Beschleunigte Zeit, rasender Stillstand
NDR / RBB (56:40)
AUS DEM MANUSKRIPT:
MOTTO > Sprecherin „Ich weiß nich’ — seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter“ – Theodor Fontane, „Der Stechlin“.
BALLERMANN-SONG, PUMPENDE BÄSSE, LÄRM / CHARLIE PARKER, “PARKER’S MOOD”. DARAUF:
Autor Den ersten Blick aufs Meer (die Nordsee bei Cuxhaven) warf ich mit 17. Im Alter von zehn kannte mein Sohn schon die meisten Länder und alle Meere Europas. Mit Anfang zwanzig flog er zum dritten Mal nach Kalifornien. Die meisten von uns hatten mit zwanzig noch nie ein Flugzeug aus der Nähe gesehen.
Schnabel (AUS ERNST SCHNABEL „INTERVIEW MIT EINEM STERN“)
Eine große viermotorige Constellation. Sie stand silbern im Schnee und Nebel, von allen Scheinwerfern des Flugplatzes angestrahlt, und ihre Flügel warfen große schwarze Schatten in die Luft …
Sprecher Ernst Schnabel 1951.
Autor Schnabel war der letzte Reisende.
Sprecherin Er liebte den Koffergeruch !
Schnabel Am Bug steht ihr Name: Clipper GOLDE-NES VLIESS. Und jedesmal, wenn sich einer der Scheinwerfer auf dem Dach des Flugplatzgebäudes ein wenig bewegt, flammt ein weißer Blitz über die geschwungenen Aluminiumflächen hin …
KREUZBLENDE IN STRASSEN- UND URWALDGERÄUSCHE (AUS „ZIKADENBAUM – AMAZONISCHES HÖRSPIEL VOM HELMUT KOPETZKY”. DARAUF:
Autor Da besteigt einer fast ehrfürchtig ein Flugzeug. Der Hamburger Rundfunk bezahlt das Ticket. Und dieser Autor beschreibt uns, wie die Welt aussieht, von oben, aus dem Kabinenfenster. Denn wir gewöhnlichen Deutschen könnten uns das 1951 niemals leisten – einen Flug um die Welt.
Und wir hängen an den Lautsprechern, geschlagene drei Stunden lang. Lauschen diesem „Interview mit einem Stern“.
Schnabel … Das Meer macht ihn glatt, aber die Mitte wölbt sich hoch — ein großer Stern, der sich in den Morgen wälzt …
Autor … Und das Herz schlägt uns bis zum Hals. Es gibt noch weiße Flecken auf den Weltkarten. Und wir können uns nicht vorstellen, daß der Stern da unten — unser Globus — schrumpft — und schrumpft – und schrumpft …
LANDENDER JET
Kögel Wir hatten jede Woche leere Plätze, und ich hab mich immer gefragt, wie kann man die anständig an den Mann bringen. Es besteht natürlich vom Wirtschaftlichen auch das Interesse aller Beteiligten, daß Urlaub nicht nur an vier Monaten im Jahr gemacht wird zu den Hochsaison-Terminen, weil Flugzeuge zwischendrin auch fliegen müssen.
Sprecher Last Minute — die „Restplatzverwertung“: Man bucht erst zwei Wochen vor Abflug und spart 10 % – Minimum. Manchmal die Hälfte. Der Erfinder des ganzen heißt Karlheinz Kögel.
Kögel Ich hab ‘n Problem, wenn ich jetzt für Oktober ‘n Urlaub planen soll. Weil ich denk mir selber: Mein Gott — was kann noch alles bis dahin passieren ! Und wir bieten ein ideales Instrument, wo man sich dann die Welt aussuchen kann, und dazu noch ein Schnäppchen macht.
BALLERMANN-CD
Sprecher „Nur Tomatensaft fliegt billiger !“
Sprecherin „10 000 Angebote — stündlich aktualisiert !“
Sprecher „In zwei Stunden ist Frühling !“
Sprecherin „Nix wie weg !“
Sprecherin Man sieht sich !
Kögel Die Welt ist ’n Dorf geworden. Und die Entwicklung halten wir nicht durch Politik und durch Flugpreiserhöhungen oder irgend etwas auf.
Es gibt da auch ‘ne Sättigungsgrenze. Ich meine: Palma kann irgendwann keine Landungen mehr annehmen. Aber vom Trend her ist das unumkehrbar.
FLUGHAFEN FRANKFURT a. M. / VOR DEN GROSSEN MECHANISCHEN ANZEIGETAFELN / LAUTSPRECHER-DURCHSAGEN / STIMMEN UND GERÄUSCHE DER PASSAGIERE. DARAUF:
Sprecherin Der Mensch ist ein fliegendes Wesen.
Autor Da sitzen wir vor den Anzeigetafeln in Erwartung unserer Gate-Nummer auf dem Bildschirm. Lauschen auf den Dreiklang-Gong.
SIGNAL UND DURCHSAGE
Autor Waren Sie schon mal auf dem Fruchthof ? Eine Partie Tomaten nach Hamburg, eine Ladung Zucchini nach Köln. Regale werden geleert und wieder aufgefüllt. Da haben Sie das Bild in einer Waiting Lounge !
LH-Perser Heutzutage ist das — ich will mal etwas abschätzig sagen — wie Busfahren geworden.
Sprecher Ein Kabinenchef der Deutschen Lufthansa.
LH-Perser Stellen Sie sich vor: Zwischen Berlin und Frankfurt fliegt ein Airbus 300. Und sowas wird im Regelfall 4- bis 5mal geflogen — also Berlin-Frankfurt, Frankfurt-Berlin, Berlin-Frankfurt, Frankfurt-Berlin — vielleicht noch ein Lag (man nennt das „Lag“, diese einzelnen Flüge) — und da haben sie 270 Passagiere, und dann fertigen sie die ab in 45 Minuten, wenn’s hoch kommt. Und die Flieger sind meißtens voll heutzutage.
CHARLIE PARKER, “PARKER’S MOOD” / DARAUF:
Autor Wir – wir trampten oder fuhren Eisenbahn. Und mit jedem Kilometer, jedem Schienenstoß versank die graue, beklemmende Welt der Eltern und Lehrer im Dunst des Sommertags. Nur noch ich und mein Rucksack. Und im Rucksack dieses Kultbuch „On the Road“ von Jack Kerouac.
Ich war jung. Ich hatte kein Auto. Aber meine Tagträume – schwarz-weiß und grobkörnig wie ein neorealistischer Film — spielten in einem pechschwarzen Cadillac. Neben mir einer im T‑Shirt, 100% maskulin und amerikanisch, die rechte Hand lässig an einem dieser fast senkrechten, riesigen, cremefarbenen Lenkräder mit chromverzierten Speichen; linker Arm angewinkelt, Dose Bier im Fahrtwind: Jack, der Beat-Poet ! Und auf dem Rücksitz diese blonde Schlampe Marylou und der versponnene Dean Moriarty (der eigentlich Neal Cassady hieß), der perfekte Kumpel aus der Besserungsanstalt und Jacks Untergang. Sein „Ja…“ und „Richtig-richtig“.
Wir waren ein Haufen verrückter Typen, die aus dem Buch und ich — gierig auf Leben. Wir brannten wie Wunderkerzen. Im Autoradio Lester Young und Charlie Parker und Miles Davis und Thelonius Monk und Dizzy Gillespie und George Shearing und …
FLUGHAFEN / LAUTSPRECHER-DURCHSAGEN / DIE STIMMEN JUGENDLICHER RUCKSACKTOURISTEN
Sprecher 40 Jahre später …
Sadek … Indien ist die beste Wahl, im Moment. Das günstigste — es ist warm, man spricht dort auch Englisch. Und es ist billig.
Sophie Es ist ‘n billiges Land. Es ist günstig, sehr günstig. Man kann mit 500 Dollar pro Monat gut überleben.
Sadek Ich hab mir das Ticket vor zwei Wochen oder so gekauft. Man hätt ’s auch billiger bekommen können, wahrscheinlich. Ich hätte auch mit ‘ner russischen Gesellschaft fliegen können, hätt ich hundert Mark weniger bezahlt, hätt dann noch ‘ne Nacht in Moskau bleiben müssen. Dacht ich: nee !
Sophie Wir fahren runter von Nepal nach Australien … Neuseeland geht der Weg runter, über Indonesien und so. Entweder geht der Flug von Bangkok nach Australien oder halt irgendwie … Aber ich glaub das klappt nicht. Und von Bangkok aus gibt’s, glaub’ ich, die billigsten Flüge. Und dann von Bangkok geht’s wahrscheinlich runter nach Australien. Davor noch Indonesien. Das ist so einfach, irgendwie — alles !
Verkäufer Wir haben heute zum Beispiel im Angebot Cuba, „all include“. Das beinhaltet alle Mahlzeiten, Zwischenmahlzeiten, einheimische alkoholische Getränke und Softgetränke über den ganzen Tag bis tief in die Nacht verteilt. Sportanimation ist auch umsonst, für 1333 Mark.
Wir können auch sagen, was die Anlage hat: Süßwasserpool, Sonnenterrasse, Poolbar, Restaurant, Fahrräder, Tennis, Schnorcheln, Erobic … Hier ganz deutlich zu sehen diese kleinen süßen Bungalowhäuschen. Hier sieht man die Tennisanlage. Der Poolbereich. Und hier ist dann direkt der Strand, weißer herrlicher Strand …
Autor Wir sehen schon das Bett, auf dem wir liegen werden.
CHARLIE PARKER, “PARKER’S MOOD” / DARAUF:
Sprecher „Der weiße Mittelstreifen des Highways entrollte sich und streichelte unseren linken Vorderreifen“.
Autor Solche Sätze machten uns besoffen ! Und jeden Morgen: „Wohin jetzt?“ Vier Himmelsrichtungen zur Auswahl. Die Feier der leeren Straße. Kult des Benzins. Zapfsäulen wie Bildstöcke am Pilgerweg.
Sprecher „Es war Zeit, daß wir uns wieder auf den Weg machten“.
Autor Wer das als Teenager gelesen hat, wird nie „Last minute“ reisen. Nie pauschal. Der füttert keine Tauben in Venedig. Der geht den Krampfadern in kurzen Hosen aus dem Weg. Der meidet die „berühmten Orte“, die doch alle Parodien ihrer selbst sind. „Erleben Sie das Nordkap auf der Riesenleinwand !“
Sprecherin Und wo, bitte ?
Autor Am Nordkap ! Wer hat noch Zeit, auf das passende Wetter zu warten!
Sprecher Die Wolken ziehen zu langsam. Schlage vor: Zeitraffer !
Sprecherin O.k. – wird gemacht !
LAST-MINUTE-SCHALTER
Verkäufer Ich geh jetzt auf Buchen, wir sind online verkabelt, ich gebe jetzt ihre Namen ein …
Autor Wie schnell könnten wir jetzt los ?
Verkäufer Sie können sofort los praktisch.
Autor Sie meinen mit „sofort“ heute ?
Verkäufer Sie müßten nur noch die Zeit finden, zwei Stunden vorher zum Flughafen zu kommen … Die Daten rein — und schon haben wir da einen Flug, und der geht heute ab Berlin-Schönefeld um 14 Uhr 10. Wir haben jetzt halb elf. Sie könnten also innerhalb von drei Minuten von mir die Tickets bekommen, könnten noch’n Täschchen packen und sogar die zwei Stunden vorher zum Check-in in Berlin-Schönefeld sein …
Autor „Ich fliege nach Brasilien“, sagt Herr A. Was für ein Irrtum. Herr A. wird nach Brasilien verfrachtet — eingezwängt zwischen Sitzreihen, angeschnallt wie einer, der sich was antun könnte. Da hockt er in seinem Kinderstühlchen in 9000 Metern Höhe, klappt artig sein Brettchen ‘runter und wartet auf die Tante mit dem Wägelchen. Nie wird ihm, wie Hermann Hesse 1911 bei seinem Jungfernflug, „das Reich der Lüfte aufgehen“.
(…)
Sprecherin Nichtfliegen ist Verschwendung von Luftraum !
Steffen Kopetzky Es ist eine Frage, was man daraus macht … Ich kann mir vorstellen, wie stumpfsinnig die Leute des 19. Jahrhunderts in ihren Kutschen saßen, zu 95 Prozent. Und so stumpfsinnig reisen halt 95 Prozent der Leute heute auch. Normalerweise blieben die auch unter sich, wie man das heute tut, wenn man irgendwo in ein Camp fährt, in den „Club Robinson“ oder so, und hatten natürlich Bilder von Rom, hatten natürlich vorprogrammierte Touren, hatten natürlich ganz bestimmte Dinge, die sie wahrnahmen und die sie nicht wahrnahmen. Man muß sich vorstellen: russische Kinder mit ihrer französischen Gouvernante in Rom — ich kann Dir garantieren, daß die genau das erlebt haben, was sie vorher schon wußten. Und Leute wie Goethe, der ein exemplarischer Reisender und Wahrnehmender war, sind damals selten gewesen und sind’s heute auch.
Autor Für den Schriftsteller Steffen Kopetzky, Jahrgang 1971, sind die Fährnisse des modernen Reisens im Grund nichts anderes, als der Radbruch an der Kutsche des Geheimrats von Goethe.
Steffen Kopetzky Da mußte man sich eine Herberge suchen, wo man nicht wußte, ob man unter Gelichter oder Gesindel gerät, wo man ausgeraubt wird. Und heute kreist man stundenlang über dem Flughafen von Denver oder von Washington. Und ich glaube, daß das eine genauso gruselig ist und spannend wie das andere ! Das ist reines Bewußtseinstheater ! Da verändern sich die Leute, mit denen man reist. Die werden völlig aufgeweicht. Da kommen phantastische, faszinierende Einblicke ‘raus. Man müsste sich’s fast wünschen, dass man mal 14 Stunden in der Warteschleife steckt, während draußen ein Gewitter tobt und der Kapitän keine Meldung mehr macht, weil er die Maschine kaum noch halten kann!
(…)
Sprecherin Unsere Cäsiumuhr geht in 10 000 Jahren nur drei Zehntel nach. Drei zehntel Sekunden — wenn’s hoch kommt !
Paul Virillo / Zitator Es gibt ein Gesetz, sich so wenig anzustrengen wie möglich. Das bestimmt die Entwicklung der Technik. Der Mensch spart seine körperliche Kraft und erfindet Prothesen — den Fahrstuhl, das Auto, das Flugzeug, die Rakete. Hinter der Geschwindigkeit herrscht das Gesetz der Trägheit
Autor Paul Virillo ist Philosoph und Dromologe, einer der über Beschleunigung nachdenkt. Und über Stillstand. Denn nach seiner Theorie leben wir schon jetzt im „Zeitalter der intensiven Zeit und nicht mehr der physischen Fortbewegung“. Kein Abschied und kein Wiedersehen mehr. Telepräsenz.
Sprecherin „TAKE YOUR WORLD WITH YOU — ES WAR NOCH NIE SO LEICHT !“
EINE SCHELLACK-SCHALLPLATTE – ENRICO CARUSO SINGT.
Autor … Und dann ergriff Großvater den Tonarm mit der dicken Nadel und –-
CARUSO ABRUPT WEG
Autor So fing alles an ! Vor der Erfindung des Grammophons packten Musiker noch ihre Instrumente ein, wenn das Konzert vorbei war. Enrico Caruso verschwand hinterm Vorhang. Man konnte ihn nicht einfach abschalten.
Und wieder anknipsen.
CARUSO SINGT WEITER. UND WEG.
Autor Seitdem ist unser Leben fragmeniert. Ein einziges Channel-Hopping. Die Töne, die Welt, die Entfernung, die Freundin — An / Aus.
In den Gemüseläden schon jetzt: alle vier Jahreszeiten auf einmal.
(…)
EISENBAHN-WAGGON, INNEN
Autor Der Bürger rast nicht, er reist. Die Schlafwagen der Pullman Company in Nordamerika sind Palasthotels auf Schienen. Wände aus schwarzem Walnußholz, französische Spiegel, Kronleuchter und Teppichflausch.
LOKOMOTIV-SIGNAL
Auch„der Russe“ anno 1925 fährt nicht einfach Eisenbahn, er wohnt in ihr. Die Reise von Moskau bis Wladiwostok dauert 14 Tage.
Notizen des „Rasenden Reporters“ Egon Erwin Kisch vor der Einfahrt nach Charkow:
Sprecherin „Die tipptoppe Dame, die ihren Hut schon kurz hinter Moskau abgelegt hat, zieht ihre Halbschuhe aus und lockert die Strumpfbänder“.
Sprecher Beim Morgengrauen in Nowotscherkassk:
Sprecherin „Die Frauen bleiben in Unterröcken, im Waschbecken auf der Toilette reinigen sie Windeln und hängen sie in der rußigen Heizkammer zum Trocknen auf, die tipptoppe Dame zieht die Lackschühchen nicht wieder an…“
Sprecher Im Kaukasus:
Sprecherin „Die Stammgäste des Waggons duzen einander längst, jeder hat schon ein Mädchen, mit dem er nachts auf dem Korridor steht oder im Heizraum, alle Schranken sind gefallen, auch die Seidenstrümpfe der tipptoppen Dame, sie läuft in schmutziger Nachtjacke und schmutzigem Unterrocke umher. Der gutgebügelte, gutrasierte Herr hat ausgebuchtete Hosen und einen scheußlichen Vollbart, braun sind die weißen Gamaschen.“
Sprecher Und in Baku:
Sprecherin „Nicht mehr bloß schmutzig, nein, auch zerrissen sind Nachtjacken und Unterröcke, zerrauft die Haare.“
Sprecher Und bei der Ankunft in Eriwan:
Sprecherin „Die ehemals weißen Gamaschen sind jetzt schwarze Fußlappen“.
(…)