SFB / WDR 1979 (66:34)
AUS DEM MANUSKRIPT:
(…) AUF EINEM KLANGTEPPICH AUS VERLANGSAMTEN SCHLACHT-GERÄUSCHEN UND CLUSTERHAFT VERFREMDETEN FETZEN DES DEUTSCHLAND-LIEDS:
VETERAN ANTHONY You could pick your spot ! There were so many of them !
ÜBERSETZER Es waren so viele ! Man hielt einfach rein …
SPRECHER Die Geschosse treffen, dringen ein. Sie töten, zerfetzen, verstümmeln. Keine Übungsmunition. Der Hauptmann, der mit gezogenem Degen voranging, aufrecht, Monokel im Auge, Zigarre im Mund, stürzt – und bleibt liegen. Die rote Farbe auf seinem Gesicht ist Blut.
Und viele, die jetzt hinfallen – links und rechts und plötzlich überall — sie sterben echt.
Tod aus Maschinengewehren, wasser- und luftgekühlter, geölter, in Gurten und Trommeln gebündelter, automatisch hämmernder Tod. 500 Schuss pro Minute. Dicht wie Hagelsturm.
Das ist nicht der Krieg, den sie trainiert haben – im Sommer auf dem Übungsplatz bei Potsdam. Der alte Kampf als “Kriegshandwerk” ist überholt. Hier zählt nur Vernichtung, schnell und gründlich, maschinell. Zwanzigstes Jahrhundert.
Aus den Rübenfeldern winken, wimmern, rufen, schreien die Getroffenen. Sie liegen da mit Bauchschüssen und Kopfschüssen, mit Nasenschüssen, Ohrenschüssen, Hals‑, Gelenk- und Hodenschüssen, Rückenmark- und Nierenschüssen, Magenschüssen – zähneklappernd vor Kälte und zitternd vor Todesangst…
Feinde wie wir
Jugend auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs
Aus dem Arbeitsmanuskript 2013
(mit einigen Selbstzitaten aus der 35 Jahre älteren Vorläufer-Sendung
“In den Tod – Hurra!” s. o.)
GRAB‑, KRATZ- und KLOPFGERÄUSCHE / STIMMEN
ERSTER DIGGER (DEUTSCH) … Deutsche Linie da – britische Linie hier … Sie sehen den Abstand !
ZWEITER DIGGER Hier haben wir zwei deutsche Soldaten gefunden … 22 Meter Abstand … Preußische Husaren …
ERSTER DIGGER Der eine lag hier, der andere hier …
ERZÄHLER 50 Deutsche haben sie in letzter Zeit hier ausgegraben.
ERSTER DIGGER (DEUTSCH) Das ist vom Ersten Weltkrieg !
ERZÄHLER Sie nennen sich “Diggers”, die Kriegsarchäologen im Neubauviertel der flämischen Kleinstadt. Sie finden: Tunnel, unterirdische Kommandostellen, Munition und Stacheldraht, Bajonette, Stahlhelme und Kochgeschirr, primitive Gasmasken, Pfeifen, Stiefel, Eheringe … falsche Zähne, abgebrochene Bajonettspitzen, Patronen, Stacheldraht.
Und sie finden ihn.
ERSTER DIGGER Franz Engel …
ERZÄHLER Das, was von Franz Engel übrig blieb. Ein paar Knochen. Eine Gürtellschnalle. Die Erkennungsmarke, aus Zinkblech. Umzuhängen, wo sein Hals war.
ERSTER DIGGER Menschliche Reste …
ERZÄHLER Ein Soldat aus Neuruppin in Brandenburg. Reserve-Infanterie-Regiment 206. Er wurde neunzehn Jahre alt.
(…)
VETERAN GLUSKA Sehen Sie mal: Vor dem Ersten Weltkrieg war ja dieser wahnsinnige Konkurrenzkampf England gegen Deutschland, nicht wahr ! Wir waren ja eine sehr unbequeme Konkurrenz, und der Engländer glaubte, Deutschland als Handelsnation zu vernichten.
Audio 2 / 3–03 Wissen Sie, was wir gesungen haben ? Das bekannte Lied von Lissauer: „Was schert uns Russ’ / was schert uns Franzos’ / Schuss um Schuss ! / Wir alle haben nur einen Feind: / England !“
DAS GEDICHT (CHORISCH) AUF EINE WUCHTIGE ORGEL-PARAPHRASE:
VERTEILTE STIMMEN Dich werden wir hassen mit langem Hass / Wir werden nicht lassen von unserm Hass / Hass zu Wasser und Hass zu Land / Hass des Hauptes und Hass der Hand / Hass der Hämmer und Hass der Kronen / Drosselnder Hass von siebzig Millionen / Sie lieben vereint / Sie hassen vereint / Sie haben alle nur einen Feind: / England !”
KLANG UND TEXT ABRUPT ENDEND
VETERAN GLUSKA Das war auch unsere Einstellung !
VETERAN DAWTON We had been prepared for a German conflict for two or three years before.
ERZÄHLER Auf Krieg mit Deutschland waren wir seit zwei, drei Jahren vorbereitet – so erinnert sich der alte Mann aus dem Hafenstädtchen Whitstable im Süden Englands. Und sein Nachbar Turner sagt:
VETERAN TURNER Even years ago before the war we were always reading books where the Germans were supposed to have invaded us.
ERZÄHLER In den Büchern wurden wir von Deutschland immerzu erobert, lange vor dem Krieg.
VETERAN TURNER And I believe it was the same in Germany. They were always afraid that England was going to invade them.
ERZÄHLER Und die Deutschen hatten wohl Angst, dass w i r sie überfallen.
# KLANGWOLKE 2
ERZÄHLER Europa wogt, tanzt und taumelt im Kriegsfieber. Es schießt Salut und schreit Hurra ! Wirft Zylinder, Baskenmützen, Stohhüte und Türkenfeze in die Luft. Lässt Stiefel knallen, Glocken läuten und die Dudelsäcke schnarren.
(…)
VETERAN DER SERBISCHEN ARMEE 1 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Dieser Montenegriner ist schon mit Vierzehn Soldat geworden. Um Serbien zu verteidigen.
VETERAN DER SERBISCHEN ARMEE 2 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Er und seine Schulfreunde wanderten von der serbischen Südgrenze 250 Kilometer über Skopje und Mitrovica bis zur Drina-Front.
VETERAN DER SERBISCHEN ARMEE 3 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Und dieser ging als Siebzehnjähriger mit seinen Kumpeln aus dem Städtchen Čačak einfach los, immer nach Nordwesten, wo die Front sein sollte.
Bloß den Krieg nicht verpassen! Sie sind fast noch Kinder. Haben kein Gewehr und keine Uniform. Ziehen von Kaserne zu Kaserne, viele Tage. Unterwegs müssen sie um Brot betteln.
MRS. TURNER They were all youngsters. And hardly any of them came back.
ERZÄHLER Alle so jung, erinnert sich Mrs. Turner aus Whitstable – und kaum einer kam zurück.
VETERAN HALLADAY If you ever went out to Poelkapelle in Belgium you found a little boy’s grave there — fourteen. He was in the Irish regiment, the little boy …
ERZÄHLER In Poelkapelle in Belgien ist das Kriegsgrab eines kleinen Jungen aus dem irischen Regiment. Er war 14.
VETERAN HALLADAY His mother found he was out there and was claiming him. And as he was coming down the line with the escort they both got killed.
ERZÄHLER Seine Mutter wollte ihn zurückhaben. Also holten sie ihn von der Front. Unterwegs wurden sie getötet — er und sein Begleiter.
(…)
ERZÄHLER Wir waren alle so jung. Ich war sechzehn, meine Freunde höchstens achtzehn Jahre.
TÜRKISCHES KRIEGSLIED / DARAUF:
ERZÄHLER Ich ziehe in den Krieg, Mutter / dem Feind entgegen / Oh, meine Jugend ! / Das 13. Batallion marschiert in den Krieg / Oh, meine Jugend …
DAS LIED BIS ZUM ENDE DES FOLGENDEN TEXTES, DANN ÜBERGEHEND IN ENTFERNTE KLANGWOLKE MIT ANGEDEUTETEN FOLKLORISTISCHEN ELEMENTEN UND SOLDATENLIEDERN
ERZÄHLER Auch in weit entfernten Ecken der Türkei packen junge Männer ihre Sachen. Alle, die in diesem Jahr Zwanzig werden, rücken ein. In Staubwolken gehüllt ziehen Gruppen kleiner Mehmets, wie sie nach dem Allerweltsvornamen zärtlich heißen, zu den Rekrutierungsstellen. Von Neuseeland und Australien, ihren neuen “Feinden”, haben wohl die wenigsten gehört. In vier Wochen werden sie verbissen aufeinander einschlagen.
Das größte Heer der Welt sammelt sich in Russland: dreieinhalb Millionen Mann, acht von zehn sind Bauernsöhne.
Auf den Bahnhöfen des Riesenreichs nehmen die Soldaten Abschied. Wild sind sie und ausgelassen, tanzen, schreien durcheinander. Ihre Mütter weinen, und die Väter segnen die beschwipsten zukünftigen Helden.
In England formiert sich die Massen-Armee des Kriegsministers Herbert Kitchener: “Kitchener’s Army”. An jeder Mauer das Plakat mit seinem steilen Schnurrbart und dem suggestiven Zeigefinger: ICH WILL HAARGENAU DICH !
In einem halben Jahr zwei Millionen volunteers — “Kriegsfreiwillige”.
Vor dem Einstellungsbüro in Scotland Yard standen sie kilometerweit Schlange.
“WALTZING MATHILDA” (ORIGINAL) ALS TEIL DER KLANGWOLKE
ERZÄHLER Die Australier wurden nicht gefragt. England hat den Krieg im Namen aller Kolonien und Dominions ausgerufen – ob sie wollen oder nicht.
ZITAT-SPRECHER HALL Mein Name ist Frederic Hall. Ich bin aus New South Wales. Mein Vater war Tankwart. Daddy wählte immer Labour. In den letzten Wochen vor dem Krieg sammelten wir Unterschriften gegen die geplante Wehrpflicht.
Aber dann meldete ich mich sogar freiwillig — aus Patriotismus, nehme ich an. Es ging ja, wie man immer sagte, um den “Krieg, der alle Kriege abschafft” – “The war to end all wars“. Meine Haltung hat sich bald geändert. Aber dann war es schon zu spät.
KLANGWOLKE WEG
VETERAN HALLADAY I was an apprentice motor body maker. I was getting five shillings a week in English money which was not much them days.
ERZÄHLER Dieser einfache Soldat aus dem Mutterland des britischen Weltreichs lernte Karosseriebauer und bekam nur fünf Schilling die Woche.
VETERAN HALLADAY There was lot of unemployment. Unemployment ! And it was the unemployment side and bad pay that drove them in the army !
ERZÄHLER Große Arbeitslosigkeit und schlechte Bezahlung – deshalb ging man zum Militär.
VETERAN HALLADAY It ’s not the working class people who want war ! It ’s the rich who have invested in ammunition works and all that, making the money.
ERZÄHLER Das Geld machen die Reichen – mit der Rüstung.
Er zum Beispiel: Zacharias Basileos Zaharoff aus einem Armenviertel Istanbuls, jetzt Pate aller Waffenhändler in Europa. Der frühere Handlungsreisende der schwedischen Rüstungsfirma Nordenfelt ist Geschäftsfreund der Krupp-Dynastie und damit auch des deutschen Kaisers, der einen Teil seines Privatkapitals günstig bei Zaharoffs englischer Waffenschmiede Vickers angelegt hat. Auf seiner Schmiergeldliste führt der “Händler des Todes” Regierungsbeamte und Militärs aller kriegführenden Staaten. Zaharoff kennt weder Freund noch Feind. Geschosse aus dem Zaharoff-Konzern Vikers schießen aus den Rohren aller Kriegsparteien. Englische Granaten sind mit Spezialzündern der deutschen Firma Krupp versehen — für einen Schilling und drei Pence das Stück.
Tag und Nacht rollen die Waffentransporte.
Die Heimat produziert, die Front verbraucht – Granaten, Soldaten.
KOMMANDO Abteilung halt ! – Gewehr ab ! – Rührt euch !
ERZÄHLER Schallplatte der Deutschen Grammophon, Herbst 1914.
BÜRGERMEISTER Schwere Zeiten sind über uns hereingebrochen. Feinde ringsum. Nach 44 Jahren zwingt man uns die Waffen in die Hand, um nach segensreichen Jahren des Friedens unser Hab und Gut und unsere Stellung als Großmacht zu verteidigen. Wie ein Mann hat sich Deutschland erhoben, und freudig ziehen die Söhne unseres Volkes hinaus, um in blutigen Schlachten deutsche Ehre und deutsches Eigentum zu schützen.
Unser geliebtes Regiment … Hurrah ! Hurrah !
DIE MENGE Hurrah ! Hurrah ! Hurrah !
GESANG, IN KLANGWOLKE // ÜBERGEHEND / DARAUF:
ERZÄHLER September 1914. Nach Anfangserfolgen, die in der Heimat bejubelt wurden, kommt der Feldzug gegen Frankreich nicht vom Fleck. Generalleutnant von Falkenhayn, der “Mann mit den eisernen Nerven”, genehmigt sich noch fünf Reservekorps – Lehrlinge und junge Arbeiter, Angestellte, ganze Klassen höherer Schüler mit den Lehrern, Studenten – an der Spitze ihre Professoren. 120 000 Mann. Gemessen, gewogen, betastet, abgeklopft – tauglich !
Jeder von ihnen kann laden, zielen, die Fußlappen wickeln und das Bajonett aufpflanzen — auch Franz Engel aus Neuruppin.
ZITAT-SPRECHER FRANZ ENGEL Mein Kriegstagebuch … Wir sind eingekleidet. Trefflich charakterisierte Feldwebel Gerstenberg den Wechsel vom bisherigen ins neue Leben, indem er ausrief: „Es ist dies der wichtigste Moment, in dem der Mensch sich vom Tier unterscheidet !“
ERZÄHLER Am Bahnhof wird das Regiment verladen. Die jungen Männer singen, dass die Heide wackelt. Patriotismus und Freibier. Mütter weinen. Väter stehen in der Menge stramm; überreichen ihre Söhne stolz dem guten, klugen, fürsorglichen Vaterland.
Es wird sie nie mehr hergeben.
Mädchen aus allen deutschen Volksliedern begleiten die singende Truppe … werden mitgerissen, sträuben sich ein wenig, lachen, singen …
Ein Primanerausflug — von der Heimat in den Tod ! Hurra ! Schnell hinein, bevor der Krieg zu Ende geht !
Franz Engel taucht im Feldgrau unter, das alle gleich macht.
LANGE KREUZBLENDE IN KLANGWOLKE # ///, BEGINNEND MIT MÄNNER-CHORGESANG:
… Wildgänse rauschen durch die Nacht / mit schrillem Schrei nach Norden. / Unstäte Fahrt ! Habt acht, habt acht ! / Die Welt ist voller Morden …
ERZÄHLER Grau-in-Grau bewegen sich die stoffbespannten Helme auf und ab. Männer — Nebenmänner — Hintermänner — Vordermänner. Knabengesicht an Knabengesicht. Räder knirschen, Pferde schnauben. Eintönig klappen die Stiefel.
MÄNNERCHOR Wir sind wie ihr ein graues Heer / und fahr ’n in Kaisers Namen. / Und fahr ’n wir ohne Wiederkehr / rauscht uns im Herbst ein Amen …
ERZÄHLER Ihr Leben hat eine Richtung bekommen: nach Westen.
Das Große-Ganze denkt und handelt jetzt für sie. Nur als Kinder durften sie so unbeschwert sein.
KLANGWOLKE UNTER DEN LETZTEN SÄTZEN WEG
(…)
ERZÄHLER Ein schwungvoller Pfeil auf den Generalstabskarten markiert den preußischen Kriegsplan: Durchbruch im Westen, Frankreich schlagen, dann die nackte deutsche Faust gegen Russland. Bedauerlicherweise führt der große Schwenk durch die neutralen Länder Belgien und Luxemburg.
VETERAN GRASSMANN Bei mir eigentlich immer Erstaunen: Was machen wir bloss hier ? Wie können wir über die belgische Grenze einmarschieren in ein damals doch friedliches Land — Belgien ? Da fallen wir ein wie in Feindesland, brennen da die Höfe ab und rauben das Vieh und schießen auf die Zivilisten !
ZITAT-SPRECHER DANILOV Uns Infanteristen von der Zweiten Russischen Armee hat man 50 Kilometer vor der ostpreußischen Grenze ausgeladen. Nur der Generalstab weiß, warum.
ERZÄHLER Auch er schreibt Tagebuch: der 18jährige Gymnasiast Viktor Danilov. Er kommt aus Roslawl in der westrussischen Oblast Smolensk.
ZITAT-SPRECHER Fast ohne Pause marschieren wir elende Straßen entlang. Wir sind erschöpft und halb verhungert. Die Verpflegung kommt nicht nach. Wir haben unsere eisernen Rationen längst verzehrt.
Die Straßen sind verstopft von Flüchtlingen und Vieh …
ERZÄHLER In Belgien notiert der Schüler Franz Engel:
ZITAT-SPRECHER ENGEL 20. September 1914. Die Sonne strahlt. Der Himmel: wolkenlos. Gefangene Engländer werden vorübergeführt, einige darunter, die noch vor kurzem in Deutschland Fußball gespielt und gewonnen haben.
Der Unterführer lässt sein Pferd tänzeln. Wendet schneidig und reitet die Marschkolonne entlang. Pferdeäpfel säumen unsern Weg nach Frankreich.
„Wenn die Blätter fallen“, sagt der Kaiser, „seid ihr wieder zu Hause !“
Die Blätter werden langsam gelb.
(…)
ERZÄHLER 6. August 1914: Die Save abwärts, drei Lastkähne der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, 2000 Mann. Wie Heringe.
Der Journalist Egon Erwin Kisch, jetzt Korporal im VIII. Prager Korps der österreichisch-ungarischen Streitmacht auf dem Weg nach Serbien. Er führt einen “Schwarm” von zwölf Soldaten in den Krieg.
Im Bosnischen Bjelina ist schon Orient. Kisch notiert den Ruf des Muezzin …
TAGEBUCH-STIMME KISCH … verschleierte Frauen, kleine Mädchen in Pluderhosen, weißbärtige Türken unter Fez und Turban.
10. August Soeben die ersten Leichen des Krieges gesehen. In der Totenkammer des Militärlagers liegt der eine in der Uniform des 73. Regiments; der andere nackt, von Schrapnellkugeln durchlöchert, blutüberströmt, die Hände gefaltet.
Dienstag, 11. August Nachschub von vierzehnhundert Mann ist angekündigt. Arme Rekruten ! Bevor sie noch mit dem Gewehr Bescheid wissen, dienen sie als Kugelfang. Die Jungs tun uns aus tiefster Seele leid. Schon beim Vormarsch wurden einige erschossen.
Donnerstag, 13. August. Seit Bjelina begleitet uns ein schwarzer Wächterhund, der seine Truppe verloren hat. Im Gefecht wurde er durch einen Schuss am Rücken verletzt und schleicht jetzt müde und blutig hinter uns her. Wir, wie immerfort auf österreichische und serbische Leichen und schrecklich verwundete Menschen stoßen, haben mit diesem Hund grenzenloses Mitleid.
KLANGWOLKE, WIE FERNER GESCHÜTZDONNER
ERZÄHLER In Flandern die ersten Soldatengräber. Auf der Straße Blutlachen. Das Blut ist eingetrocknet, schwarz. Zerfetzte Bäume, zerschossene Häuser. Und Tierkadaver.
TAGEBUCH-STIMME ENGELS Entsetzlich das Brüllen der Kühe, die nicht mehr gemolken werden. Mit riesigen Eutern, zerfressen von Milchbrand, irren sie umher.
ERZÄHLER Der Übermut wie weggewischt. Blass der Major, blass der Oberlehrer, blass der Korps-Student mit den Mensurnarben.
Dichtung und und Wahrheit wollen nicht mehr zusammenpassen.
ZITAT-STIMME ENGELS Hauptmann von Keitz verliest noch einmal den Befehl des Kaisers: “Vorwärts und drauf mit Gott !”
Unser Bataillon hat über hundert Fußkranke.
KLANGWOLKE WEG
SCHALLPLATTE DER DEUTSCHEN GRAMMOPHON, HERBST 1914:
SCHAUSPIELER-STIMME “Stillgestanden ! Der Feind will uns den Weg nach Frankreich nicht freimachen. Darum müssen wir kämpfen ! Es geht auf Leben und Tod ! Mit Gott für König und Vaterland !”
VETERAN HENSEL Da war die Regimentskapelle noch vorne weg. Die hat gespielt ! Dann ist irgendjemand gekommen und hat gesagt: Kinder, wir sind doch jetzt unmittelbar an der Feindberührung — wie könnt ihr hier noch spielen ! Hat die Musik natürlich sofort aufgehört.
VETERAN GLUSKA Und dann begann der Krieg.
(…)
ERZÄHLER 6 Uhr 30. Aufwachen zum Sterben !
Dunst liegt über den Feldern. Vögel fliegen auf.
Franz Engel aus Neuruppin rückt den Sturmriemen zurecht. Der Feind in 300 Metern Entfernung. Kasernenhofdistanz.
Nur der Hauptmann ahnt, dass sie alle zum Verbrauch bestimmt sind. Ihre Masse soll den Feind in Spannung halten, abnutzen, ihn müde machen. Gesiegt wird später und von anderen – vielleicht.
Von Osten rollt Nachschub aus den „Rekrutendepots“. Die voraus-blickende Heimat schickt Ersatz. Und schon Ersatz für den Ersatz.
Die Hornisten blasen. Sturmsignal. “Rückt vor – rückt vor – schneller vor – vor – vor!”.
Niemand muss Franz Engel in den Kampf hineintreiben. Die Furcht, jetzt zu versagen – das Vater-Land, das strenge zu enttäuschen – ist stärker als Todesangst.
Mit einem sportlich-eleganten Satz schwingt er sich über den Erdwall.
(…)
ERZÄHLER Die Volunteers in Kitcheners Army sind 16, 17 höchstens 18 Jahre alt. Sie erleben ihre Hölle 1916 an der Somme. Zwei Drittel der englischen Batallione in Frankreich bestehen aus “Kriegsfreiwilligen”, frisch aus der Heimat und völlig unerfahren.
Viele sind als “Pals Battalions” in den Krieg gezogen – alle Mann aus einer Stadt, einem Sportclub, einem Warenhaus, einer Reederei, einer Kohlenzeche – alle bei der selben Einheit ! “Join together — serve together”.
ZITAT-STIMME FRANK MUNROE Am Morgen der schrecklichen Schlacht ließ sich Captain Morrison von seinem Batman heißes Rasierwasser bringen und die Uniformen ausbürsten. Zur Feier des Tages zog er seine Silbersporen an.
Mit begeistertem Gejohle verfolgten wir Soldaten das höllische Bombardement auf die deutschen Stellungen, mit dem der Sturm vorbereitet werden sollte. Vom Navy Rum, den sie herumreichten, kamen manche bei den 11th Forresters kaum noch auf die Beine.
ERZÄHLER Der junge Korporal Egon Erwin Kisch notiert in Serbien:
ZITAT-STIMME KISCH Hauptmann Spudil erscheint in seiner elegantesten Uniform, mit dem Verdienstkreuz angetan, den Schurrbart in die Höhe gezwirbelt, als ob er zur Hochzeit ginge, und sagt: “Morgen um 5 UHR !”
Gegen ein Uhr nachts bekommt der Oberleutnant eine verschlossene Meldung. Ich weiß sofort, was sie enthält, denn er reicht seinem Burschen Uhr und Brieftasche.
Der Sturm wird Hunderten von uns das Leben kosten.
ERZÄHLER Wie ein Standbild steht der gegnerische Kommandeur auf dem Schanzwerk, nur wenige hundert Meter entfernt.
SERBISCHER VETERAN 1 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER “Vorwärts, Brüder !” sagt er. “Zittert nicht um euer Leben, wie ich nicht um meines zittere. Alles für unsere Heimat, unser Serbien !“ Und der Kommandeur einer Nachbareinheit:
SERBISCHER VETERAN 2 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER “Kameraden ! Es geht los ! Nur zwei Möglichkeiten: Ein ehrenvoller Tod. Oder ein Sklavenleben im eigenen Land.
SERBISCHER VETERAN 3 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Gute Männer, sagt er, sind unsterblich !
TAGEBUCH-STIMME FRANZ ENGEL Manchem ist der Mut verflogen. Da geht unser Hauptmann von Weyrauch noch einmal die Schützenlinie entlang, Monokel im Auge, Zigarre im Mund. Und neue Zuversicht ergreift die Truppe.
ERZÄHLER Der Hauptmann als menschliches Maß in diesem maßlosen Geschehen. Vater und Beschützer. Idol. Fast ein Heiliger. Das Vaterland in Person.
VETERAN GLUSKA Ja — es war noch so, dass unsere Offiziere nach dem Schema 1870/71 mit uns vorgingen. Sie gingen tatsächlich uns voran mit gezogenem Degen, als ob ’s keine Maschinengewehre gab.
VETERAN GRASSMANN Der Offizier muss stehend das Gefecht durchmachen. Es ist unwürdig, sich in den Dreck zu schmeißen !
VETERAN HENSEL Kennzeichnend dafür ist, das unser damaliger Kommandeur, Graf Pourtalès, mit aufgepflanztem Seitengewehr vor dem Bataillon voraus stürmte und uns zurief: “Mir nach, Jungs !”
ERZÄHLER Bei Albert an der Somme lauern die 9. Inniskillen Fusiliers aus Ulster, irische Farmersöhne meist. Auf der Brustwehr steht der Kommandeur. Durch ein Megaphon wünscht er seinen Jungs “the best of luck”.
“Und alle hatten fröhliche Gesichter”, sagt ein Augenzeuge später.
Die jungen Männer aus dem Pals’ Batallion “Newcastle Commercials” jagen einem football nach, den ein bekannter Sportler nach den Deutschen kickt.
SERBISCHER VETERAN 2 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER “Als der Angriff beschlossen war”, sagt er, “haben wir alle vor Freude getanzt und gesungen”.
SERBISCHER VETERAN 1 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Sie konnten den Befehl zum Sturm kaum erwarten.
SERBISCHER VETERAN 3 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Unser Kommandeur hat noch gefragt: Wer geht freiwillig zuerst?
Jeder hat gerufen: Ich — Herr Offizier ! Dann ist er selbst aufgesprungen. “Das MG mit seinen 26 Kilo”, sagt er, “war auf einmal leicht wie eine … Feder”. Wollte nur vorwärts, vorwärts ! Es lebe Serbien, unser König Peter ! Auf einmal war er voller Blut.
Keiner von denen, sich sich zuerst gemeldet hatten, kam aus der Schlacht zurück.
VETERAN BECKER Um 6 Uhr 30, als wir da aus dem Graben herauskletterten und wie eine Menschenwoge gegen den Feind wateten, denn an ein Laufen war gar nicht zu denken, setzte von drüben ein derart rasendes Infanterie-Maschinengewehrfeuer ein. Man glaubte, die Luft kocht. Alles war in Rauch gehüllt. Man konnte sich zum Teil gar nicht mehr sehen. Und die Flachbahngeschütze, die hauten dazwischen. Es war ein furchtbares Erlebnis.
KLANGWOLKE
ERZÄHLER Ringsum die hohen schmutzig-braunen Erdfontänen der Granateinschläge. Und ihr Luftdruck. Und der Höllenlärm – dieses Rollen, Prasseln, Hämmern, Jaulen … Das Gebell der Maschinengewehre. Pfeifen und Zwitschern.
ANZAC (Australian and New Zealand Army Corps)-VETERAN The bullets came down like “Ffffft … Ffffft …”
(IMITIERT DAS GERÄUSCH)
SERBISCHE VETERANEN (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER “Mit einem Schlag”, sagt er, “ballerte alles los, was wir hatten – die ganze Artillerie”. Sie wurden fast taub. Es klang wie Weltuntergang.
SERBISCHER VETERAN 3 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Er sagt das etwa so: “Eine Dunkelheit kam über uns – Pulver, Rauch und Blei“.
(…)
ERZÄHLER Auf dem Schlachtfeld ist das eingeübte deutsche Angriffstempo – 180 Schritt in der Minute – leider nicht zu halten. Das “Feld der Ehre” ist ein aufgeweichtes Rübenfeld.
Beladen wie ein Packesel watet der Soldat Franz Engel feindwärts. Er schleppt Tornister, Brotbeutel und Spaten, Feldflasche und Zeltbahn, Aluminium-Kochgeschirr, zwei Patronentaschen. Allein das Mauser-Gewehr mit aufgestecktem Bajonett wiegt viereinhalb Kilo. Wie soll er damit stürmen ?
Aus dem Angriff, hundertmal geübt, wird ein hundsgemeines Stolpern. Kriechen. Fallen.
TAGEBUCH-STIMME KISCH Die Serben feuern wie verrückt. Nicht weit vor unserem Graben liegt der lustige Hauptmann Spudil. Eine Granate hat ihm den Kopf abgerissen. Die funkelnagelneue Extrauniform ist mit Blut begossen.
Auf offenem Feld ein Offizier, nur noch leise röchelnd: Oberstleutnant Kučera. Ich kenne seine Braut.
ERZÄHLER Zur befohlenen Zeit — seven twentyfive a. m. – schrillten die Signalpfeifen der Zugführer, und 60 000 Mann verlassen gleichzeitig die Schützengräben an der Somme in Frankreich. Marschieren in die Killing Fields hinein – mit 60 Pfund Gepäck (200 Schuss Patronen, Essen für zwei Tage, Handgranaten, Spaten und Signalraketen) – einige mit Brieftauben in Körben als Kuriere zu den Feuerleitstellen. Andere mit dicken Rollen Stacheldraht.
Dann das Geratter der Kugelspritzen 08 – britisches Modell, deutsche Wertarbeit. Jeder Schuss ein Treffer !
VETERAN RICHARDY Wir arbeiteten uns sprungweise heran. Und Sie werden es kaum für möglich halten: Das war so wie auf dem Kasernenhopf und wie ’s im Exerzierreglement steht …
VETERAN KUHNERT … auf “Sprung auf !” eine Hockstellung. “Marsch-Marsch !” aufspringen und dementsprechend laufen. Das geschah auf breiter Front gleichzeitig, und die Folge war, dass die Schüsse überall ein Ziel hatten.
VETERAN HENSEL Es ist mir durch einen Querschläger das linke Auge ‘rausgerissen worden, wobei das Jochbein, das linke Jochbein zersplittert war und dementsprechend eine ziemlich tiefliegende Narbe hinterließ. Ich nahm meinen Tornister vor und sagte mir: Ich komme ins Lazarett, und da muss ich wenigstens saubere Wäsche haben. Hab mir Unterwäsche ‘rausgesucht und die übern Arm genommen und bin damit im wahrsten Sinne des Wortes aus der Linie getorkelt.
VETERAN ANTHONY When the Germans did advance all hell was let loose. They must have come over in their thousands. We could popp them off as easy as anything.
ERZÄHLER Als sie kamen, brach die Hölle los, erinnert sich Frank Anthony. Es müssen Tausende gewesen sein. Nichts leichter als sie abzuknallen.
VETERAN ANTHONY They were in lines … What I couldn’t understand, is why they came over so close together. Instead of apart ! A matter of about five yards apart ! But you couldn’t miss !
ERZÄHLER In geschlossener Formation, keine fünf Meter von einem zum anderen, waren sie nicht zu verfehlen !
VETERAN ANTHONY They came in their military honors with their piked hats – hundreds upon hundreds of young German boys, and they were popped off easy. And for every Englishman that was killed there must be dozens of Germans falling.
ERZÄHLER Sie kamen mit ihren Pickelhauben, Hunderte und Aberhunderte. Alle blutjung. Und wurden einfach abgeknallt. Für jeden britischen Soldaten fielen Dutzende von Deutschen.
VETERAN GLUSKA Besinnungslos und ohne Hemmungen und ohne eigene Entschlüsse machte man das eben. Dies war unabwendbar !
KLANGWOLKE / EINANDER ÜBERKREUZENDE ZITAT-STIMMEN:
… Dem Soldaten ist das kalte Eisen in die Hand gegeben. Er soll es führen ohne Scheu. Er soll dem Feind das Bajonett zwischen die Rippen rennen. Er soll sein Gewehr auf ihre Schädel schmettern. Das ist sein Gottesdienst …
… Es kommt nicht darauf an, dass der Einzelne von uns gesund nach Hause kommt, sondern dass unser geliebtes Vaterland siegreich …
… Krieg ist Welthygiene !
KLANGWOLKE ZÜGIG WEG
VETERAN GLUSKA Da ist man mehr wie ein Automat. Wir hatten kein heroisches Gefühl — nix !
VETERAN GLUSKA Es wagte ja auch überhaupt keiner, das Gewehr wegzuschmeißen und zu retirieren. Da hätte schon der Nachbar, der Soldat, das verhindert.
ERZÄHLER Dienstunterricht für den Infanteristen des Deutschen Heeres, Ausbildungsjahr 1915/16:
ZITAT-STIMME FRANZ ENGEL (KENNTNISNEHMEND) “Wer ohne Befehl zurückgeht oder durch ängstliche Ausrufe mit seiner Feigheit die Kameraden anstecken sollte, wird mit dem Tode bestraft. Jeder Vorgesetzte ist berechtigt, von der Waffe Gebrauch zu machen, um seinen Befehlen im Falle der äußersten Not Gehorsam zu verschaffen”.
ERZÄHLER Zaudernde werden “zurückgeführt” – “mit allen Mitteln der Disziplin”. Klartext:Wer sich in die Hosen macht und flieht, wird erschossen.
Als Ausweg nur das Heldentum.
ZITAT-STIMME KISCH Mittwoch, 16. Dezember Heute hatte ich Gelegenheit, serbische Originalbefehle zu lesen: “Gegen fliehende Bataillone ist eigenes Geschützfeuer zu eröffnen, gegen fliehende Unterabteilungen Maschinengewehrfeuer, gegen fliehende Schwärme Gewehrfeuer. Einzelne Flüchtlinge sind von der Feldpolizei niederzumachen”.
VETERAN BECKER Man stolperte über die Toten weg. Und der Zugführer, der Leutnant, fiel ja auch gleich. Erst kriegte er ’n Schuss und fiel hin und stand wieder auf … sprang auf und lief noch ’n paar Schritte. Kriegte dann einen tödlichen Schuss und fiel dann hin …
ERZÄHLER Der deutsche Hauptmann von Weyrauch, der mit gezogenem Degen voranging, aufrecht, Monokel im Auge, Zigarre im Mund – stürzt – und bleibt liegen. Die rote Farbe auf seinem Gesicht ist Blut.
Oh Gott — ich glaube — ich bin …
Getroffene kriechen zurück. Tot der Vater, sterbend der Sohn. Der Lehrer tröstet den Schüler, dem die eine Brustseite zerfetzt ist. Bei jedem Atemzug schiebt sich eine blankblutige Rippe in die Wundöffnung. Atemluft brodelt heraus.
Einige wühlen sich in die Erde. Oder stehen steif im Feuer, kichernd, unfähig, nur einen Finger zu bewegen.
Viele schreien. Aber manche sterben lautlos. Eine Granate und BUMM. Keine letzten Worte.
VETERAN BECKER Wir haben ja in der kurzen Zeit von acht bis zehn Minuten ungefähr 31 Offiziere und über elfhundert Mann verloren. Alles feldgrau von unserm Graben bis zum feindlichen … lag alles tot.
ERZÄHLER Der Soldat Franz Engel fühlt und denkt — nichts. Die Spitze seines Bajonetts sucht den Feind. Den unsichtbaren. Überall verstreut graue Uniformstoffbündel, die sich noch bewegen. Nicht der einzelne Soldat — ganze Kompanien sind das Ziel. Alles was da wimmelt, wird vertilgt. Wie Ungeziefer.
Vickers-Maschinengewehre feuern 500 Schuss pro Minute und ersetzen jeweils hundert Einzelschützen. In Tunneln unter der ersten Linie des Gegners gezündete Landminen schleudern Menschen meterhoch in die Luft. Flieger werfen Bomben mit der Hand von oben auf das Schlachtgewimmel. Flammenwerfer verbacken Stoßtrupps zu grausigen schwarzen Skulpturen.
20. Jahrhundert. Der ritterliche Kampf ist abgesagt.
KLANGWOLKE WEG
ERZÄHLER Es ist Nacht, als das Australian and New Zealand Army Corps das Ziel der langen Reise ansteuert – die Halbinsel Gallipoli. Der Plan, den Winston Churchill ausgeheckt hat, soll die Dardanellen offen halten – Nachschubweg für das alliierte Russland und den späteren Zugriff auf das Festland der Türkei.
Auf die jungen Männer mit den kecken Outback-Uniformhüten wartet ein winziger Streifen Strand, 600 Meter in der Länge; vom Wasser bis zur Steilküste kaum fünfzig Schritt.
ERSTER ANZAC-VETERAN It was a stupidity. I never heard of such things as army was concerned. The Germans had fortyfied that place. Made it almost impregnable.
ERZÄHLER Was für ein Wahnsinn, sagt dieser Veteran. Die deutschen Waffenbrüder der Türken hatten die Stelle befestigt und praktisch uneinnehmbar gemacht.
ZWEITER ANZAC-VETERAN Two Australian boats beyond the head ran directly into the fire of Turkish machine-guns. And they were lying dead either in the boat or on the beach. Two boats of Australians. Dead.
ERZÄHLER Zwei australische Landungsboote fuhren geradewegs in das Feuer der türkischen Maschinengewehre. Und schon waren die Schaluppen und der Strand mit Leichen übersät.
DRITTER ANZAC-VETERAN When we advanced there was just a mass of bullets. The ground was hopping with bullets as if it was hailing.
ERZÄHLER Ein Kugelregen, dicht wie Hagel. Der Boden hüpft ihnen förmlich unter den Füßen.
Oberhalb der Küste lauern – wie die Indianer eines Westernfilms –kriegsgewohnte Truppen, aber auch die jungen, ahnungslosen Kerle aus dem Hinterland. Die fünfte Türkische Armee zählt 84.000 Mann. Ihr Chef heißt Mustafa Kemal, später “Atatürk” – “Vater der Türkei”.
Sein Ausspruch für die Schulbücher: „Mein Befehl lautet nicht ‚Angreifen!’ Er heißt ‘Sterben!”
FÜNFTER ANZAC-VETERAN Of course they cut the fellows to pieces, really murdered them actually. Useless!
ERZÄHLER Natürlich machten sie Hackfleisch aus unseren Boys. Brachten sie regelrecht um. Sie da hinauf zu schicken, war buchstäblich Mord.
ANZAC-VETERAN It was a matter of disorganized crowds, groups of these fine young pals, not knowing where to go, no one in charge, no orders, no possibility of officers’ coordination. There was no planing so to speak.
ERZÄHLER Die bepackten Boys aus Sydney, Newcastle und Canberra quälen sich die Steilküste der Halbinsel Gallipoli hinauf; verirren sich im dichten Buschwerk. Niemand weiß wohin. Keine Planung zu erkennen. Offiziere machtlos. Kommandos dringen nicht mehr durch das Kriegsgebrüll.
FÜNFTER ANZAC-VETERAN And we were intended to land there. And all these hills …
(…)
ERZÄHLER Tannenberg/Masuren. Die Russen haben Teile Ostpreußens im ersten Sturm erobert. Eine Woche später schreibt der Oberschüler Danilov in sein Tagebuch:
ZITATOR DANILOV Unsere Freude war verfrüht, der schnelle Sieg in den Masuren ein Geschenk des Zufalls. Erobern und Besetzthalten sind zweierlei. Der Battalionskommandeur ist eine Mumie, die ihr ganzes Leben auf dem väterlichen Gut verschlafen hat. Wer kommandiert hier eigentlich ? Wo verläuft die Front ? Unsere grandiosen Feldherrn leiten Fantasie-Schlachten mit Fantasie-Einheiten. Sehen uns wohl schon in Berlin.
Doch der Krieg läuft aus dem Ruder.
Spätabends prescht ein kosakischer Meldereiter vorbei.“Die Deutschen – die Ulanen kommen !” ruft er. Panik. Infanteristen feuern blindlings in die Nacht. Ungesattelt die ganze Schwadron im Gallopp die Chaussee hinunter … Die Feldküchen ihr nach. Menschen werden zertrampelt, niedergewalzt. Eine Ambulanz überschlägt sich.
Demnach sind wir auf der Flucht ?
(…)
ERSTER ANZAC-VETERAN Dig … dig … They were digging literally for their lifes.
ERZÄHLER (VOICE OVER) Sie gruben tatsächlich um ihr Leben, die jungen volunteers aus Neuseeland und Australien – mit dem Bajonett, dem Essgeschirr, mit blossen Händen. Die Erde hart wie Stein. Die Schützengräben vor Gallipoli wurden grade 40 Zentimeter tief.
ZWEITER UND DRITTER ANZAC-VETERAN You had fear with you all the time — practically 24 hours a day … Oh, paralysed with fear !
ERZÄHLER Du hattest ständig Angst, sagt der Veteran aus Canberra. 24 Stunden jeden Tag. – Wir waren gelähmt vor Angst.
Viele der ganz Jungen heulen sich die Seele aus dem Leib. Andere machen einfach Schluss
FÜNFTER ANZAC-VETERAN I saw a man verbally stand up and walk through towards the snipers. Oh God, I thought … And I yelt to him_ “Get down ! Get down !”
ERZÄHLER Er musste zusehen, wie einer plötzlich aufstand und auf die türkischen Gewehre zumarschierte. Er rief noch: “Runter ! Runter mit dir !”
FÜNFTER ANZAC-VETERAN Just committed suicide.
ERZÄHLER Der brachte sich um !
FÜNFTER ANZAC-VETERAN The machinegun-fire went right across his body. And he walked fifty yards before he fell !
ERZÄHLER Er wurde glatt durchsiebt. Lief noch 45 Meter, bis er umfiel.
Er war nicht der einzige.
KISCH Um 5 Uhr neuerlicher Sturm. Handgemenge unvermeidlich. Wir klappern vor Angst.
SERBISCHER VETERAN 1 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Dann mussten die Trompeten aufhören, erinnert sich der serbische Veteran an die Schlacht bei Mojkovac. Der folgende Befehl hieß: “Stechen !”
Wir hatten keine Zeit, die Gewehre zu laden und sind mit dem Bajonett auf alles losgerannt, was noch gelebt hat. Das war erst ein Blutbad !
SERBISCHER VETERAN 2 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Das Gelände war bedeckt von toten Schwabas, wie die Deutschen und die Österreicher hier genannt werden. Aber auch mit Eigenen.
SERBISCHER VETERAN 3 (SERBO-KROATISCH)
ERZÄHLER Ach, wie sie gefallen sind, die jungen Menschen …
Einfach abgemäht. Blutgeruch und Pulverdampf. Der Mensch als Bestie.
(…)
ERZÄHLER Bei einem Handgranaten-Überfall auf die deutschen Gräben an der Somme in Frankreich hat der englische Soldat Frank Munroe plötzlich einen gegnerischen Offizier vor sich. In dessen Stirn klafft ein schrecklich breiter Riss.
ZITAT-STIMME MUNROE Er fleht mich an, ihn zu töten. Mich durchfährt es wie ein Blitz: Da haben wir diese Barbaren all die Jahre bekämpft. Sie gehören vernichtet um jeden Preis. Und hier liegt einer meines Alters, der besser Englisch spricht, als ich das jemals können werde. Und ich soll ihn aus seinem Elend erlösen. – Als ich später einem Freund davon erzähle, und er fragt: “Na und — hast du ihn erschossen ?” – da muss ich gestehen: “Nein, es ging nicht”. Einen schwer verletzten Hund hätte ich getötet. Aber einen Menschen …
ERZÄHLER 10. September 1914. Korporal Kisch untersucht die verlassenen serbischen Schützengräben.
ZITAT-STIMME KISCH Nein — das waren keine “Hammeldiebe”, keine “Ziegenschänder”, die uns gegenüber lagen. Eine französische Grammatik liegt im Graben, daneben ein serbisch-französisches Diktionär. Fünf Meter entfernt das Notizbuch eines Schülers der 6. Realschulklasse mit dem Stundenplan.
ERZÄHLER Leere Patronenkartons. Der Augenzeuge notiert:
ZITAT-STIMME KISCH “Deutsche Metallpatronenfabrik in Karlsruhe”. Das russische Gewehr, das ein Serbe auf der Flucht zurückließ, trägt den Aufdruck: “Niemiezkaja fabrike oruschia i munizii, Berlin”.
(…)
ERZÄHLER Langemark in Flandern.
VETERAN HENSEL Links und rechts, so weit wie ich sehen konnte, waren die gefallenen deutschen Freiwilligen. Alle tot und hingemäht. Links und rechts von mir, soweit wie ich sehen konnte – wie auf dem Kasernenhof ausgeschwärmt die zehn Mann und der Gruppenführer –– tot.
Das hat mich furchtbar mitgenommen. Diese ganze Angriffslinie, diese ganze Welle, ist in das Maschinengewehrfeuer hineingegangen, und (sie) sind alle abgemäht worden.
Die hatten gar keinen Abstand, nichts !
Schrecklich ist das, wenn ich daran denke, wie links und rechts überall die Gefallenen lagen, tot.
ERZÄHLER Und ebenso ordentlich aufgereiht liegen die Zehnten West Yorks vor den Resten des Dörfchens Fricourt an der Somme. Und gleich nebenan zwei schottische Pals’ Battalions. Und The 9th Irish Fusiliers liegen mausetot vor Pozière – in der selben Formation, die sie letztes Jahr auf den grünen Hügeln Irlands eingeübt hatten.
VETERAN HENSEL An einen Kameraden kann ich mich noch besonders gut erinnern. Der lag ungefähr so zehn, zwanzig Meter von mir entfernt. Und das war ein junger, hübscher Freiwilliger, der nicht gleich tot gewesen war. Und er hatte blondes Haar und blonde Locken. Und er lag da und hatte das Gesicht zu mir gewendet, als ob er schliefe. Und der Wind spielte so in seinen Locken.
Das werde ich niemals vergessen.
SCHALLPLATTE DER DEUTSCHEN GRAMMOPHON, HERBST 1914:
KOMMANDEUR “Stillgetanden ! Soldaten — ihr habt euch geschlagen wie die Helden ! Mancher Tapfere hat auf dem Felde der Ehre sein Leben lassen müssen. Aber jede feindliche Kugel haben wir zehnfach heimgezahlt. Deutschland in der Welt voran ! Kameraden — die deutsche Fahne geht hoch ! Achtung ! Präsentiert das Gewehr !”
MARSCHMUSIK – VERDÄMMERND
(…)
SERBISCHER TRAUERGESANG / MÄNNERSTIMME (SOLO) UND MÄNNERCHOR, ABWECHSELND
ERZÄHLER (DARAUF) Seit Wochen hängt der Soldat Franz Engel aus Neuruppin in einem Stacheldrahtverhau vor Langemark. Im Gesicht der Ausdruck maßlosen Erstaunens.
Einen Monat nach der ersten Flandernschlacht, beschließt der Generalstab, diese Offensive vorerst abzublasen. Sie hat 200 000 Tote und Verwundete gefordert.
Nachts, in einem sumpfigen Waldgebiet, 10 Kilometer vor der russischen Grenze, erschießt sich General Samsonov, Oberkommandierender der Zweiten Russischen Armee. 30 000 Russen sind verwundet oder tot. Auch 10000 Deutsche.
An der Drina 36 000 Opfer. An der Somme mehr als eine Million.
Nach einem knappen Jahr wird das Abenteuer bei Galipolli abgebrochen. 100 000 Tote, eine Viertelmillion Verletzte.
Schon im zweiten Kriegsjahr werden die Prothesen knapp.
In den Geschichtsbüchern steht: “Die strategischen Ziele wurde nicht erreicht”.
SINGING-PUB / AUSGELASSENE STIMMUNG / ES WIRD PLÖTZLICH STILL / EINE EINZELNE STIMME SINGT “AND THE BAND PLAYED WALTZING MATHILDA”(ERIC BOGLE):
They collected the wounded, the crippled, the maimed / And they shipped us back home to Australia.
ERZÄHLER Sie sammelten uns Krüppel ein und schafften uns heim nach Australien.
The armless, the legless, the blind and the insane / Those proud wounded heroes of Suvla
ERZÄHLER Diese stolzen Helden – ohne Arme, Beine, blind und wahnsinnig geworden.
And when the ship pulled into Circular Quay / I looked at the place where me legs used to be
ERZÄHLER Und ich schaute ‘runter, wo mal meine Beine waren …
And thank Christ there was no one there waiting for me / To grieve and to mourn and to pity
ERZÄHLER Zum Glück wartete keiner, um mich zu bemitleiden.
And the Band played Waltzing Matilda / When they carried us down the gangway / Oh nobody cheered …
ERZÄHLER Und als sie uns an Land brachten, schrie niemand “Hurrah !”
They just stood there and stared / Then they turned all their faces away.
ERZÄHLER Sie standen und gafften und drehten sich weg.
DAS STIMMENGEWIRR IN DER SINGING-PUB SCHWILLT WIEDER AN. DARAUF NACH EINER KURZEN PAUSE:
ERZÄHLER Nach dem Ersten Weltkrieg wird der Waffenhändler Zaharoff vom britischen Premier Lloyd George mit dem Bath-Orden ausgezeichnet und darf sich nun “Sir Basil Zaharoff” nennen. Er wird Kommandeur der französischen Ehrenlegion und schmückt seine Brust mit Medaillen aus 31 Nationen. Als er 1936 in Monaco stirbt, ist der “Kaufmann des Todes” einer der reichsten Männer der Welt.
ATMO WEG / ABSAGE
Aus der Werkstatt
(Briefzitat)
Lieber N…
auch “Feinde wie wir” war natürlich Knochenarbeit, vor allem bei der Beschaffung der O‑Töne. Die Basis hatte ich durch eigene Aufnahmen mit deutschen und britischen Langemark-Überlebenden – aufgenommen vor 30 Jahren. Einiges aus dem Internet, z. B. die meisten Töne von Gallipoli-Veteranen aus der gut ausgestatteten Homepage einer australischen Veteranen-Vereinigung. Und die balkanischen Stimmen stammen aus jugoslawischen Dokumentarfilmen der Tito-Ära, von der EBU besorgt.
Die Ausschnitte hab’ ich mehrere Tage lang von Muttersprachlern Satz für Satz übersetzen lassen. Der einfühlsamste, ein Kroate, unterhält hier eine Kampfsportschule und sieht aus wie der Abgesandte einer Inkasso-Firma. Er konnte sich bei der oft blumigen, eigentlich unübersetzbaren Ausdrucksweise der Serben und Mazedonier gar nicht einkriegen. Etwas schickte mir auch ein Moskauer Kollege, den ich vom Prix Europa kenne. Wir haben das ganze nach häuslicher Vorbereitung am eigenen Mischpult in sechs Tagen mit zwei wunderbaren Technikerinnen beim NDR zusammengebaut.
Der zitierte Kriegsgewinnler Zaharoff, eine romanhafte Figur mit türkischen und/oder griechischen Wurzeln, hat tatsächlich gelebt und war, obwohl ihn kaum einer je gesehen hatte, bis in die Dreißiger Jahre sogar als Hauptfigur eines Theaterstücks berühmt – im Grunde ein Prototyp für alle Waffenhändler der Größenordnung Krupp und Stinnes, die Freund und Feind gleichzeitig belieferten. Dass Churchill bei Krupp und der deutsche Kaiser bei der englischen Waffenfabrik Wickers Aktien hielten, ist verbürgt. Und ähnlich wird es wohl auch heute zugehen.
Mit der Sendung bin ich eine Zeit lang durch osthessische Gymnasien gezogen. Bei einer Vorführung im hiesigen Museum hatte ich knapp hundert Zuhörer.
Ach – es gäbe so viel zu erzählen …
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