moskau !
DIE MUTTER Er wollte das Eiserne Kreuz. Und darauf hin hat er sich gemeldet zur Flugabwehr. Und dort hat ihn ein Flugzeug erschossen, von oben runter.
GROSSE HALLE / STIMMENGEWIRR
Erzähler Gegenwart. Im Casino des früheren IG-Farben-Konzerns in Frankfurt am Main, jetzt Goethe-Universität, findet ein Kongress der Kriegs- und Nachkriegskinder statt. Fast 700 sind versammelt, krumme weißhaarige Greise; andere noch aufrecht, tapfer durchgedrücktes Kreuz.
Der Sohn Meine Jahrgänge !
Erzähler Da liegen sie nun also auf der Couch, die Seelen aufgeklappt. Und zwei Dutzend Koryphäen, Schriftsteller, Historiker, Psychoanalytiker der ersten Garde diagnostizieren:
VORTRÄGE / DIE STIMMEN ÜBERLAPPEN LEICHT:
… Disregulationen im Affektbereich, regressive Zustände, Störungen im Schlaf … Aggressive Ausbrüche … Suizid-Versuche … Nächtliche schwere Albträume … Drogenmissbrauch … Delinquenz … Zunehmende Rückzüge aus Beziehungen … Traurigkeit … Affekteinschränkung … Psychogene Amnesie … Vermindertes Interesse … Gefühle von Distanziertheit sowie eingeschränkte Affekte und eine Vermeidung von Nähe …
Erzähler Und sie waren doch ihr Leben lang ganz unauffällig, diese Alten. Und zufrieden. Und erfolgreich. Keine Lost Generation wie die Hemingways, die Fitzgeralds und Remarques und Huxleys. Makellose Karrieren. Keine Spiele, keine Albernheiten. Man ist nicht zum Vergnügen auf der Welt !
Von ihrem Nachkrieg reden sie mit einem Lächeln. Wenn sie reden.
♫ (FRAGMENTE) / DARAUF:
Der Sohn lebt wie auf dünnem Eis. Jeden Augenblick kann er einbrechen. Er sammelt Kabel, alte Schauben, Draht Scharniere, Lüsterklemmen, Rollen, Rädchen, Federn … Wie sein Großvater, der Hamster, nach dem Weltkrieg.
Er fürchtet sich vor hohem Gras. Da lagen Blindgänger.
♫ WEG
Man wirft kein Brot weg. Und: “Wir essen unseren Teller leer !”
Manchmal möchte er sich selber in den Arm nehmen.
DR. MATTHIAS FRANZ … Wir haben beispielsweise in der Mannheimer Kohortenstudie vor wenigen Jahren noch das kriegsbedingte millionenfache Fehlen der Väter als einen bis heute wirksamen Risikofaktor mit bleibenden negativen Langzeitauswirkungen für die gesundheitliche Entwicklung der Kriegskinder identifizieren können.
Erzähler Zum ersten Mal hat der Sohn ein solches Wir-Gefühl, mit seinen Macken und Komplexen ist er nicht allein. Er ist Teil einer “Kohorte”, einer Peergroup, wahrgenommen von der Wissenschaft.
PROF. DR. HARTMUT RADEBOLD Wir schätzen, dass es in Deutschland 2,5 Millionen Halbwaisen gegeben hat — und in ganz Europa 20 Millionen.
♫ (AKZENT)
DIE MUTTER Ich hatte eine wunder-wunderschöne Jugend und eine sehr, sehr schöne Kindheit mit meinen Eltern.
“DIE LUSTIGE WITWE” (OUVERTURE) / DARAUF:
DIE MUTTER Wie im Märchen haben wir gelebt in unserem Haus.
Erzähler Ein Bild der Mutter, 1932. “Frauenfachschule”. Der Gesamt-eindruck ist blond – eine eher kalte Schönheit … Weiter: ALBUM-BLÄTTERN “Auf dem Eisplatz”. Schwarzes Kleid mit Pelzbesatz.
Der Sohn Fabelhafte Beine !
Erzähler … sagt der Sohn.
Der Sohn Mamma mia !
DIE MUTTER Ich war Eiskunstläuferin. Wir haben jeden Abend trainiert.
Erzähler An der Bande aufgestützt: der Mann, der ihn dann gezeugt hat, ein paar Jahre später.
DIE MUTTER Immer stand der da ! Ich war ja damals Zwanzig. Und ich war so ein hübsches fröhliches Ding. Ich war überall beliebt … Die Leut’ haben uns ja immer nachgeguckt. Ich hab ja auch immer schöne Kleider gekriegt … Und wir haben ja äußerlich sehr gut zusammengepasst ! Weil wir zwei schöne Menschen waren ! Wir waren berühmt als schönes Paar !
DOKUMENT: KUNDGEBUNG IM “SUDETENLAND” ENDE DER 30er JAHRE / HEILRUFE
Erzähler Sie waren eine Minderheit, die Sudetendeutschen, in der früheren Tschechoslowakei. Doch in manchen Orten hatten sie das Sagen, auch in Schönberg, wo der Sohn im ersten Kriegsjahr auf die Welt kam.
KONRAD HENLEIN, FÜHRER DER SUDETENDEUTSCHEN HEIMATFRONT, BELLT IM HINTERGRUND: “… unsere sudetendeutsche Heimat Teil des Reichs geworden !”
Erzähler Tausend Tschechen, 15 000 Deutsche. Allmählich wurde diese Übermacht erdrückend. Allenthalben deutsche Dirndl, deutsche weiße Kniestrümpfe. Sonnwendfeuer, Aufmärsche.
KONRAD HENLEIN: “Adolf Hitler – Sieg heil !” / DIE MASSE: “Sieg heil ! Sieg heil !”
Erzähler Die Gestapo folterte in ihrem Hauptquartier Oppositionelle, gegenüber ging die Jugend nichtsahnend ins Kino.
Der Sohn Auch ihr beiden, das “berühmte Paar” …
DIE MUTTER Ich war ja damals Zwanzig. Und er sagte, er ist auch Zwanzig. Und dabei war er erst Achtzehn. Und gar nicht lang … “Ich will dich heiraten ! Ich will dich heiraten !” Und hatt’ keinen Pfennig in der Tasch’ !
DER SOHN Als Junior-Chef …
DIE MUTTER Ja, ja ! Das war das größte Pelzgeschäft in Schönberg und der ganzen Umgebung. In Schönberg dachten ja alle, die sind Millionäre !
Der Sohn Das war dein erster großer Irrtum !
DIE MUTTER Und er hat sich gar nicht gekümmert um Geld – so wie Du !
DER SOHN Gefallen hat er dir schon …
DIE MUTTER Ja sicher !
DER SOHN In diesen besseren Kreisen – das waren eigentlich alles
nur Deutsche …
DIE MUTTER Nur Deutsche.
DER SOHN Da waren überhaupt keine Tschechen ?
DIE MUTTER Nein. Und dein Vater: “Hitler ! Hitler !”
DER SOHN War mein Vater so begeistert für Hitler ?
DIE MUTTER Ja … No, die haben ja da jeden gebraucht. Das war schon zur Vorbereitung für ’n Krieg ! Abenteuer … Ja, ja …
DER SOHN Sehr lang habt ihr nicht zusammen gelebt, ihr beiden – als Ehepaar.
DIE MUTTER Nein, nein …
DER SOHN Wie war denn das für dich, als er weg war dann plötzlich ?
DIE MUTTER Es war keine Liebe mehr ! Gar keine ! Nee … Wenn man einer Frau so was antut.
DER SOHN Du sagst, er hat dich betrogen, gleich nach der Hochzeit.
DIE MUTTER Jaja – so war er ! Da war nix mehr – ne, ne !
DER SOHN Du mit dem Kind allein zu Hause …
DIE MUTTER … Und die ganze Schwangerschaft allein … Immer alles allein ! Mein ganzes Leben ! Es wär’ nie gegangen mit uns. Naja …
DER SOHN Und dann ist ja bald der Krieg losgegangen …
DIE MUTTER Dann ist er ja gleich eingezogen … Aber er hat ’s gespürt ! Zu meiner Mutter hat er gesagt: Du wirst sehen, ich komm nicht mehr zurück !
Das hat er gespürt. Jaja !
♫ / DARAUF:
Erzähler “Sehr geehrte Frau Kopetzky … fällt mir schwer, mitzuteilen … in den Kopf getroffen … Heldentod … Die Batterie verliert in Ihrem Gatten …”
(…)
OKW-FANFARE / RADIOSPRECHER: In entschlossener Ausnützung unseres Sieges auf der Krim wird die Verfolgung des geschlagenen Gegners schwungvoll fortgesetzt. Deutsche und rumänische Truppen haben gestern Sinferopol, die Hauptstadt der Krim, genommen und befinden sich im weiteren Vorgehen auf Sewastopol …
Erzähler “Krim 1944”. Auf Silber eingraviert die Umrisse der Halbinsel im Schwarzen Meer. Fremdes Land, als Schmuck zu tragen – der Ring eines deutschen Kompanieführers …
Der Sohn Mein Vater Nummer zwei.
Erzähler Eine Kriegsheirat.
DIE MUTTER Da war ich verliebt ! Das war ja meine erste große Liebe – mein zweiter Mann ! Wir haben uns 15 Jahre nicht gesehen ! Nichts von einander gewusst, gar nichts ! Da warst Du drei Jahre … Hab ich von keinem Mann mehr was wollen wissen … Och, angeklopft haben ja so viele. Ich war ja eine junge hübsche Frau ! Und der ist doch grad nur hergekommen, neue Offiziersstiefel kaufen, in das Schuhgeschäft – wo ich denke, ich muss mit dir Schuhchen kaufen vormittags ! Und geh in das selbe Geschäft, zur selben Zeit – wenn ich wär’ eine Viertelstunde später gekommen, hätten wir uns im Leben nie mehr gesehen !
ALBUM-BLÄTTERN
Der Sohn Schwer zu sagen, ob er ein markanter Mann war — oder nur Mittelmaß. Die Uniform macht Männer unkenntlich.
Erzähler Ein älteres Bild: Studenten.
Der Sohn Mein Stiefvater als “Fuchsmajor” in vollem Wichs: Schärpe, Degen, schräge Tellermütze, weiße Hosen in die Stulpenstiefel reingezwängt. Man nannte das wohl “stramm”.
“DIE LUSTIGE WITWE”, OUVERTURE, IM HINTERGRUND
DIE MUTTER Da steht ein Offizier in Gala – er war ja immer sehr … ah ja ! Den kenn’ ich doch ! Und während ich so denk’, dreht er sich um: Ach, Gretel, komm – wir gehen raus ! Fragt er, wo mein Mann ist. Und ich sag: Ich bin ja Witwe – mein Mann ist gefallen. Und da haben seine Augen schon geleuchtet: “Ich bin noch ledig !” Siehst du ! Und das war d e r Mann für mich ! Er hat ja viel Geld in die Ehe gebracht. Wir wollten sofort nach dem Krieg bauen. Und er wollte dich ja sofort adoptieren.
Erzähler “Wie herzig”, schrieb er später aus dem Feld, “dass der Kleine schon das Ärmchen stolz zum deutschen Gruß hebt !”
DER SOHN Mit dem Zusammenleben ist es ja auch wieder nix geworden …
DIE MUTTER Auch wieder nix. Zweimal noch Urlaub – und …
REPORTAGE VOM KÖLNER BAHNHOF / RUNDFUNK-REPORTER:
Heute am Heiligen Abend – da muss er kommen ! Das kleine Mädchen, das nur ein paar Schritt hier von mir entfernt steht bei seiner Mutter – vier, fünf Jahre alt mag sie sein – Es kennt seinen Vater noch nicht einmal. Es kennt ihn nur vom Bild … Und der Zug – der Zug, der aus Russland die Heimkehrer zurückbringt, läuft auf Bahnsteig 1 am Heilig Abend in Köln ein …
BAHNBEAMTER Warten Sie bitte, bis der Zug hält !
REPORTER Und da lässt sich schon der Jubel, das Rufen nicht mehr zurück- halten. Die Heimkehrer haben die Fenster der Abteile aufgemacht. Sie winken. Und nun fängt das große Suchen an. RUFE, GLÜCKLICHES GELÄCHTER
DIE MUTTER Ich hab immer gehofft ! Ich hab immer gehofft und gehofft – bis der Adenauer dann gesagt hat: Jetzt kommt keiner mehr.
Erzähler Der Vater und der Stiefvater: fürs Vaterland gefallen. Von jetzt an lebt der Sohn im Mutterland.
DIE MUTTER Ich hab immer gesagt: Mir sollen sie alles nehmen – wenn mir nur mein Kind bleibt. Das hab ich immer gesagt ! Du hast mich sehr, sehr viel rausgerissen aus diesem furchtbaren Elend !
“DIE LUSTIGE WITWE”, DAS VILJA-LIED (ELISABETH SCHWARZKOPF)
Der Sohn ZITIERT …Und ein nie gekannter Schauder fasst’ den jungen Jägersmann / Sehnsuchtsvoll fing er still zu seufzen an / Vilja, o Vilja,
du Waldmägdelein …
E. SCHWARZKOPF Vilja, o Vilja, was tust du mir an (…)
Erzähler “Die Lustige Witwe” von Franz Léhar – Adolf Hitlers Lieblings-Operette.
DIE MUTTER Der Krieg – der Krieg hat mich ruiniert !
DER SOHN Aber es hat ja alles einen Anfang gehabt mal …
DIE MUTTER Ja natürlich, natürlich ! Der Hitler hat das gemacht ! Also das geht mir nicht in den Kopf ! Der war doch ein ganz gewöhnlicher – Trottel !
Und die ganzen deutschen hohen Generäle – haben die das nie erkannt ? Haben mitgemacht !
DER SOHN … Und die meisten Sudetendeutschen natürlich auch – mit dieser Heim-ins-Reich-Parole …
DIE MUTTER Ja … Der hatte ein großes Maul. Und das konnte er einsetzen, dass die Menschen das geglaubt haben.
DER SOHN Auf der einen Seite habt ihr den Hitler für ’n Psychopathen und
einen Idioten gehalten …
DIE MUTTER Das sag ich ja jetzt !
DER SOHN … Die sind ja mit den Nazi-Abzeichen ins Feld gezogen, damals …
DIE MUTTER Nein, nein, nein … Wir haben weiter gelebt wie normal ! Und wenn man in der Straße wo war, hat ’s nur immer geheißen: Achtung ! Feind hört mit ! Da hat niemand sich getraut, überhaupt was zu reden ! Ja, woher sollten wir denn wissen, was dieser Hitler gemacht hat ?
(…)
Erzähler 1946 im August.
DIE MUTTER … Und dann, eines Tages … Eines Tages kommen drei Tschechen mit Gewehr, haben geschellt und mir aufgemacht – und haben sie nur geschrieen: Raus ! Alles andere bleibt drin ! Raus ! … Vorm Hitler haben wir mit denen doch gelebt, anständig gelebt ! Ich konnte ja sehr gut Tschechisch … Wir haben den Tschechen doch nix getan ! Gar nix !
Da haben sie uns nur ganz kurze Zeit – was man so Kleider und was man tragen konnte … Und nicht gesagt, wohin … Und da lagen wir da ! Und hatten kein Dach mehr überm Kopf. Du warst damals noch nicht mal Fünfeinhalb. Und mein Vater ist zusammengebrochen. Der hat bitterlich geweint – das erste Mal in meinem Leben hab ich meinen Vater weinen sehen. Und die Mutter hat dann nur erbrochen, erbrochen. Und da sind wir halt wie arme Sünder weg von unserem eigenen Haus.
Erzähler “Heim ins Reich“.
(…)
Erzähler Ausgebrannte Züge auf dem Bahnhof. Flackerlicht und Stromausfall. Der Lampenschirm aus Packpapier. Der kalte Winter in der Dachkammer. Dauernd Streit mit ihren alten Eltern.
Der Sohn Und immer wegen mir: Dem Kind fehlt eine starke Hand !
AMERIKANISCHE ARMEE-KAPELLE PARADIERT / DARAUF:
Erzähler Deportiert in ein besiegtes Land …
DER SOHN Das war ja auch erniedrigend … In Schönberg gehörte man zu der Oberschicht, zu den “besseren Leuten”, und hier war man plötzlich ein Dreck!
DIE MUTTER Jaja – ich die stolze Gretel, wie ich war … Ach, du lieber Gott, ich war doch stolz ! Das hat wehgetan …
Erzähler Neun Jahre wartet die Mutter auf ihren vermissten Mann. Dann lässt sie ihn für tot erklären.
DIE MUTTER Wir mussten das ! Weil wir sonst überhaupt keine Pension gekriegt hätten.
Der Sohn Das war dein Stalingrad. Die Stunde Null. Zusammenbruch.
Den ersten Mann verloren und den zweiten, die Heimat, das Haus, den Status. Eine niederschmetternde Bilanz !
Erzähler Die Mutter kapituliert. Später wird sie lange krank, sehr krank sein.
DIE MUTTER Ich bin ja auf die Felder, wo sie schon Kartoffeln abgeerntet hatten – bin ich nachhacken gegangen, und hab ein paar Kartoffeln … Die Familie musste ja ernährt werden, wir hatten ja nix. Bei einem Bauern hab ich gesagt, ob sie mir könnten ein Ei verkaufen für mein Kind – und die hat uns fortgejagt ! Mit bösen Worten hat die uns weggejagt ! Jaja …
KONGRESS-ATMO / PETER HÄRTLING (SCHRIFTSTELLER) Diese Generation von Frauen – das war auch die Generation meiner Mutter – war auf hinreißende Weise kräftig. Heute wird von allein-erziehenden Müttern gesprochen. Damals hießen die Kriegerwitwen. Die Kriegerwitwen jagten uns gewissermaßen Furcht ein …
(…)
Erzähler Sie ist 93 und sie lebt allein. Seit 59 Jahren. Das Gehör lässt nach. In den Augen sitzt der Star. Die Schritte werden unsicher.
DER SOHN Mensch Mutter, du bist alt – uralt ! (SIE LACHT)
Erzähler Aber — sie will keine Hilfe.Und schon gar kein Mitleid. Sie hat ihren Sarg schon ausgesucht, die Beerdigung bezahlt und auch die Grabpflege – 30 Jahre all inclusive.
DIE MUTTER … weil ich ein Mensch bin, der alles hundertprozentig haben will. Ich kenn’ keine Halbheiten ! Ich hab nie einmal jemanden gebraucht oder gefragt ! Nie einmal ! Und hab auch nie einen Fehler gemacht ! Nie einmal ’n Zug verpasst oder Schiff oder Flugzeug oder sonst was – nie ! Nie einen Fehler gemacht ! Ja, darauf bin ich stolz ! Naja …
Erzähler Sie versteinert wie ein sehr alter Baum. Ihre Härte reicht sie weiter an den Sohn.
KONGRESS-ATMO
PROF. MARIANNE LEUZINGER-BOHLEBER (VORTRAG) Die Hauptstörungen lagen nicht im Leistungsbereich, sondern in den Intimbeziehungen.
Die meisten hatten eine verfrühte Autonomie-Entwicklung. Oft die Flucht in Leistung und Überforderung. Die tapferen Kriegskinder, die auf der Couch oft entdeckt hatten, dass sie eine Omnipotenzphantasie der Unverwundbarkeit entwickelt hatten: Ich schaffe alles und zwar allein, ich brauch’ niemanden !
Erzähler Im Stadtbad eine Gruppe Kriegerwitwen, jeden Sommer hingestreckt auf ihren großgeblümten Camping-Liegen. Der Sohn erinnert sich an ihr Gelächter, den Geruch von Sonnenöl. Da musste er den Diener machen, Jahr für Jahr. “Wieder ’n Stück gewachsen, der junge Mann !” Und die Mutter sagte: “Der kommt ganz nach mir !”
Mit 20 verlässt er den Käfig. Er flüchtet in die ferne Großstadt, Emigrant aus Mutterland. Rette sich, wer kann !
DER SOHN Warum hast du nie geheiratet ?
DIE MUTTER Also — ich hätt’ niemandem mehr können gut sein … Und nur mit einem anderen Mann, so wie heute, nur ins Bett ? Nee, nee – nein ! Da wär’ ich mir vorgekommen wie so ’n Flittchen ! Das hätt’ ich nie gemacht ! Nein ! Da war ich viel zu stolz ! Auch dir zuliebe hab ich auf keinen Mann geguckt ! Ich hätt’ das gar nicht übers Herz gebracht, dir mit ‘m Kerl da …
(…)
GARTEN / DER SOHN Ich bin ja ausstaffiert worden schon mit 14 Jahren als erwachsener Mann, als Begleiter mit Hut, Bügelfalte, silberner Krawatte …
Erzähler Sie im Sommerkleid, weiße Perlenkette, eingehakt. Ein Paar, im Stadtpark promenierend.
WIEDERHOLUNG / DIE MUTTER Wir haben ja äußerlich sehr gut zusammengepasst.
Erzähler Rechts die Witwe in den besten Jahren. Auf der Herrenseite – er, der Milchbart – aufgeputzt zum Mann.
WIEDERHOLUNG / DIE MUTTER Die Leut’ haben uns ja immer nachgeguckt!
Erzähler Der Mann zum Vorzeigen. Ersatz-Gatte. Ein viel zu junger, schlechter Schauspieler.
Der Sohn Du hast mich ausgehalten, Mutter ! Ehrlich gesagt: Ich war dick ! Du hast mich gemästet !
(…)
Erzähler Nach vielen Jahren kommt der Sohn zurück aus der Großstadt. Fern vom Mutterland hat er gelebt, gearbeitet, geliebt und selber einen Sohn gezeugt. Nun ist er heimgekehrt – sie glaubt: zu ihr.
DIE MUTTER Du warst ja ein reines Wunschkind ! Ich muss ein Kind haben, ich muss ein Kind … Und dann hatt’ ich Dich !
Erzähler Doch die Frau, die ihn gestohlen hat, ist bei ihm. Die Diebin ist in der Stadt.
DIE MUTTER Ich hab immer gesagt: Mir sollen sie alles nehmen – wenn mir nur mein Kind bleibt !
Erzähler Ab jetzt herrscht lautloser Guerilla-Krieg. Die Mutter reklamiert das Kind im alten Mann für sich. Sie spukt in seinen Träumen, zieht ihm kurze Hosen an, wie damals; drückt ihn an die Brust.
WIEDERHOLUNG / DIE MUTTER Du bist wie ich !
Erzähler Überlebensgroß: ihr Schatten. Nichts hält ihrem Urteil stand.
“Da müsste eine Frau her …” sagt sie. “Eine richtige !”
DIE MUTTER Jaja …
DER SOHN Ich hatte immer das Gefühl: Wenn meine Mutter von mir redet oder über mich redet, dass sie gar nicht mich meint ! Sie meint mich nicht. Sie meint eine Vorstellung von mir. Jetzt fange ich an, mit ihr zu dialogisieren und mich zu verteidigen, und ich denke: Verflucht noch mal – das brauch ich doch gar nicht !
♫ DARAUF:
Der Sohn Ich weiß: Ich bin eine Enttäuschung ! — Nein, ich spiele keine Operettenschnulzen mehr ! — Diese Eifersucht auf meine Frau ! Nicht einmal den Namen kannst Du aussprechen. Immer heißt es: “die” und “sie” und “diese da” ! Als wolltest Du sie tot-schweigen ! — Ich bin auch nicht Dein Sonnenschein, der an die Mutterbrust zurückkehrt ! — Mensch, wir sind zwei alte Leute – Du und ich !
ALBUM-BLÄTTERN / DIE MUTTER … Ist das schön ! Ach Gott – mein Schatzele !
DER SOHN Und das hier ?
Erzähler Leere Seiten. Die Bilder sind herausgefetzt, nicht abgelöst. Nur noch ihre Handschrift: “Mein lieber Sohn”. Ausradiert. “Schwiegertochter”. Leer …
Der Sohn Da kleben noch die Reste meiner Frau.
Erzähler Schauplatz eines Eifersuchts-Massakers.
DIE MUTTER Deine ganze Kindheit …
DER SOHN Weggeschmissen !
DIE MUTTER Ja, ja … Heut tut mir ’s leid …
BLENDE IN KLINIKUM-ATMO:
Erzähler Intensivstation.
Mechanisch hebt und senkt sich der Brustkorb, künstlich beatmet. Berge und Täler auf dem Display – rote, grüne, gelbe: Kreislauf, Herzfrequenz, Flüssigkeitsbilanz, Einfuhr / Ausfuhr.
Manchmal zittert der Körper wie ein Motor, der nicht rund läuft … Dann beruhigt er sich wieder
Die Mutter ist verunglückt, kurz vor seinem 65. Geburtstag. Nur ein falscher Schritt: Oberschenkelhalsbruch – Notarzt – Hüft-OP – Lungenembolie und Herzstillstand – tiefes Koma seit zwei Wochen.
Er hat Angst, dass sie doch die Augen wieder aufschlägt – und ihn nicht erkennt.
„Durch einstweilige Anordnung wegen Gefahr im Verzug wird der Sohn zum Betreuer bestellt. Zustand nach reanimationspflichtiger Lungenembolie mit cerebraler Hypoxie“. Richterin am Amtsgericht … Ausgefertigt … Justizangestellte … unleserlich
Jetzt bin ich dein Vormund !
Er steht vor ihrem Spezialbett, täglich eine halbe Stunde … Mitleid,
aber keine Tränen … Ein seltsames Gefühl der — Unbeschwertheit.
Mit 65 Jahren endlich abgenabelt. Frei. Entlassen aus dem Mutterland.
Diese Frau stellt keine Forderungen mehr.
Er hat sie überlebt, die Stählerne.
➤Features (deutsch/Info-Texte)