Tage und Nächte mit Neunzehn
(SFB + MDR 1996) Mit Jan Kopetzky und seinen Freunden. Dauer: 55:54. Montage. Kein Erzähler. Eine von mehreren Fassungen. Das Original wurde gegen Ende um eine Episode ergänzt. Sie handelt vom grausamen Tod eines Freundes in der Berliner U‑Bahn.
AUS DEM PRESSETEXT: „Das sind die Tage und Nächte eines halben Jahres, aufgezeichnet von Vater und Sohn. Jan Kopetzky hat seine Reisen durch das Revier der eben erst Großjährig-Gewordenen, die endlosen Telefonate und Augenblicke, in denen „die Alten“ besonders unerwünscht sind, mit dem eigenen Kassettenrekorder dokumentiert“.
“Hörzu”, 11. Februar 1996
BODY CHECK
BUNDESWEHR / SACHBEARBEITERIN Herr Kopetzky, bitte nach Zimmer 2042 –– Guten Tag –– Nehmen sie bitte Platz. Sie sind hier zur Hauptmusterung. Bitte Mund aufmachen. Mal „A“ sagen –– „A“ –– Ja, dankeschön (…) Dann ziehen sie mal bitte ihre Schuhe aus. Stellen sie sich auf die Waage (…) Dann kommen sie bitte zur Messlatte…1,81…Wir brauchen jetzt noch ein bisschen Mittelstrahlurin. Und hier ist die Toilette. Und Mittelstrahl, ja! (…) Tuberkulose, Rheuma, Zuckerkrankheit, Asthma? Aids, homosexuell? Sowas nicht…
AUS DEM BEITRAG „ENTDECKUNG EINES 19-JÄHRIGEN“ AUS ANLASS DER SENDUNG, ERSCHIENEN IN „DAS MAGAZIN“ (DEZEMBER 2004):
Mein Sohn ist 19 Jahre alt. Die langen blonden Korkenzieherlocken sind verfilzt und sehen wie geflochten aus. Die Gesäßpartie seiner viel zu weiten Baggy-Pants baumelt wie ein verlassenes Vogelnest in Höhe der Kniekehlen. Er hat germanisch blaue Augen. Er ist ganz und gar unmilitärisch (…) Was ist passiert, während ich in meiner anderen Welt war: unterwegs, auf Arbeit – in meiner fertigen, fest gemauerten Erwachsenenwelt? Warum ist mir so viel entgangen: die erste überflüssige Rasur, die erste Marlboro, der erste Porno unter der Matratze? Wer ist nur dieser große blonde Mensch in unserer Wohnung?
EXPERTEN DER NACHT I
(MUSIK „BEASTY BOYS“, TELEFONGERÄUSCHE, STIMMEN) Ja, hast du geschlafen? Bist du eben grad erst aufgewacht? Also entweder um Viertel vor Neun am Savignyplatz oder um Neun am S‑Bahnhof Witzleben. Kennste da noch die Station mit’m Bus? Weil, da steigt Andi ein, ja? –– Hallo Janko, hier ist Andreas. Ich wollt nur sagen, dass ich –– Ja, genau, okay. Bringst du irgendwas mit? ––Naja, wir können ja an der Tanke irgendwie…Tschau! –– Hier istTim…Geh ran, du Ratte! Ich weiß, dass du da bist! Lass’ mich nicht hängen!…
MAGAZIN-Text …Der Staat will ihn haben, die Bank schickt Prospekte, die Bausparkasse schreibt „Hallo!“ Er soll an seine Zukunft denken, und die nächste Wahl darf er auf keinen Fall verpennen – „Alles klaro! Wir zählen auf Dich!“
Am Morgen verschwinden Mädchen wie Schmetterlinge aus seinem Zimmer. Ich reibe mir die Augen und starre ihn an. Mein Sohn ein Alien, ein Fremder. Wie Joseph Roth es einmal ausdrückte: „Vielleicht eines der Experimente, die hie und da von der Natur gemacht werden, ehe sie sich entschließt, eine neue Gattung hervorzubringen.”
EXPERTEN DER NACHT II
Wir sind jetzt im Bus zum S‑Bahnhof Tiergarten –– Mann, Janko,lass mich in Ruhe! Janko ist nämlich besoffen. Grad belästigt er Jeanette. Mann, Janko, nimm deine Pranken von dem Teil! Jetzt küsst er ihre Hand…Uaaah… Jetzt schmeißt er alles um…
(SPÄTER „UNTER MÄNNERN“) Wie geht ’s dir…Wo ist deine Mütze? Mann, Scheiße! –– Das ist Mütze hier –– Der ist voll am göbeln. Nimm das mal auf! Das hört sich gut an –– Haste mal ne Kippe? Wo sind wir denn? Friedrichstraße? –– Krass! –– Lass uns mal losgehen –– Du musst mich führen, okay! –– Okay! Eins, zwei, drei, los! –– Geht ’s? ––Stefan, ich halte zu dir! Nimm mich am Arm…
MAGAZIN-Text …Lieber Sohn, sage ich zu dem Fremden – entschuldige, wenn ich manchmal nicht ganz mitkomme! Unsere Welt war langsamer. Die Wirkungen hatten noch Zeit, auf die Ursachen zu warten. Den Kanzler sah ich nur auf Zeitungsfotos. Oder eine Woche später in der Wochenschau, im Kino. Da war freilich alles schon abgekühlt und von Adenauer entschieden.
Wir lebten noch im Verhältnis 1:1 mit der Wirklichkeit, der sogenannten – unplugged, keine Datenkompression. Ehrlich-handgemachtes Leben. Die ersten Computer haben wir mit Begriffen aus der Hirnforschung erklärt. Jetzt erklären wir das Gehirn mit Computerbegriffen (…) Du verstehst? Oder bin ich Dir zu langsam?
„SICK OF IT ALL“
(MIT JAN UND FREUNDEN ZU HAUSE / H. K. NIMMT AUF) …Zur richtigen Zeit werden dann Krankheiten ausbrechen. So wie früher die Pest, bricht jetzt die Nebula oder Aids aus. Mann, ist ja auch ’ne Theorie, dass die Natur sich irgendwie wehren muss. Und dann kriegen wir alle Hautkrebs –– Man ist überhaupt nicht ohnmächtig! –– Natürlich! Weil wir überhaupt keine Hoffnung haben und sagen: „Ist alles Bullshit“! –– (H K.) Aber ihr macht ja auch nichts! ––. Naja, eben! Das ist ja auch unser Problem (…) Ich weiß auch nicht, ob wir uns jetzt darüber Gedanken machen sollten. Dann hat es die Menschheit halt so verdient. Was soll’s! Dann wird es andere geben nach den Menschen –– Wär’ aber traurig!
MAGAZIN-Text …Und dann wird es Abend. Im Telefonhörer die Lockrufe seiner Artgenossen. Etwas zieht ihn magisch hinaus. Kaum ein Blick noch zwischen Tür und Angel.Mir bleibt nur die Duftwolke von seinem Aftershave und ein weißer Hemdsaum, der im Hof davonflattert. Selbst Nana aus dem Vorderhaus, die Waldorf-Schülerin, die noch vor kurzem von anthroposophischer Abgeklärtheit war, streift jetzt durchs nächtliche Revier.
Ich natürlich im Bett. Arbeitskräfte sammeln. Aber unruhig. Flacher Atem, Ohren aufgestellt. Endlich der Schlüssel im Schloss. Die Geräusche nächtlicher Heimkehr. Beim Gongschlag war es 4 Uhr 30. Willkommen in unserem Nachtcafé. Mann, du siehst verboten aus. Weiß wie die Wand. Und nächstes Jahr willst Du Dein Abi bauen…