Hörst du, wie das Gras wächst?“ – Wie Helmut Kopetzky das Sudetenland zum Sprechen brachte

Frank Olbert in der FAZ (2002)

Man nennt ihn Ori­gi­nal-Ton. Oder, wenn man es etwas pro­fes­sio­nel­ler und läs­si­ger macht: O‑Ton. Der O‑Ton kommt vor in der frei­en Natur, aber auch in Ver­samm­lungs­räu­men, Knei­pen, in Schu­len und Kin­der­gär­ten, Wohn­zim­mern und Kir­chen, kurz, über­all dort, wo kein Stu­dio­mi­kro­phon steht.  O‑Ton und Stu­dio-Ton schlie­ßen ein­an­der aus, sie sind wie Feu­er und Was­ser, wie Leben und Tod. Ver­wun­dert es da, dass zwi­schen Samm­lern von Ori­gi­nal-Tönen und Pro­du­zen­ten von Stu­dio-Tönen Krieg herrsch­te, beson­ders Ende der Sech­zi­ger Jah­re, als ohne­hin ange­pran­gert wur­de, was irgend­wie nach Insti­tu­ti­on roch? Die Uni­ver­si­tä­ten, das Par­la­ment, die Fami­lie. Und eben das Studio.

Damals und noch lan­ge über die­se Jah­re hin­aus, betrach­te­ten die Ver­fech­ter des O‑Tons das Stu­dio als Labo­ra­to­ri­um. In ihren Augen war es kalt, künst­lich und von Auto­ri­tä­ten beherrscht. Das Stu­dio war das Macht­in­stru­ment. Der O‑Ton hin­ge­gen war natur­wüch­sig. Man hör­te „den Men­schen“ zu, wie ihnen der Schna­bel gewach­sen war, man schau­te „dem Volk aufs Maul“, man woll­te, dass nie­mand mehr ein Blatt vor den Mund neh­me. „Bot­trop­per Pro­to­kol­le“ ent­stan­den, womit der O‑Ton Ein­zug in die Lite­ra­tur hielt, düs­te­re Fern­seh­fil­me wur­den gedreht mit alko­ho­li­sier­ten Arbei­tern, die ihre Frau­en schlu­gen, was ein grel­les Licht auf die Ver­hält­nis­se warf. Und zahl­rei­che O‑Ton-Hör­spie­le selbst­ver­ständ­lich (…) Und wer es in den öko­lo­gisch beweg­ten Sieb­zi­ger Jah­ren beschau­li­cher lieb­te, der belausch­te mit sei­nem por­ta­blen Ton­band­ge­rät Flo­ra und Fau­na, so dass das geneig­te Radio­pu­bli­kum bald das Gras wach­sen hörte.

Wel­ches Durch­ein­an­der aber ent­stand, als sich kri­ti­sche Geis­ter zu Wort mel­de­ten und die Unbe­rührt­heit des Ori­gi­nal­tons in Zwei­fel zogen. Längst bear­bei­tet sei die­ses Mate­ri­al, wenn es an die Ohren der Rund­funk­hö­rer drin­ge, gefil­tert, zer­schnipp­selt, neu mon­tiert und col­la­giert in eben jenen ver­pön­ten Räu­men, wel­che die Ori­gi­nal-Töner ver­teu­fel­ten – dem Stu­dio. Wel­ten bra­chen zusam­men, lieb­ge­won­ne­ne Fron­ten lös­ten sich auf, Schlach­ten fan­den nicht mehr statt, weil nie­mand mehr sie zu füh­re wuss­te. Alles stob auf und flog davon und bis heu­te weiß nie­mand, wohin.

Einer blieb. Er war schon da, als all die ande­ren so erbit­tert gestrit­ten hat­ten. Er hat­te sei­ne Arbeit gemacht, vie­les gelernt, sich von jenem dies, von die­sem das ange­eig­net. Nein Name war Hel­mut Kopetz­ky, bis heu­te macht er Ori­gi­nal­ton-Fea­tures und eben­sol­che Hör­spie­le, manch­mal dau­ern sie sogar einen gan­zen Radio­tag lang, und was die­se Sen­dun­gen nie waren und sind, eben­so wenig wie ihr Autor: Sie waren nie­mals Aus­ge­bur­ten ideo­lo­gi­scher Kämpfe.

Immer stand bei Kopetz­ky jour­na­lis­ti­sche Neu­gier im Vor­der­grund, nie die Absicht, im O‑Ton ein­zu­fan­gen, was man ger­ne hören woll­te. Selbst einem mit poli­ti­schen Res­sen­ti­ments, Vor­ur­tei­len und Ver­wer­fun­gen bela­de­nen The­ma wie der Lage der Sude­ten­deut­schen näher­te er sich ohne Scheu­klap­pen: Im Jah­re 1995 ent­stand sein Fea­ture-Klas­si­ker „Auch ich war ein Bitt­schön“, den der Mit­tel­deut­sche Rund­funk nun zur Fei­er sei­ner zehn­jäh­ri­gen Koope­ra­ti­on mit SFB und ORB wiederholt.

Kopetz­ky begibt sich auf die Rei­se in ein altes Land: Alt sind die Tra­di­tio­nen, der Glau­be, die sozia­len Bin­dun­gen. Alt sind aber auch die Men­schen, die in der Kir­che einem Pfar­rer lau­schen, der ein selt­sam schlep­pen­des, umständ­li­ches und auch nicht mehr ganz rich­ti­ges Deutsch spricht. Wer jung ist unter den Sude­ten­deut­schen, der zieht fort. Übrig blei­ben die, die sich nicht mehr ver­pflan­zen las­sen. Kopetz­kys Fea­ture war eine jour­na­lis­ti­sche Pio­nier­tat: Von sei­ner Sen­dung exis­tiert neben der deut­schen eine tsche­chi­sche Fas­sung, die im neu­en tsche­chi­schen Rund­funk, allen Emp­find­lich­kei­ten ange­sichts des The­mas zum Trotz, aus­ge­strahlt wur­de. Auch dies könn­te ein Beleg für Kopetz­kys Unab­hän­gig­keit sein. Und dafür, dass sein Ori­gi­al­ton tat­säch­lich Welt­erfah­rung verspricht.