Der Sänger auf dem Drahtseil
(SFB 1974) Erster Auftritt des Autors in einem ARD-Featureprogramm.
Dauer: 61:08 – MONO – Sprecher: Christian Brückner und Jürgen Thormann
Mein erstes »wirkliches« Feature, weil für die Feature-Redaktion des Sender Freies Berlin produziert. Eine Woche lang, während seines Gastspiels mit dem Volksstück »Mensch Kuddel, wach auf!« im Hamburger St.Pauli-Theater, bin ich der Schatten des Schlagerstars Freddy Quinn. Ich beobachte den Sänger in der Garderobe, in der Kulisse und in dem engen Durchgang zum Bühneneingang, wo allabendlich die Fans mit Blumen, Teddybären und Autogrammbüchern Schlange stehen. Und hinterher mit Bandgerät, Mikrophon und angstgeweiteten Augen klammere ich mich an den Beifahrersitz in Quinns demonstrativ bescheidenem VW, den er in halsbrecherischem Tempo durch das nächtliche Hamburg zu meiner Unterkunft steuert.
Nach der Seemann-Periode hat sich F. immer stärker an Aufgaben gewagt, die seine Möglichkeiten eigentlich weit überschreiten (Musical, Operette, Bänkelsongs etc.) Dieser Kampf gegen die Grenzen der eigenen Begabung, den F. von Zeit zu Zeit besteht, soll in der Sendung vom Standpunkt des kritischen, an der Person F. interessierten Beobachters und gelegentlichen Bewunderers nachgezeichnet und analysiert werden: Freddy als Prolet des Schaugeschäfts, der die »deutsche Arbeitsmoral« bis zum Tragikomischen in die Unterhaltungskunst eingebracht hat; Freddy als literarische Figur mit den Qualitäten eines Comic-Helden, der viele Eigenschaften, Urteile, Vorurteile und Wunschbilder der Gesellschaft repräsentiert, in der er lebt; Freddy als alternder Schlagerstar, der seine Popularität aus den fünfziger Jahren herübergerettet hat und immer härter kämpfen muss, um kein lebender Anachronismus zu werden (…)
(Dem Gespräch mit meinem Redakteur glücklicherweise zum Opfer gefallen: »Eine ausführliche Selbstdarstellung des Sängers, die Analyse der Selbstdarstellung durch einen Psychoanalytiker und die Konfrontation des Sängers mit dieser Analyse«).
Kurz nach Beginn der Sendung ertönt mein erstes, noch jungfräuliches ICH:
SPRECHER (IN DER ROLLE DES AUTORS) Doch nun zu mir. Ich bin der Autor dieser Sendung. Ich möchte, dass Sie verstehen, warum ich das Thema ausgewählt habe; was mir der Mann auf dem Drahtseil bedeutet. Was Sie in dieser Stunde über ihn hören werden, ist auch eine Sendung über mich (…)
Ich bin 33 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. Nach dem Abitur habe ich ein paar Semester studiert, dann bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet, vor allem in der Provinz. Ich bin Freier Mitarbeiter, das heißt, ich habe keinen festen Job, kein festes Gehalt, keine feste Arbeitszeit. Ich kann mir meine Arbeit aussuchen. Aber ich muss auch leben davon. Ich lebe von Einfällen, die ich verkaufe – etwas einfach ausgedrückt. Bei dieser Sendung ist das anders. Freddy ist mein Spezialthema. Ich bin der größte Freddy-Fan weit und breit. Sie glauben das nicht? So geht es mir immer (…)
Folgt die »Entlarvung« von Freddy Quinn als Produkt der Unterhaltungsindustrie, als ihr Frontmann und Opfer, und eine Beschreibung des einträglichen »Teufelspakts«, der beide Seiten an einander fesselt – jene glasklaren Deutungen der Nach-68er Jahre also, die keinen Widerspruch erlauben.
SPRECHER Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich weiß natürlich: Freddy ist auch ein Produkt, ein Gebrauchsgegenstand. Das hat er mit Anbauküchen und Deodorants gemeinsam. Ein Schlagerstar ist ohne die Vervielfältigungsindustrie nicht denkbar (…) Das Stück, das heute Abend gespielt wird, ist laut, polternd, auf satte Wirkung aus. Clever angerührtes Wegwerf-Theater. Ex und haha und hopp (…)
Noch Fragen?