Redaktionelle Vorlage (I) – Anfang 1994.
(1) Der Radiodokumentarist, schrieb Alfred Andersch 1953, bewege sich in dem weiten Raum „zwischen Nachricht und Drama“. Das heißt u. a.: Unser Publikum hat Anspruch darauf, auf spannende, möglichst unterhaltende Art informiert zu werden — und mit Spannung sei die „oberflächliche“ des Kriminalfalls ebenso gemeint wie die geistige zwischen unterschiedlichen Standpunkten.
(2) Dabei sollte immer erkennbar bleiben, dass die Traditionslinie des Features ihren Anfang nicht im Fiktiven sondern im Faktischen hat, nicht im Künstlerischen wie das Hörspiel sondern im Dokumentarisch-Journalistischen — dies allerdings im denkbar weitesten Sinn.
(3) Hörer müssen gewonnen werden — vor allem durch THEMEN. Das Feature der Zukunft wird (wieder) verstärkt ein Themen-Feature sein müssen. Jedes Thema, das wir behandeln, sollte auch zur Titelgeschichte einer anspruchsvollen Illustrierten oder Wochenzeitung mit Millionenauflage taugen.
(4) Das Feature muss sich seiner journalistischen Wurzeln erinnern — der „niederen“ Tradition des Tages‑, Enthüllungs‑, ja Sensations-Journalismus (wie ihn Zum Beispiel E. E. Kisch definiert und rehabilitiert hat) ebenso, wie der „hohen“ literarischen (Mark Twain, Hemingway, Zola, Stefan Zweig, Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, Tschechows „Krankensaal Nummer 6“ und so weiter). Der Journalismus solchen Kalibers hat es nicht nötig, sich ein künstlerisches Mäntelchen umzuhängen. Das Dokumentargenre, das ich meine, ist weder grau und langweilig noch abgehoben oder in sich selbst verliebt.
(5) Was ist der GEGENSTAND des „Großen Features“ ? In groben Strichen: Themen von Gewicht und mittelfristigem Verfallsdatum, die für eine möglichst große Zahl aufgeschlossener Hörer und — sagen wir’s ruhig — für unser Gemeinwesen ganz allgemein von Interesse sind; ungewöhnliche, aufregende, so-noch-nicht-gedachte bzw.noch-nicht-formulierte Gedanken; Visionen, Provokationen; Denk-Ereignisse, die aus dem stereotypen, festgefahrenen Diskurs der Gegenwart herausragen … Feature ist die groß aufgemachte wichtige Sache …
(6) … beglaubigt durch eine sichere Beherrschung sämtlicher Fertigkeiten unseres Handwerks (professionelle Recherche, gedankliche Logik, formale Brillanz, Erfindungsreichtum, Kenntnis der Technik, Natürlichkeit und Wärme dem Publikum — das heißt: dem einzelnen Hörer — gegenüber u.s.w.)
(7) Dies bedeutet auch: Mut zum eigenen Standpunkt.
(8) Feature sollte immer „groß gedacht“ werden. Dass die kleine Geschichte vor dem großen Hintergrund stets das meiste Interesse weckt, ist hierzu kein Widerspruch. Die oppulentesten Bühnenbilder leben erst durch den vergleichsweise kleinen Protagonisten an der Rampe.
(9) Das WIE ist wichtig, aber das WAS ist zweifellos wichtiger. Prinzipielles Interesse für die formale, „künstlerische“ Seite des Mediums („Wie haben die das bloß wieder gemacht ?“) dürfen wir außerhalb einer sehr begrenzten Fangemeinde nicht voraussetzen. Der Inhalt (der Gedanken- und Handlungskörper) braucht zwar ein aufregendes, ja aufreizendes Gewand. Ist die Idee aber zu „klein“, wirkt die Verpackung rasch overdone und betont so die Armseligkeit des Inhalts. Eine Erneuerung des Features kann sich also nicht in der noch so raffinierten Vorführung digitaler Hexenküchenkünste erschöpfen.
(10) Das „Große Radio-Feature“ sollte in diesem Sinne wirklich „groß“ sein — d. h. nicht Schwarzbrot sondern Torte. Dafür braucht es eine großzügige finanzielle Ausstattung für Recherchen, Produktion und nicht zuletzt für den Autor, der sich mit diesem Thema womöglich monatelang herumschlägt. Und: das Besondere verdient angemessene Publicity.
(Bei den Wörtern „wichtig“ und „groß“ denke ich zum Beispiel an historische Beispiele wie „Der 29. Januar 1947“ und „Interview mit einem Stern“ von Ernst Schnabel, „Was wäre wenn“ und „Das Jahr 1948 findet nicht statt“ — politische Utopien von Axel Eggebrecht — oder die drei abendfüllenden Ruhr-Features von Peter von Zahn )
(11) Große dokumentarische Radio-Events sind nicht unbedingt an „Sendeleisten“ oder feste „Slots“ gebunden. Sie müssen wirkungsvoll in die Komposition des gesamten Programms eingepasst werden.
(12) Feature, Hörspiel und verwandte Gattungen sind als „nicht-kommerzielles Kulturgut von öffentlichem Interesse“ nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem überlebensfähig — ähnlich kommunalen Kinos, Schaubühnen etc. Daran werden auch neue Distributionsmöglichkeiten wie das Internet oder die stärkere Vermarktung von Cassetten und CDs bis auf weiteres wenig ändern. Dass wir als Medienleute schon jetzt in vorderster Linie darüber nachdenken sollten, wie die globale digitale Spielwelt mit Inhalten gefüllt werden kann, ist eine andere Sache.
Unmittelbarkeit. Emotion. Zugriff.
Redaktionelle Vorlage (II) – Mai 1994
In der Featurefamilie wird nicht (mehr) gestritten. Das ist wie im wirklichen Leben schlimmer als Krach. Mir persönlich fehlt die Auseinandersetzung. Und dem Feature fehlt sie auch (…) Selbstkritik bedeutet nicht, ins eigene Nest pinkeln (…)
„Das Feature brachte viele dringliche Themen in die öffentliche Diskussion ein“, schrieb Klaus Lindemann (1930–2004, Feature-Autor, Dramaturg und Regisseur des SENDER FREIES BERLIN) über die Entwicklung des Fachs in der späteren Nachkriegszeit. „Aber das war nur eine der Möglichkeiten des Features, nicht das Ganze. Das Zentrum fehlte, der Kern – das, was die Faszination und die Lebendigkeit des Mediums ausmacht: die Unmittelbarkeit, die Sinnlichkeit, die Emotion, der direkte Zugriff auf die Realität“.
In der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre, mit P. L. Brauns „Hühner“ beginnend: die zweite Blütezeit. Emanzipation des Originaltons, Höhenflüge in Stereo. Aber schon Anfang der Achtziger schien sich die nächste Phase der Stagnation anzudeuten. Sie ist mittlerweile da.
Die Hörerzahlen sinken weiter, auf gewissen Sendeplätzen unter die Grenze des noch Messbaren. Die formale Entwicklung stockt. Lindemanns Charakterisierung der „ersten“ trifft genauso auf diese „zweite Krise“ zu: Mangel an Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit und Emotion, an „passion“, „compassion“, „commitment“ und Humor in vielen Produktionen. Der „direkte Zugriff auf die Realität“ gelingt nur noch selten (…)
Mich langweilt die Vorhersehbarkeit thematischer Entwicklungen und formaler Methoden. Nur noch selten erlebe ich die dialektische Gegenüberstellung von Standpunkten. Erzählstränge verlaufen eindimensional. Autoren/Autorinnen verweigern konsequent den Blick auf ihre eigene Persönlichkeit und verbergen sich hinter ihren Interviewpartnern. Mir fehlen Autorenstimmen, die „etwas zu sagen haben“ und zu sagen wagen – Axel Eggebrecht schrieb vom „Druck einer lebendigen Gesinnung“.
Mangelhafte O‑Ton-Aufnahmen kränken das Ohr und stellen die Konzentrationsfähigkeit des Hörers auf die Probe. Dramaturgische Grundregeln werden vernachlässigt oder bewusst ignoriert. Der Umgang mit Originaltönen ist uninspiriert (z.B. Rückfall ins Nur-Illustrative). Allzu komplizierte, nur auf dem Papier funktionierende „Baupläne“ und inszenatorische Kopfgeburten erzeugen Langeweile und Konfusion.
Paradox: Das Wort „Feature“ ist in aller Munde. Alle Programmsparten nehmen es für sich in Anspruch. Das hässliche Sprachderivat „verfeaturen“ wurde zum Modebegriff. Aber nur wenige Fachkollegen können das Wort in die Praxis übersetzen. Kaum eine Handvoll investiert noch „blood, sweat and tears“ in diese sehr komplexe Tätigkeit.
Das Akustische Feature in seiner ursprünglichen Bedeutung als perfekte Symbiose von „emanzipiertem“, das heißt auf weiten Strecken für sich selbst sprechendem O‑Ton und „hineinkomponiertem“ Text ist in unseren Programmen fast schon marginal, während konventionelle Text-Features mit „akustischer Untermalung“ wieder breiten Raum einnehmen – ein Salto rückwärts in die Zeit vor „Hühner“, „8 Uhr 15, OP III, Hüftplastik“, „Hyänen“ und „Glocken in Europa“. Und dies angesichts technischer Entwicklungen, von denen Braun & Co vor 25 Jahren vermutlich nicht einmal geträumt haben.
Als formaler wie inhaltlicher Kramladen wird „unser“ Feature immer unkenntlicher, austauschbar. Es verliert an Kompetenz. Und damit schwindet nach und nach seine Existenzberechtigung als das gehätschelte, kostspielige Sonntagskind des Radios. Der Anspruch, immer eine Extrawurst zu sein, wird zur belächelten Attitüde.
(…)
Was also tun?
Jede Gattung bezieht ihre Stärke aus großen Entwürfen. Der letzte „große Wurf“, die Erfindung des Akustischen Features, liegt über ein Vierteljahrhundert zurück. Das Feature der Neunziger Jahre muss auf Veränderungen der Welt und der Medien-Welt mit neuen Entwürfen antworten (…) Zum Beispiel müsste die Frage, welche thematischen Kategorien dem Hörmedium am ehesten entsprechen oder – anders ausgedrückt – sich „dem Bildmedium entziehen“ (Braun) – am Anfang einer Standortneubestimmung stehen.
Die Intensität der geforderten „ständigen Diskussion“ wird davon abhängen, ob „die Feature-Familie“ noch fähig ist, ein Gruppengefühl zu entwickeln, vergleichbar mit dem britischen Documentary Film Movement der 30er und 40er Jahre, dem schöpferischen Kraftfeld um die Cahiers de Cinema in den 50er und frühen 60er Jahren oder der enthusiastischen Erfinder-Gemeinschaft aus Programmgestaltern, Autoren und Technikern im SFB der 60er und 70er Jahre (…)
Eine neue Generation von Autoren, Regisseuren und Allroundtalenten muss mobilisiert werden.
Mit der herzlichen Bitte um Widerspruch
H. K.
Ja, so war das 1994 …
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