Einige Anmerkungen über die Vieldeutigkeit von Geräuschen im Radio.
Erschienen in CUT-Magazin (Feature-Workshop, 2000).
“Natürlich erhalten Sie den O‑Ton von Sevilla”, schreibt der Autor an die Feature-Redaktion. Und er meint: Sevilla soll in seinem Stierkampf-Feature Hörplatz sein, akustisch anwesend, unverwechselbar. Doch am Ende wird der Autor bestenfalls eine Kollektion von O‑Tönen aus Sevilla mitbringen, eine Auswahl von Klangereignissen, die er (und so nur er) auf Tonband aufgezeichnet hat. Den O‑Ton “Sevilla” gibt es nicht.
Sobald wir das Mikrophon in die Hand nehmen, beginnt die “Manipulation”. Schon die Beschaffenheit der Aufnahme-Apparatur, das verwendete Speichermaterial, der praktische Umgang mit den Geräten, Wetter, Jahres- und Tageszeit, Wahl des Orts, der Richtung, des Aufnahmewinkels u.s.w. entscheiden über den akustischen Eindruck, den das Hörpublikum von der ‘objektiven Wirklichkeit’ erhalten wird.
Die 1:1 Aufnahme ist also keineswegs ‘die Wirklichkeit’ und schon gar nicht ‘die Wahrheit’, vielmehr weitgehend ein Zufallsprodukt — während es doch darum geht, das Charakteristische eines Ortes / einer Situation zu übermitteln.
Anders als das unwissende Mikrophon, das immer nur eine Summe des augenblicklich Hörbaren abbildet, hören wir selektiv und reflektierend. Wir filtern aus den Umgebungsgeräuschen — wie mit einem Equalizer — der Reihe nach einzelne Frequenzen heraus, identifizieren die dazu gehörenden Schallereignisse und ihre Bedeutung; und zusätzlich vollführen unsere Augen Schwenks und Zooms und vervollständigen die akustischen Mitteilungen aus unserer Umwelt durch optische. So kommt es, dass wir auf der anderen Straßenseite — durch all den Verkehr hindurch — eine Person schreien hören (sie reißt ja den Mund auf, sie tut aufgeregt u.s.w.) — doch die Aufnahmeapparatur registriert nichts dergleichen, nur einen Cocktail aus Motorenlärm.
Das Grundgeräusch unserer Umwelt — ein tiefenbetontes Breitbandgeräusch (der kanadische Komponist und Kommunikationswissenschaftler Richard M. Schafer spricht von einer “LoFi-Lautsphäre”) verschlingt/ eliminiert die einzelnen im Raum verteilten Schallsignale unterschiedlicher Frequenz und Modulation. Es bleibt: ein Gemenge, ein Brei, akustischer Schlamm. Das Klangbild, das der Mensch früherer Zeiten dank seiner beiden Ohren immer stereophon — räumlich wahrgenommen hat, tendiert heute zur Monophonie (gleich Monotonie). Die akustischen Informationen in ihrer Massierung löschen einander gegenseitig aus — als würde ein und das selbe Blatt Papier immer und immer wieder beschrieben, bis nichts mehr zu entziffern ist.
Unser Medium
ist die Zeit
Die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung unterscheidet sich von der technischen Aufzeichnung und Übermittlung eines Schallereignisses noch in einem anderen wesentlichen Punkt: Der Mensch am Ort des Geschehens ist in der Lage, eine Situation (also auch ihre akustische Komponente) augenblicklich — “in the flash of an eye” — in sich aufzunehmen. Sie schmilzt “im Augenblick” zusammen..
Unser Medium hingegen ist die Zeit, das Verstreichen von Zeit. Was das Auge mühelos in Sekundenbruchteilen “liest”, muss unser Ohren-Hirn-Komplex zumeist erst analysieren und interpretieren, das heißt wohl auch: in “Bilder” umsetzen. Das Geräusch der heran- donnernden Lokomotive läßt meinen Hirnspeicher ein ganzes Arsenal von Lokomotiv-Abbildungen und ‑Eigenerinnerungen durchrasen. Und obwohl dies mit unglaublicher Geschwindigkeit geschieht, verläuft dieser Identifizierungsprozess doch langsamer als das Erkennen und Erfassen von Bildern. Schon dieser Umstand erlaubt mir keine “montage rapide”, keine Flut von Geräuschen analog zu Eisensteins Odessaer Treppe. Die organisierte Bilderflut des “Panzerkreuzer Potemkin”, zum Beispiel, zwingt den Betrachter in die Filmhandlung hinein. Die Kunst des rapiden Schnitt-Wechsels erzeugt nicht Chaos sondern Kontinuität, Zusammenhang, nicht Überfütterung sondern emotionales Mitgehen.
Hören aber braucht Zeit. Das Auge liest ab — wie früher Moritatentafeln (wir haben unser Lesetempo nur gesteigert), das Ohr aber hört hin. Der angeschlossene Dechiffrier- und Denkapparat unseres Gehirns analysiert den akustischen Reiz – in Stromschwankungen umgewandelte Luftschwingungen –, produziert entsprechende Bilderinnerungen, setzt Reflexionen in Gang. Licht und Ton sind Schwingungen, Physik. Wir erst laden sie mit Inhalt und Bedeutung auf, jeder Mensch — und jeder anders.
Das Auge liest ab
Das Ohr hört hin
“Der Wald im Radio”, las ich irgendwo, “ist der Wald unserer Erinnerungen”. Die Welt ist unsere Wahrnehmung von Welt, und alle Arten der Wahrnehmung — auch die akustischen sind immer subjektiv. Hören ist Erinnern und Vergleichen, ist Gedankenarbeit, Hinwendung, Aktivität. Es gibt im Akustischen kein Synonym für das Wort “glotzen”.
“Die Anpassung an die bürgerlich rationale und schließlich hochindustrielle Ordnung, wie sie vom Auge geleistet wurde, indem es die Realität vorweg als eine von Dingen, im Grund als eine von Waren aufzufassen sich gewöhnte, ist vom Ohr nicht ebenso geleistet worden”, konstatieren Theodor W. Adorno und Hanns Eisler in ihrem Buch “Komposition für den Film” (München 1969). Hören sei, verglichen mit dem Sehen, “anarchisch”. Man könne sagen, “dass wesentlich mit dem selbstvergessenen Ohr, anstatt mit den flinken, abschätzenden Augen zu reagieren, in gewisser Weise dem spätindustriellen Zeitalter und seiner Anthropologie” widerspreche.
“Der” O‑Ton aus Sevilla ? “Liefern Sie O‑Töne (Plural)”, müsste der Redakteur seinem Stierkampfspezialisten antworten, möglichst viele selektiv gehört und aufgenommen. Und erschaffen Sie Sevilla neu — im Studio. Sie können es nicht einfach aufnehmen !”
Erst die Ton-Mischung nach der subjektiv erlebten Wirklichkeit (nach der Erinnerung des Autors) stellt die Vielfalt und Dynamik des akustischen Ortes Sevilla wieder her. Der Geräusch-Inszenator hat das wundervolle — wohl auch ziemlich einsame — Privileg, Zeit und Raum seines Radio-Features zu beherrschen. Er schafft ein kontrolliertes Nacheinander. Den einfältigen technischen Tonver- arbeitungs-Komplex, der nur summarisch fressen kann, füttert er dosiert mit den Bestandteilen des “Soundscape”.
Er transportiert das Fragmentarische seiner Schallaufnahmen in die Zeit- und Raumebene der Sendung; weist ihnen Ort, Zeitpunkt und Bedeutung zu.
Kein Job für Puristen. Autoren- und Regisseurs-Handwerk.
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