Radio-Event der Hörspiel-Abteilung des Hessischen Rundfunks am 28. Februar 1999 von 8 bis 24 Uhr.
Aus einem Werbetext:
So haben sie Europa erlebt – Helmut Kopetzky als Autor und Heidrun Kopetzky, seit 25 Jahren (Stand 1999) privat und beruflich verlinkt, sie – gemeinsam mit dem geistigen Anreger und Redakteur der hr-Radiotage, Dr.Christoph Buggert – verantwortlich für die höchst komplizierte Logistik einer Aufnahmereise über dutzende Ländergrenzen hinweg – von Irland im Westen bis Moldawien im Osten, von Finnland bis Andalusien. 41000 Kilometer in sechs Monaten durch 32 Länder (28 000 mit dem eigenen Pkw).
Dem Lauf des Uhrzeigers folgend, werden schließlich tausende Tonbandkilometer, auf 16 Stunden verdichtet, zu einem Tag in Europa. Dies ist das Wunderbare am Radio: Es hat seine eigenen Zeiten und Orte. Eine Radio-Reise kann überall (weil in unserem beweglichen Kopf) stattfinden. Und obwohl alle scheinbar das gleiche hören, ist die Reise – der Trip – jedes Hörers dennoch anders. Hören ist Tätigsein, Aktivität. Im Akustischen gibt es kein Synonym für das Wort „glotzen“.
Lässt sich Europa so „darstellen“? Nein. Nicht an einem (Radio)Tag und nicht in einem Jahr. Denn natürlich gibt es nicht ein Europa, so wenig es „die Wirklichkeit“ oder gar „die Warheit“ gibt. „Die Welt“ ist unsere Wahrnehmung von Welt. Und jede Art von Wahrnehmung, auch und besonders die akustische, ist immer subjektiv. Mit den Dingen und Räumen und Menschen geht es wie mit der Zeit: Was dem einen quälend lang vorkommt, rast für den nächsten nur so vorüber.
So kann auch die Auswahl der Klangereignisse für diesen Radiotag nicht „ausgewogen“, „repräsentativ“, im Sinn abstrakter Erbsenzählerei „richtig“ sein. Hier ist also der Gesamteindruck einer langen, sehr persönlichen Expedition; keine Bestandaufnahme, keine akustische Kartografie, nichts für die Abteilung „Dokumentation“.
Ich denke: Dieses akustische „Bild“ von Europa – nicht kommentierter, nicht einmal ins Deutsche übersetzter und durch kürzeste Ansagen verbundener Originalton – ist ehrlich, weil die Sendung nicht vorgibt, „objektiv“ zu sein.
DAS BEISPIEL EINER RADIOSTUNDE (10 bis 11 Uhr vormittags)
25 000 Katholiken erklimmen Irlands heiligen Berg Croagh Patrick. Sanitäter haben Großeinsatz.
Die meisten Bauern kommen mit dem Pferdefuhrwerk zum Sonntagsmarkt im rumänischen Birlat, viele auch schon mit dem Auto. Quiekende Ferkel werden im Kofferraum verstaut.
Vor der Universität in Warschau prallen gegnerische Marschsäulen einer Demonstration auf einander. Politik als lustvoller Lärmkarneval.
Der Fleischerladen in Dax, Südfrankreich, ersetzt die Lokalzeitung. Michelle kauft Fleisch für ihren Kater ein.
Akustische Signale schleusen Fußgänger durch das Verkehrsgewühl der O’Connell Street in Dublin.
In der Börse in Frankfurt am Main löst ein Gerücht erst Jagdfieber, dann bittere Enttäuschung aus.
In den Sudeten (Tschechische Republik) schmilzt der Schnee. Die Bäche laufen über.
Juden aus aller Welt beten und singen in der überfüllten Synagoge von Warschau.
Auf dem Markt in Titov Veles, Mazedonien, sind heute Rasierklingen besonders günstig.
In Brashov, dem früheren Kronstadt in Siebenbürgen, leckt die Sonne den letzten Schnee vom Schieferdach der Schwarzen Kirche und erzeugt Dachrinnenmusik.
Eine serbische Kirche im kroatischen Zagreb: Zum täglichen Gebet erscheint nur eine Handvoll orthodoxer Gläubiger.
Im südschweizer Evolène, Kanton Wallis, sucht Herr Forclaz die Apotheke auf. Die Bewohner dieses Seitentals der Rhone sprechen noch das altertümliche Romanisch.
Ein Sturmtief zieht über die Ägäis. Auf der Kykladeninsel Sifnos heult es in den Kaminen und die Fensterläden klappern laut.
Dr. Christoph Buggert in einer Korrespondenz aus Anlass des Radiotags 1999
(…) In den Anfangszeiten des Radios und dann beim Wiederbeginn nach 1945 kam den Hörspiel die Aufgabe eines Medienlabors zu. Hier wurden neue Formate ausprobiert, die das Radio insgesamt beeinflussen wollten. Es steht dem Hörspiel gut an, diese Aufgabe (und Chance) nicht zu vergessen.
(…) An den hr2-Radiotagen interessiert mich: Die Veränderung der medialen Rituale. Der konkretisierte Zweifel, der davon ausgeht, dass bisher gefundene Programmformate der Gegenwart (ihrem Alltag, ihren Problemen, ihren Erfahrungsmustern, ihren spielerischen Potentialen) nicht nah genug kommen.
(…) Hinter meinen Radioteagen steckt durchaus auch eine ästhetische Absicht. Ich denke, eine der großen Illusionen unserer Zeit ist die Formatierung. Jedes Format, jedes abgeschlossene Programm wird über kurz oder lang widerlegt durch das, was ausgelassen wurde bzw. nicht hinreichend einkalkuliert war. Unübersichtlichkeit, Rekonstruktion der Uferlosigkeit – das ist gerade im Medium Radio eine wichtige Erfahrung.
(…) Radio der Gegenwart glaubt, jedes aber auch jedes Thema in zweieinhalb Minuten abhandeln zu können. Gegen solche Eingrenzung hat die bloße Entgrenzung eine gewisse Berechtigung. Es geht aber um mehr. Die Metatheorie, die wir alle suchen, wird nicht mehr Randlinien ziehen oder Benennungen suchen. Sie wird Bewegung sein, Durchgang, eine “Befindlichkeit mittendrin”. Dafür müssen Formen gefunden werden (…)