Über Radioserien und den erzählerischen Umgang mit Vergangenem im Radiofeature.
Nachfolgender Text erschien als Einführung zu meinem Buch „Katharina die Große“ (1988), beschreibt aber auch die Entstehung der vorausgehenden gleichnamigen Serie von acht Halbstunden-Sendungen im SENDER FREIES BERLIN aus dem selben Jahr.
1986 war eine zwölfteilige Serie „Peter der Große – Augenzeugenbericht eines deutschen Gesandten in Russland“ gesendet worden. Weitere Radioserien: „Soldaten“ (acht Folgen, SFB 1979), „Die Belagerung der Macht“ über die europäische Friedensbewegung (6 Folgen, SFB 1985), „Meine Heimatstadt Berlin“ (21 Folgen mit Manuela Reichart, Wolfgang Bauernfeind und Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis, SFB 1986), „Im Widerstand – Europäische Frauen gegen die deutsche Okkupation”, SFB 1983).
Der Weikardshof ist abgebrannt: „Bis auf die Grundmauern“, schrieb die FULDAER ZEITUNG“. Fast 200 Jahre hat er gestanden.
„Gegen 22 Uhr 30 bemerkten Nachbarn das Feuer im Dachgeschoss des alten Herrenhauses. Das aus der Barockzeit stammende Gebäude sollte aus Gründen des Denkmalschutzes renoviert werden. Die Polizei vermutet Brandstiftung. Als die Feuerwehren als Weyhers, Schmalnau, Thalau, Ebersberg, Stellberg und Altenhof am Brandort eintrafen…“
Anderntags fuhr ich raus. Die Brandstelle war schon aufgeräumt. Herabgestürzte schwarze Balkenreste sauber aufgeschichtet, nichts mehr zu retten. Der steinerne Brunnentrog war ohne Wasser. Die Feuerwehr hatte ihn leergepumpt.
Meine Affäre mit Katharina der Großen begann 1962. Damals bin ich auf den Weikardshof gezogen, ein barockes Anwesen im Lüttertal unweit der Bischofsstadt Fulda. Ich mietete ein Zimmer mit breiten Eichendielen und Stuckdecke. Wasser gab es nur vom Brunnen. Es floss in dickem Strahl in ein bemoostes Sandsteinbecken mit der Inschrift: „GEORG IGNATIUS WEICKARD 1794“. Das war der Bruder des berühmten Wunderdoktors, wussten die Bauern noch. Sie hatten eine unscharfe Vorstellung von einem kleinen, verwachsenen Mann bewahrt, den die Geistlichen verwünschten, die einfachen Leute aber verehrten. Und die russische Kaiserin Katharina hatte diesen Melchior Adam Weikard aus dem Fuldischen zum Staatsrat gemacht.
Wie es dazu kam? Du lieber Gott im Himmel… Graue Vorzeit! „Ihr (pluralis majestatis) läst doch de Biecher!“ meinten die Bauern in ihrem altmodischen Rhöner Deutsch.
Leicht gesagt!
„Wir“ nahmen uns also „die Bücher“ vor. Dem Nicht-Historiker half eine selbst-verfertigte synoptische Zeitleiste. Wer – wann – mit wem?
Zunächst trat die Gestalt des Amtmanns Georg Ignaz Weikard (alias Weickard), Jahrgang 1747, aus den Buchstabenwüsten herbeigeschleppter Fachliteratur – vom World Wide Web war noch keine Rede. G. I. Weikard hatte den Hof bauen lassen – und nicht zufällig an dieser Stelle. Aus der Wiese sprudelte nämlich (so schildert es ein altes Brunnenbuch) „kohlensaures Stahlwasser mit dem stärksten Gehalt an kohlesaurem Eisenoxydul, welcher von keinem natürlichen Wasser in Deutschland erreicht“ wurde. Die Bauern holten das eisenhaltige Heilwasser in Eimern und Flaschen „seit Jahrhunderten“. Zu „meiner Zeit“ taten sie es immer noch. Heute verteilt eine Flotte schwerer Lkw’s das Wasser in ganz Deutschland („Rhönsprudel“).
Melchior A. Weikard muss auf diese Quelle aufmerksam geworden sein, und angeblich träumte er sogar von einem Kurort, denn die Rhön war arm, ein „deutsches Sibirien“. Daraus wurde leider nichts. Vor der Verfolgung durch den Fuldischen Klerus floh der ketzerische Anhänger der Aufklärung nach Russland. Dort begann er, seine Memoiren oder DENKWÜRDIGKEITEN zu schreiben. Sie kamen in Frankfurt und Leipzig heraus. Jeder Vater, schrieb Weikard, möge bestrebt sein, „seine Pflänzchen in ein großes, gut regiertes Land abzusetzen“, denn „was kann es helfen, einen Sohn von großen Talenten gezeugt zu haben, wenn er in einem Land eingepflanzt ist, wo man nichts als ganz kleine Talente nützen kann“.
Auch Katharina hat MEMOIREN geschrieben. Die zusammenhängende Lebensbeschreibung endet leider schon 1758, vier Jahre vor dem Offiziersputsch, der sie auf den Thron brachte. Es folgten einige französisch oder russisch verfasste Skizzen für ein Selbstbildnis von zweifelhafter Ähnlichkeit. So begann ein langwieriges Puzzlespiel. Die Puzzlesteine lagen in deutschen Archiven und Bibliotheken verstreut, aber auch in Leningrad und Moskau. Sie sollten möglichst eine Art Doppelporträt ergeben: Arzt und Kaiserin vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts.
Wie, zum Beispiel, sah sie aus – die Zarin Katharina? An schwarze Haare und „große, blaue, runde, sehr ausdrucksvolle Augen“ erinnerte sich einer ihrer Liebhaber, Stanislaus Poniatowski, in seiner Lebensbeschreibung. – „Ihre Haare sind kastanienbraun, ihre Augen braun und sehr schön“, behauptete 1762 der französische Autor Claude Carloman de Rulhjère. Das bestätigt Katharina selbst in ihren Memoiren. „Ich ging gern unbepudert und hatte wirklich schönes braunes Haar, sehr voll und schön gescheitelt“. Aber keines der bekannteren Porträts zeigt sie mit „gescheiteltem“ Haar, und ihre Mutter, die Fürstin Johanna Elisabeth, nannte Katharinas Haarfarbe ein „klares Schwarz“.
Aus dem Puzzle-Spiel wurde Detektiv-Arbeit – das „Abenteuer des Vergangenheitsreporters“, wie es Egon Erwin Kisch genannt hat: Streifzüge durch Bücher, Reisen über vergilbte Landkarten, Spaziergänge auf alten Stichen, Exkursionen in Museen, Ortsbesichtigungen.
Vergangenheitsreporter erfreuen sich in der Vergangenheit größerer Freiheiten als ihre Kollegen, die Gegenwartsreporter, in der Gegenwart. Niemand verlangt ihre Presseausweise, kein Pförtner kann sie abweisen. Sie lassen sich durch Häuser und Paläste führen, durch Bergwerke und Kerker. Leuchten in alle Ecken hinein. Blicken hinter die Kulissen – Politik ist wie Theater, sie wird für das Volk, den „großen Lümmel“ (Heine), und für die Geschichtsbücher inszeniert. Vergangenheitsreporter sind schamlos neugierig. Sie bewegen sich unverwundbar über Schlachtfelder. Sie können sogar fliegen und an zwei Orten gleichzeitig sein. Wenn es nottut, überspringen sie Jahrhunderte.
Nach solchen Reporter-Streifzügen entstand auch dieses Buch (und die Radioserie) über die „teuerste Reklametour der Weltgeschichte“.
„Das Buch, mit dem wir uns ins 18. Jahrhundert träumen“ – so weit ausholend beginnt mein Vortext –– heißt DENKWÜRDIGKEITEN AUS DER LEBENSGESCHICHTE DES KAISERLICHEN ÉTATSRATS M. A. WEIKARD, NACH SEINEM TODE ZU LESEN. Der Buchrücken ist weich, aus rotbraunem Leder, mit Runzeln und Rissen. Dieses Exemplar, für drei Deutsche Mark in einem Donauwörther Antiquariat getrödelt…“ Und so weiter, eineinhalb Seiten lang. Selbst ein Druckfehler wird nicht verschwiegen. „Da hat er einmal geschludert, der Setzer. Da war er vielleicht abgelenkt, ist nach dem ersten und vor dem zweiten unnötigen ‚noch‘ weggerufen worden (einen Kinderstreit schlichten oder zum Frühstück, hat der jungen Nachbarin hinterher gepfiffen, oder ein Huhn wurde überfahren, oder ein Postkutschenrad ging entzwei. Zwischen dem ersten und dem zweiten ‚noch‘ hat Leben stattgefunden. Es kommt mir wie ein Echtheitssiegel vor, dieses ‚noch noch‘…“
Bei historischen Stoffen, fand ich heraus, besteht das Autorenvergnügen (und die Herausforderung) darin, Dokumente durch die von Fakten befeuerte aber auch gezügelte Phantasie zum Sprechen zu bringen. Aus Statik wird Dynamik, Verlauf, Bewegung, Emotion. Aus Papier wird Leben – wie Musik aus Notenblättern.
Dürre Fakten:
Die sog. „Taurische Reise“ der Zarin Katharina 1787 war eine Propaganda-Schau, „dergleichen wohl nie einst ist vollbracht worden und nach aller Wahrscheinlichkeit keine ähnliche mehr vollbracht werden wird“. 20 Millionen Untertanen sollen stolz sein, und die Welt soll staunen.Die international zusammengesetzte Reisegesellschaft steckt in Kiew fest, weil der Dnjepr noch nicht eisfrei ist. Katharinas Günstling Erster Klasse, der Fürst Potemkin, der die Reise organisiert, sorgt für die Unterhaltung der gelangweilten Luxustouristen. Und jener Weikard, scharfsinniger Beobachter und nach Russland geflüchteter Aufklärer, notiert die Einzelheiten.
Das Funk-Manuskript:
(…) GEMESSENES FREE-JAZZ-MOTIV > IN WELLEN GLOCKENTEPPICH UND HISTORISCHE MUSIK ZUMISCHEN (…) KULISSE VERSTUMMT SCHLAGARTIG
ERZÄHLER Wie aus dem Boden gewachsen, erscheint am anderen Ufer des Dnjepr ein Uniformierter zu Ross. Galoppiert auf die schwimmende Brücke. Seine bloßen Haare flattern. Seine Brust blitzt von Orden. Auch die kaiserliche Kutsche setzt sich in Bewegung, sechsspännig. Die Planken knirschen unter dieser Last.
Plötzlich Stille. Keine Salutschüsse, keine Glocken mehr. Nur noch der Hufschlag und das entfernte Rollen und Stoßen der Wagenräder auf Holz. Der Reiter zügelt sein Pferd. Wartet, bis die Kutsche ausrollt. Prescht hinzu. Springt ab.
Dort draußen also, mitten auf dem Strom, legt Fürst Potemkin seiner Kaiserin die alte Metropole (Kiew), ja das ganze Russenreich zu Füßen.
SPRECHER DES WEIKARD Die Regierenden sind alle Schauspieler! Und das Volk, das dumme, will sein Schauspiel haben (…)
(…)
KULISSE IN JAZZ-MOTIV „DNJEPR“ BLENDEN. ROKOKO-MOTIV „KATHARINA“ NACHFOLGEND IN WELLEN DAZU MISCHEN
ERZÄHLER (DARAUF) Der 1. Mai 1787 ist ein windiger, trockener Frühlingstag. Aufgerissener Wolkenhimmel. In kurzen Abständen bricht die Sonne durch. An der ausgebesserten Smolensker Straße, auf der unablässig Equipagen, vier- und sechsspännig, mit quietschenden Bremsen ins Hafenviertel hinunter rumpeln, steht heute Kiew Spalier.
Die Kaiserin ist schon an Bord. Man hat sie aus der Kalesche hineintragen müssen. Es ging schnell und nur wenige haben sie so gesehen.
Seit Tagen wirkt die Zarin müde. Ihr Gang ist watschelnd, schwer. Wasser sammelt sich in ihren Beinen. Ihr Gesicht mit scharfen Falten von der Stirn und aus den Augenwinkeln bis zum Kinn hinunter, sieht wie eine Maske aus. Doch Katharina will nicht einsehen, dass sie eine Babuschka geworden ist.
Alle Ärzte sind jetzt auf dem Flaggschiff. Auch die zahlreichen Körbe des Hofapothekers Leipold wurden dort hineingeschafft.
Die Reisegesellschaft besteht aus 3000 Menschen (…)