Anfang und Endstation – Der Finnische Bahnhof in St. Petersburg.
Eine Zeitreise.
DLR BERLIN (2000)
Diesmal kommt Wladimir Iljitsch nicht im plombierten Waggon als “Zeitbombe” mit deutschem Passepartout, um den Bürgerkrieg anzuzetteln. Er trifft Erster Klasse im “Sibelius”-Express aus Helsinki ein. Ein Feature über Vergangenheit und Gegenwart des zweitgrößten Bahnhofs von St.Petersburg und seiner Umgebung und ein knappes Jahrhundert sowjetisch/russischer Geschichte.
BAHNHOFS-DEPOT AM FRÜHEN MORGEN: KOPPEL- UND RANGIER-GERÄUSCHE, DIE STIMMEN DER ARBEITER
Sprecher Es war im 83. Jahr nach der Großen Sozialistischen Oktober-Revolution. An einem Sonntag im Juni — der schon jetzt am Morgen sonnig war und ziemlich heiß.
EIN ERSTER UND EIN ZWEITER NAHVERKEHRSZUG LÄUFT EIN /
SCHRITTE UND STIMMEN DER PASSAGIERE
Ansage
DAS GERÄUSCH VON REISIGBESEN AUF DEN BAHNSTEIGEN / LAUT-SPRECHER- UND MEGAPHON-DURCHSAGEN
Sprecher An diesem Dreifaltigkeits-Sonntag besucht St. Petersburg seine Friedhöfe — riesige Totenstädte weit draußen im Land. 150 000 Passagiere verlassen den Finnischen Bahnhof Richtung Norden – 260 elektrischen Züge, jeder Zug zu zehn Waggons. Das grüne Blech ist rostig und verbeult. Holzbänke.
Sie stürmen die Züge mit Harken und Eimern. Sie schleppen Picknick-Körbe (Gurken, hartgekochte Eier, Vodka), Vogelkäfige und Stauden, die Wurzeln in feuchtem Zeitungspapier.
Eine Landpartie zu denToten.
ABFAHRENDE ZÜGE / GERÄUSCH EINES DAMPFZUGS, DER IN EINEN BAHNHOF EINLÄUFT / LOK IM STAND / DARAUF:
Sprecher An einem anderen Sonntag, vor vielen Jahren …
Sprecherin … am 2. April 1917 nach dem alten russischen Kalender … auf dem Bahnhof im schwedischen Haparanda, an der Grenze zu Finnland …
Sprecher … damals ein autonomes russisches Großfürstentum.
Sprecherin Nach fünftägiger Fahrt steigen 32 Passagiere steifbeinig aus einem Zug. Dunkle Mäntel, ernste Hüte. Ihre Regenschirme wirken etwas deplaziert in dieser Schneelandschaft, weit über dem Polarkreis.
Emigranten kehren heim. Profi-Revolutionäre – Mitglieder einer radikalen Splittergruppe der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der Bolschewiki.
Den ersten Teil der Reise – aus der Schweiz quer durch Deutschland – haben sie in Kurswagen zurückgelegt, eingeschlossen und bewacht von deutschen Offizieren. Das Kaiser-und das Zarenreich führen schon drei Jahre Krieg.
Und der Kaiser zahlt die Fahrkarten.
Die Rechnung ist einfach: Wenn die Gruppe spurt, bricht die Abwehrfront der Russen schnell zusammen; Lenin schließt Frieden mit Deutschland und die kaiserlichen Truppen werden für den Westen frei, wo man sie so dringend braucht. Deutschland benutzt Lenin, Lenin die Deutschen. Zynismus beiderseits.
Das Deutsche Reich steckt 60 bis 80 Millionen Goldmark in das Abenteuer. Das wären heute zweieinhalb bis drei Milliarden Mark.
Der Anführer der kleinen Gruppe wird in diesem Monat 47 Jahre alt. Er ist knapp mittelgroß. Ein solider, unscheinbarer Bourgeois. In Schweden hat man ihn noch eilig ausstaffiert. Neue Hosen, ordentliche Stiefel. Einer, der die Welt verändern will, trägt keine Schweizer Nagelschuhe.
Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und die kleine rundliche Frau, mit der er seit 19 Jahren verheiratet ist, Nadeshda Krupskaja, stehen frierend neben ihrem spärlichen Gepäck, drei Körben mit Wäsche und Büchern.
Im Pferdeschlitten überqueren sie den Grenzfluss. Die russiche Garnison im finnischen Tornio zählt 1000 Soldaten. Die wissen nicht mehr recht, wem sie gehorchen. sollen. Der Zar hat abgedankt und ist verhaftet worden, die provisorische Regierung steht auf schwachen Füßen.
DAS VERFREMDETE ZUGGERÄUSCH / FETZEN DER „INTERNATIONALE” (CHOR)
Ein Emigrant schmettert : „Es lebe die Weltrevolution“. Verständnislos gaffen die Soldaten, als der Zug nach Süden rollt – nach Petrograd, ins frühere…
Sprecher … und spätere …
Sprecherin …St.Petersburg.
KREUZBLENDE IN FAHRENDE METRO, INNEN
Sprecher Dort in 70 Metern Tiefe …
ZUGLAUTSPRECHER
… die Metro-Station Leninplatz. Finnischer Bahnhof .
BAHN-GERÄUSCHE UND STIMMENGEWIRR AUF DEM UNTERIRDISCHEN METRO-BAHNHOF
Menschen am Fließband — aufwärts, vorwärts. Am Übergang zu den Vorortzügen stürmt ihnen ein Mann entgegen. Acht Meter ist er groß, aus blutrotem Mosaik — wehender Mantel, stechender Spitzbart. Der Mann hat’s eilig.
BAHNHOFSHALLE / DURCHSAGEN
Und im Wartesaal diese riesige, schon etwas ramponierte Landkarte aus getriebenem Blech: “Lenins Reisen in Finnland”.
Diese warten, Gesicht zur Uhr mit den grünen Leuchtziffern.
Soldaten warten, grünscheckiges Tuch. Matrosen warten, Mützen ins Genick geschoben – verwegen, wie aus einem Film von Eisenstein. Alte müde Frauen mit Kopftuch warten. Ein paar Stoppelbärte warten, eingehüllt in Vodkafahnen. Junge glattrasierte Schlippsträger mit Aktenkoffern warten.
EINE DURCHSAGE
Für die Stimme im Lautsprecher sind sie alle noch towaristschije, „Genossen“. Aber auch schon: „Werte Reisende“…
Der Finnische ist ein ehrlicher Bahnhof. Dieses Wyborger Viertel ist die Werktagsseite von St.Petersburg. Von hier verreisen keine reichen Leute.
(…)
VIDEOSPIEL-GERÄUSCHE, NÄHER: „…RELOAD ! … RELOAD !“
WAHRSAGE-AUTOMAT „LA BOCCA DELLA VERITÀ“ / FUTURISTISCHE GERÄUSCHE / COMPUTERSTIMME (RUSSISCH)
Vor dem Wahrsageautomat hat sich eine Schlange gebildet. „La Bocca della veritá“ – Mund der Wahrheit. Italienisches Modell, russischer Pächter.
Die Germanistik-Studentin Ljuba, 22 Jahre alt, mit Latzhose und einer asymetrischen Reihe von Silberringen im linken Ohr, steckt ihre Hand in den Mund der Wahrheit. Und ?
Ljuba (LIEST) … Sie haben Glück gehabt, daß Sie so einen starken Körper haben, der Ihnen leistet für drei Menschen zu arbeiten. Sie mögen Luxus und geben sehr gerne viel Geld aus … Sie sind innerlich kalt, und die Liebe spielt für Sie auch keine große Rolle. Sie haben trübe Gedanken … Deswegen gehen Ihre Tage so nutzlos vorbei …
STIMME EINER BETTLERIN
Sprecher Sie ist fast 90. — Dickes, ausgefranstes Wolltuch. Alte Winterstiefel. Und draußen ist Sommer, und die Hitze quillt bei jedem Pendelschlag der Tür vom Leninplatz herein. Sie bettelt.
Ljuba Sie hatte hier eine Wohnung und hatte einen Neffen, der aus Lippis kommt, das ist 1000 Kilometer von St.Petersburg. Und er hat sie gezwungen, diese Wohnung zu verkaufen und zu ihm zu fahren, nachdem ihre Schwester gestorben war. Und sie hat diese Wohnung verkauft … zu ihm umgezogen. Und sie hat dort drei Monate gewohnt. Und er hat sie rausgeschmissen. Und sie hat hier jetzt irgendwelches Zimmer. Und wenn sie Rente kriegt, muss sie Schulden zurückzahlen. Deswegen bettelt sie.
Bettlerin / Sprecher Für ein paar Rubelchen liest sie der Studentin Ljuba aus der Hand. Und verrät ihr die Geheimnisse des Alters und was man mit Senf und Kohlblättern alles heilen kann. Sie schlägt das Kreuzzeichen, spuckt dreimal aus.
Auf Plakaten in der Halle sucht man Korsakow, Alex Stepanowitsch, geb. 1957. Einssiebenundsechzig, ovales Gesicht, Schnurrbart, schütteres Haar. Zum letzten Mal gesehen im September 1999 an der Station Udelnaja. – Dieser da hat schwere Verbrechen begangen. Name: Salichow Magomed Sakjueiewitsch, Jahrgang 64, stammt aus Dagestan. Zusammen mit Dekuschew,Adam Osmanowitsch aus Karatschei im Tscherkesker Gebiet und Krmschamchalow, Jussuf Ibrahimowitsch aus Stawropol Beteiligter an einem Terrorüberfall. Sachdienliche Hinweise…
DAMPFZUG, INNEN
FETZEN DER “INTERNATIONALE” (VERFREMDET). DARAUF:
Sprecherin Die Waggons sind schlecht. Die Terroristen-Gruppe aus der Schweiz reist Holzklasse. Soldaten stampfen in den Gängen auf und ab. Die Lokomotive, mit finnischer Kiefer beheizt, zieht eine weiße Schleppe durch Karelien. Vor den Fenstern: Birken und Sand, Sand und Birken …
Nadjedscha Krupskaja kocht Tee auf ihrem schwedischen Spirituskocher und macht belegte Brote. „Butterbrot“ auf Russisch. Lenin, schreibt und schreibt. Diskutiert mit den Soldaten. Studiert die „Prawda“, die „Wahrheit“, die man in Vyborg ins Abteil gereicht hat. Gerät in Wut auf die Kompromissler in Petrograd. Die Genossen sind zu weich. Träumen von Wahlen und Mehrheit. Man muss doch erst alles zerschlagen!
An der Grenze vom russischen Großfürstentum Finnland zum Russischen Reich ist es schon dunkel. Es nieselt. Gegen elf hält der Zug in Belo-Ostrow. Das ist der kritische Punkt.
DAMPFLOK IM STAND / DIE „INTERNATIONALE“ (KLEINE BLASKA-PELLE)
Auf die Agitprop-Kader der Bolschewiken ist Verlass! Der Bahnsteig voller Menschen. Arbeiter der nahen Munitionsfabrik sind aufmarschiert.
Munitionsarbeiter heben Lenin auf die Schultern. „Vorsichtig, Genossen! Paßt doch auf !“ Lenins Mongolenäuglein werden zu Schlitzen, wenn er lächelt.
Er steigt auf einen Stuhl. Vertauscht seinen steifen Schweizer Hut gegen die russische Arbeitermütze. Für immer.
Lenin spricht. „Nieder mit der provisorischen Regierung ! Nieder mit dem Krieg der Imperialisten!“
„Wird man uns erst in Petrograd verhaften?“ fragt er leise. Nur noch dreißig Kilometer…
(…)
„SIBELIUS“-EXPRESS HELSINKI-ST.PETERSBURG, INNEN
LAUTSPRECHER-DURCHSAGEN: Dobraje Utra … Good morning, ladies and gentlemen ! This is the fast train ‘Sibelius’ to St.Petersburg. The time of arrival is at 13:13 … Have a pleasant journey !
DAS GLEICHE AUF FINNISCH …
Sprecher Der Vormittags-Express aus Helsinki passiert die finnisch-russische Grenze vor Vyborg.
LAUTSPRECHER-DURCHSAGE: “Ladies and gentlemen ! Please keep your passports and Russian visa at hand!”
Sprecher Am 11. September 1870, dem Namenstag des Zaren Alexander II., fuhr der erste Zug von Helsingfors, jetzt Helsinki, nach St.Petersburg. Eine Strecke von 372 Kilome-tern, mit 30 Stationen — in der Rekordzeit von zweieinhalb Jahren gebaut. Im Jahr 1879 beschäftigte das russisch-finnische Eisenbahnkonsortium 11 900 Arbeiter. Hunderte starben in den Sümpfen Kareliens.
FINNISCHER BAHNHOF / SCHALTERHALLE
Sprecher Ein Seitenflügel des Finnischen Bahnhofs. Hier, in dieser neuen Schalterhalle, verkauft man Fahrkarten in alle Teile Russlands und der früheren Sowjetunion — obwohl von diesem Bahnhof nur die Fernzüge nach Finnland abfahren. Geheimnis der Bürokratie. Jetzt, in der sommerlichen Reisezeit, sind viele Züge auf Wochen hin ausgebucht. Man zieht also Wartemarken und wartet.
RUSSISCHER ORIGINALTON
Dieser Mann wartet seit sechs Uhr morgens und hat immer noch keine Fahrkarte.
RUSSISCHER ORIGINALTON
Die junge Frau will auf die Krim in Urlaub fahren, aber alle Züge sind besetzt. Und auf dem Schwarzen Markt kosten Fahrkarten das Drei- und Vierfache. An der Eingangstür verkauft ein Schwarzhändler „talloni“, Wartemarken, die er rechtzeitig gebunkert hat.
RUSSISCHER ORIGINALTON
Sie ist Kummer gewöhnt. Die Fahrt zu den Eltern nach Kirgisien kostet sechseinhalbtausend Rubel, 600 Mark – nur in Rußland. In Kasachstan und Kirgisien heißt es dann wieder zahlen. Wieder warten. Die Reise dauert vier Tage. Das alles war einmal „Sowjetunion“ — eine Uhrzeit, eine Fahrkarte. Vorbei !
Die Luft in der Halle ist stickig. Man fächelt sich Kühlung zu. Die Klimaanlage, westliches Modell, ist abgeschaltet. Zu kostspielig. Die Bahnverwaltung leidet chronisch unter Defizit.
Bahnhofsdirektor / Sprecher Die Bahn sei unrentabel. Das Volk, sagt er, ist reicher geworden. Jeder zweite fährt Auto. Uns bleiben die Rentner. Und es gibt 40 Kategorien „l’gota“ – staatlich festgesetzte Ermäßigungen.
Journalist Der Autobestand hat sich sicherlich – ich bin seit 94 hier – über’n Daumen gepeilt verdreifacht.
Sprecher Ein Zeitungskorrespondent aus Deutschland.
Journalist Das widerspricht ein bisschen dem, dass Russland völlig verarmt ist. Ein gewisser Teil der Bevölkerung, der kann sich jetzt ein Auto leisten. In ‘ner Stadt wie Petersburg … zumindest ein Viertel der Bevölkerung kann sich das leisten. Es ist keine bettelarme Stadt hier – ganz einfach ! Ganz Russland ist kein bettelarmes Land! Zumindest in den Metropolen. Russische Autos sind vergleichsweise billig. Ich hab mir vor einem Jahr das allerkleinste einheimische Auto, was es hier gibt, gekauft – das ist ein OKA, wie so’n kleiner Fiat. Der hat mich 2900 Mark gekostet. Neu, mit einem Jahr Garantie. Das ist erreichbar für jemanden, der mehr verdient, als er nur zum Überleben braucht.
Bahnhofsdirektor / Sprecher Es fehle vor allem an Technik, sagt der Direktor. Zum Beispiel: beheizbare Weichen im Winter. Da müssen immer noch die Babuschki, die Großmütter, mit ihren Reisigbesen ‘ran.
Obermaschinist (RUSSISCH) / Sprecher Wir lösen die Probleme operativ, sagt der Obermaschinist. Und meint: Man wurstelt sich so durch. Über die Privatisierung der Bahn wird vorläufig nur geredet.
(…)
EIN DAMPFZUG (VERFREMDET) FÄHRT EIN
Sprecherin Es ist kurz vor Mitternacht — Ostersonntag nach dem alten russischen Kalender. Nie ist ein Staatsfeind herzlicher empfangen worden.
DIE MARSEILLAISE (VERFREMDET, BLASORCHESTER)
Lenin sieht: rote Fahnen, Triumphbögen in Rot und Gold. Sieht Empfangskommittees, Spruchbänder. Er sieht einen Leutnant vor seiner Ehrenkompanie — der ihm Meldung macht. Ihm, dem Umstürzler! Man präsentiert das Gewehr. Die Kapelle spielt die Marseillaise (die Internationale einzuüben, war nicht Zeit genug).
Überall Menschen — es müssen zehntausende sein.
Und wieder reitet Lenin auf den Schultern seiner Anhänger. Verlegen, mit einem Strauß Rosen im Arm. Und Lenin wird hinausgetragen. Schwebt auf den Turm eines Panzerwagens. Auf den Sockel. Steht, kaum angekommen, schon Modell für alle Lenin-Denkmäler der Zukunft.
Niemand greift ein. Keine Kosaken mit Säbel und Peitsche. Die Regierung kneift.
PASSAGE AUS DEM SCHLUSS-CHOR DER II. SYMPHONIE VON
D. SCHOSTAKOWITSCH
Nur zwei Wörter standen heute an den Mauern: „Lenin kommt!“
DIE INTERNATIONALE (LEISE VIOLIN-VERSION)
Wladimir Iljitsch ist kein „schöner“ Mann: glatzköpfig, mit rotem Haarkranz, schräg gestellten Augenbrauen, borstigem Kinnbart, breiten tartarischen Backen. Kein Stummfilmregisseur würde so den Führer eines Volksaufstands besetzen.
Doch seit 1903, als Lenin die Sozialdemokratische Partei Russlands gespalten hat, ist sein Ruf ständig gewachsen. Der Mythos eines Unbekannten. Die Masse der russischen Arbeiter – Analphabeten zumeist – kennt nur seine Losungen: „Nieder mit der bürgerlichen provisorischen Regierung! Brot und Frieden!“ Das genügt.
Arm und kriegsmüde sind sie alle. Man hungert nach nahrhaften Worten.
MUSEUM DER POLITISCHEN GESCHICHTE RUSSLANDS / SCHRITTE IM TREPPENHAUS / DIE STIMME EINER MUSEUMS-FÜHRERIN
Sprecher Dies war das Haus der Tänzerin Krzesinskaja - Geliebte des letzten russischen Zaren. Noch vor kurzem „Revolutionsmuseum“, heißt der Palast jetzt „Museum der politischen Geschichte Russlands“. Vor die Glasfenster mit Arbeitern und Bauern und Soldaten – Lenin in der Mitte – hat man jetzt den guten alten Doppeladler hindrapiert. Passt auch besser zu den Lüstern und dem falschen Marmor.
Sprecherin Vom Finnischen Bahnhof kommt Lenin noch in der Nacht seiner Ankunft hierher, in das Hauptquartier der Bolschewiken. Sie haben die Villa beschlagnahmt. Die Krzesinskaja tanzt jetzt in Paris.
Museumsleiterin (RUSSISCH) / Sprecher Wir haben nicht nur den Namen, sondern unsere ganze Einstellung zur politischen Geschichte Russlands geändert, sagt die Direktorin des Museums. Heute bieten wir unseren Besuchern keine bestimmte ideologische Sicht mehr an. Die Besucher entscheiden selbst, was Sie von hier mitnehmen wollen
Das Foto der eisig-schönen Krzesinskaja mit der Wespentaille und dem hochmütigen Gesicht liegt am Souvenirstand neben Lenin. Je zwölf Rubel.
SCHRITTE / STIMME DER MUSEUMS-FÜHRERIN
(…)
Sprecherin In diesem Ballsaal – er ist nun politischer Club – versetzt Lenin seinen Petrograder Parteigenossen den Schock ihres Lebens. Die meisten glauben noch unerschütterlich an die Zwei-Stufen-Theorie von Karl Marx: erst der entwickelte Kapitalismus, danach die Revolution. Bis zur Abfahrt im Schweizer Exil war das auch das Dogma Lenins.
Dann aber dieser mysteriöse Zwischenstop – eine Nacht lang standen die plombierten Wagen auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin. Und schon propagiert dieser Mensch den sofortigen Aufstand.
AUF DEM BALKON: STARKER STRASSENLÄRM / STIMME DER FÜHRERIN
ER tritt auf den Balkon, Mitternacht ist längst vorbei, unten warten Tausende — Soldaten, Matrosen — Mütze an Mütze.
Sprecherin Er steht hier oben und ruft: „Alle Macht den Räten“, den Sowjets! So mancher Genosse denkt: Nun ist er aber verrückt geworden!
(…)
VERKEHRSGERÄUSCHE MIT STRASSENBAHN, ANSCHWELLEND / EIN REDNER MIT MEGAPHON UND DIE STIMME EINER LOTTERIE-VERKÄUFERIN / DARAUF:
Sprecher Vor dem Finnischen Bahnhof. Früher Nachmittag.
Agitator (RUSSISCH)
Sprecher Die Russische Kommunistische Partei des Vyborger Bezirks besteht aus zwei Männern, einer Frau, einem Stapel Zeitungen und einer roten Fahne. Die „Barrikade“ und „Das schaffende Russland“ kosten je drei Rubel. Für den gleichen Betrag kann man in der Straßen-Lotterie nebenan bis zu 5000 Rubel gewinnen.
DER AGITATOR / DIE LOSVERKÄUFERIN
„Im Straflager“, erzählt der Agitator mit der Leninglatze in sein Megaphon — „im Gulag ist keiner verhungert! Die Menschen wurden dort besser gefüttert als wir, die Rentner. Es gibt viele, die von dort zurückkamen – und werden hundert Jahre alt! — Ah, hier kommt schon einer, der demnächst verhungern wird!“
Betrunkener / Sprecher „Ich doch nicht !“ sagt der Mann mit der Vodkafahne.
Agitator / Sprecher „Doch – wir alle werden verhungern!“
VERSCHIEDENE STIMMEN
1. Rentnerin / Sprecher „Die Preise steigen, nur die Renten nicht“. Sie war Lehrerin. Mit der billigen Bluse, die sie zum Verkauf anbietet — einer einzigen — steht sie schon seit ein paar Stunden in der prallen Sonne. „Die Rente“, sagt sie, „reicht zum blanken Überleben.
2. Rentnerin / Sprecher Und die frühere Friseuse – russisch: „Perickmacher“ – klagt: „Die guten Zeiten sind vorbei“. Sie hat den Krieg Abchasien-Georgien überlebt, aber alles verloren. Deswegen steht sie hier.
Sandwichmann / Sprecher „Wenn wir die Uhr nur zurückdrehen könnten! Die 60er und 70ere Jahre waren die besten! Wir haben genügend verdient und das Leben war leicht !“ Dieser Sandwichmann, ein Frühinvalide, läuft Reklame für Nähmaschinen. Vor dem Bahnhof muss er seine Rente aufbessern.
Und so klingen alle, die hier stehen – mit den jämmerlichen Taschenspiegeln und Geschirrtüchern und Plastikschwämmen in der Hand. Und über ihren Köpfen, an der Hauswand, auf einem riesigen Mosaik … fliegen Kosmonauten siegreich in den Kosmos.
BAHNSTEIG: STIMMEN, SCHRITTE, KARREN, QUIETSCHENDE KOFFER-KULIS / WÄHREND DER „SIBELIUS“-EXPRESS AUS HELSINKI EINLÄUFT, ERTÖNT AUS DEN LAUTSPRECHERN DIE „PETERSBURGER HYMNE“ / AUFGEREGTE RUFE, LACHEN, BEGRÜSSUNGEN
Sprecher Pünktlich 13 Uhr 13 hält der Express Helsinki-St.Petersburg auf Bahnsteig 1. Der „Sibelius“ ist ein finnischer Zug. Morgens geht ein russischer nach Helsinki, der „Repin“ — nach dem volkstümlichen Maler Ilja Jefimowitsch Repin benannt. Aus den Bahnhofs-Lautsprechern scheppert die „Hymne an die große Stadt“, komponiert von Reingold Morizewitsch Glier.
Aus Finnland treffen ein: Eine Gruppe japanischer Touristen; ein amerikanisches Ehepaar, das russische Freunde aus dem World Wide Web nun live erleben will; finnische Sänger, die beim Festival „Weiße Nächte“ auftreten werden, Rucksacktouristen, Geschäftsleute. Und ER.
VERFREMDETE BAHNHOFS-ATMO MIT SPATZEN
Sprecherin Kaum einer bemerkt den aschgrauen Mann ohne Gepäck, der etwas verwirrt die Gebäude mit dem klotzigen Uhrturm betrachtet.
Sprecher Da war noch ein Krieg, der alte kleine Bahnhof ist getroffen worden. Wurde wieder aufgebaut. Die neue, so viel größere Fassade drehte man zur Newa hin. Hier rechts ist noch ein Stück der alten, eingebaut wie eine Fußnote.
Sprecherin Nein, niemand scheint ihn zu beachten – mit der altmodischen Proletenmütze und im Wintermantel — mitten im Juni! Man hat’s eilig. Keiner ruft nach der Miliz: Haltet ihn! Er hat uns ins Unglück gestürzt!
Ach – ein Statist, vielleicht …
Sprecher Wer dreht denn jetzt noch Lenin-Filme?
Sprecherin … Da muss irgendwo ein Fotograf sein! Auf dem Newski läuft ja auch ein Nikolai II. ‘rum.
Sprecher Und wenn er’s doch wäre?
Sprecherin Besser nicht hinsehen!
BIBLIOTHEK
Sprecher Im sogenannten „Lenin-Saal“ befindet sich die Bibliothek der Bahnbediensteten.
Bibliothekarin (RUSSISCH) Sprecher „Wenn wir hier die Bücher wegnehmen und hängen Kronleuchter auf und legen schöne Teppiche hin“, sagt die Bibliothekarin, „dann ist es wie früher. Der Stuck, die Bögen … In dieser Halle warteten die Volksvertreter auf Lenin, dann ging er hinaus auf den Platz. Und da stand schon der Panzerwagen. Übrigens – vor zehn Jahren lagen hier noch Teppiche.“
Würde der Mann im Mantel hier nach „Lenins Werken“ fragen – er brächte das Personal in Verlegenheit. Steh’n in der hintersten Ecke, die Bücher, Rücken zur Wand.
Bibliothekarin (RUSSISCH) Sprecher (ÜBERSETZT) … Hier … Hier sind ja die Werke von Lenin … Die fünfte Auflage … 55 Bände …
SIE BLÄTTERT
… „Über die Bauern“ … „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten“ … „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ … „Lenin in Paris“ …
Die Nachfrage, sagt die Bibliothekarin, ist … unregelmäßig. Studenten kommen und Schüler.
Naja – die Leute lesen lieber Krimis, Science Fiction, Gartenbücher …
VOR DEM BAHNHOF
Sprecherin Der Mann tritt hinaus auf den Leninplatz. Spruchbänder an den Fassaden. Aber sie gelten nicht ihm: PEJTJE COCA COLU! Die Straßenbahn scheppert wie damals. Keine Droschkengäule mehr. Auf den ersten Blick sehen die Massen nicht unglücklich aus. Kaum Schmutz auf der Straße. Hat der Sozialismus also doch gesiegt!
EINE STRASSENBAHN RUMPELT VORBEI
Und da ist er selbst auf einem stilisierten Panzerturm. Der Mantel im Flattern erstarrt, Taschen ausgebeult von Zeitungen und Flugblättern. Dahinter die Newa und die Paläste am anderen Ufer (die erkennt ER sofort). Und er sieht sich – rechtes Bein voran – auf die Stadt zuschreiten, den Arm Richtung Zukunft.
EIN BETTLER SINGT MIT BRÜCHIGER STIMME: „SANTA LUCIA“
Ljuba Das ist eine Zeitung für Obdachlose … 3 Rubel …
Obdachloser Inglisch! Inglisch!
Sprecher „Ganz unten“ heißt die Zeitung. Der Mann saß zehn Jahre im Gefängnis. Jetzt schläft er bei Freunden und in Hauseingängen. Den Geldschein quittiert er mit Tränen. Zehn Rubel sind 1 Deutsche Mark. Was ihm gesetzlich zusteht, ist der Mindestlohn: 83 Rubel, ungefähr 8 Mark. Im Monat. Umrechnungstabellen sind hier wertlos.
PROPAGANDISTIN „JUDEN FÜR JESUS“
Propagandistin (RUSSISCH) / Sprecher „Nur Gott kann uns helfen !“ sagt die junge Frau vor dem Bahnhofs-Portal. Sie war Theater-Regisseurin und verteilt jetzt Flugblätter für die lokale Gruppe der „Juden für Jesus“ (Hauptquartier in San Francisco).
Lenin war unser Unglück. Jetzt müssen wir wieder bei Null anfangen. Das alte Russland war ein fortschrittliches Land. Hat er nicht das Konzentrationslager erfunden – für die Arbeiter, die mit der Sowjetmacht nicht einverstanden waren? Der schrecklichste Mensch! Mit Lenin fing die Unterdrückung an.
Journalist Für Leute über 50 heißt die Stadt eigentlich immer noch Leningrad.
Sprecher Der deutsche Korrespondent.
Journalist Das Umland heißt „Leningradskaja Oblast“, bis heute. Man weiß, es bringt nur Aufregung, wenn man jetzt sich als Bürgermeister oder Stadtrat hinstellen würde und sagen: Der Lenin am Moskauer Prospekt muss weg! Warum muss er weg? Stört er jemanden? Eigentlich stört er doch nicht! Wir haben uns doch gewöhnt an ihn, er stand da immer. Der Lenin steht nach wie vor vor dem Smolny, dem Gouverneurssitz, direkt vor dem Eingang – zwar kein wahnsinnig großer Lenin, aber er steht da. Und ‘n bißchen weiter im Park, rechts und links der Allee, stehen nach wie vor Marx und Engels.
AUF LEISE HOLPERNDE GEIGEN-VERSION DER INTERNATIONALE
Sprecherin Der alte Mann im Mantel: nur noch Denkmal, Landeplatz für Tauben. Amtlich toleriert. Ein Zahnloser auf seinem Altenteil. Schlimmeres kann einem Revolutionär nicht passieren.
(…)
BAHNSTEIG
ER aber steht unbemerkt – sein eigener Doppelgänger – vor einem riesigen Glaskasten neben dem Bahnhofsgebäude. Darin eine schöne alte schwarze Dampflok. Davor diese Tafel:
Ljuba (LIEST) „Am 9. August 1917 spät am Abend kam Lenin zur Station Udelnaja mit einem falschen Pass…”
Sprecherin Im Sommer 17 brechen bewaffnete Unruhen aus. Matrosen besetzen den Finnischen Bahnhof, in den Straßen wird gekämpft, auf dem Newski Blutlachen. Der Aufstand misslingt.
Ljuba (LIEST) “…Und auf dieser Lokomotive am 7. Oktober 1917 kehrte Lenin illegal nach Petrograd zurück, um die Vorbereitungen auf den Waffenaufstand aufzunehmen…“
Sprecher Später, im Zweiten Weltkrieg, stand an Stelle der berühmten Fluchtlock 293 ein Schuppen voller Leichen – Verhungerte und Bombenopfer. Der Finnische Bahnhof war immer wieder Ziel der deutschen Bomber. Die Strecke nach Norden blieb 900 Tage lang die einzige Versorgungslinie Leningrads.
(…)
SCHRITTE IN EINEM INNENHOF / ENTFERNTE RADIO-MUSIK
Stimme (Autor) Das Haus sieht aus, als würde es jeden Moment zusammenkrachen … Ist das ein Fahrstuhl ? …
Ljuba Ja … Würde ich mich auch nicht ‘reintrauen …
Sprecher Karpovki-Straße 32.Hier also wurde die Lunte gelegt – am 10. Oktober 1917 nach dem alten russischen Kalender. Lenin, Stalin, Trotzki, Swerdlow und andere Führer der Bolschewiki beschlossen den Aufstand. Zwei Wochen später war die Regierung gestürzt, Russland streckte die Waffen, Deutschland zahlte die Belohnung aus.
Der dreistöckige Block — im Stadtplan steht er noch als Sehenswürdigkeit — ist eine bewohnte Ruine.
Stimme Wirklich alles kaputt – die Dachrinnen …
LJUBA SPRICHT EINEN HAUSBEWOHNER AN
Mann / Sprecher „Lenin war ein großer Mann“ … Dieser wohnt in dem Schutthaufen. Schwankt ein wenig. „Damals hat man gut gelebt. Heute sind wir nackt und hungrig, wie man sagt“.
Im Erdgeschoß ist ein Treffpunkt der „Veteranen des Krieges und der Arbeit“. Daneben eine Armenküche. An langen Tischen, hinter einem verschämten Kantinenschild — „Stolowaja“ — sitzen Jung und Alt und löffeln ihre kostenlose Suppe. An einem Schalter wird Milch ausgegeben – Gratismilch für die Säuglinge. Sowjetische Errungenschaft. Darauf waren sie einmal sehr stolz.
(…)
PATHETISCHE MUSIK / JUBELNDE MASSEN / TROMPETENSIGNAL (ZAPFENSTREICH)
Sprecherin (DARAUF) “Genossen ! Wir haben die Gutsbesitzer und Kapitalisten besiegt. Wir sahen den beispiellosen Heroismus der Besten der Arbeiterklasse und der Bauernschaft im Krieg gegen die Ausbeuter. Ihre Truppen sind zerschlagen. Es wird nicht lange dauern, und wir erleben den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt – die Gründung der Föderativen Weltrepublik der Sowjets !”
KOMMANDO (AUF DER “AURORA”) / NEWA-WELLEN / ENTFERNTE SCHIFFSMOTOREN / ZIEHHARMONIKA-MUSIK / TOURISTEN-GEKREISCH
Sprecher In den Weißen Nächten treibt der Flaum abgeblühter Pappeln durch die hellen Gassen. Im schattenlosen Licht sehen die Fassaden aus wie hingemalt – St.Petersburg: eine Stadt aus Pappe, ein Ausschneidebogen.
Jachten und Jollen und Ausflugsdampfer umwimmeln das Kriegsschiff „Aurora“. Die Kanone am Bug gab den Startschuss zum Sturm auf das Winterpalais, zum Finale der russischen Revolution. Jeden Abend Zapfenstreich. Die „Morgenröte“ kann besichtigt werden. Unter der Hand bieten schlecht besoldete Matrosen ihre Mützen zum Verkauf.
Die Festung Peter und Paul, Fluchtburg für Liebespaare, schließt neuerdings schon um Zehn. Man befürchtet Vandalismus. Ein letzter Zug verläßt den Finnischen Bahnhof gegen halb Elf.
JUGENDLICHE SINGEN ZUR GITARRE
Am Ufer der Newa aber sammeln sich die Schulabgänger, viele tausend. Die kürzeste Nacht des Jahres gehört ihnen. Tradition! Sie sitzen beinebaumelnd auf den Ufermauern. Singen dieses Lied:
JUNGE STIMMEN ZUR GITARRE
Es war einmal ein armes Mädchen. Das träumte vom Prinzen, der übers Meer kommt. Denn das Mädchen war sehr romantisch. Man lachte über ihren dummen Traum. Doch es kam ein Prinz – auf einem Schiff mit rotem Segel. Und er nahm das Mädchen mit in eine märchenhafte Zukunft.
In dieser kurzen, hellen Petersburger Nacht heben die Schwenk-Brücken früher als sonst ihre Arme. Und ein Boot mit rotem Segel schwimmt tatsächlich die breite Newa hinunter. Passiert den Winterpalast, den Panzerkreuzer „Aurora“, die helle Fassade des Finnischen Bahnhofs.
Sprecherin Und der Mann im Wintermantel mit den ausgebeulten Taschen und der Mütze und der ewig ausgetreckten Rechten … Er steht vor dem schlafenden Bahnhof. Und winkt.
AKUSTIK SEHR LANGSAM AUSBLENDEN / ABSAGE
➤ Features (deutsch/Info-Texte).