Prag auf acht Etagen
MDR / RBB 2009 (54:19)
MANUSKRIPT-AUSZÜGE:
EINE KAKOPHONISCHE MISCHUNG AUS MUSIKSTÜCKEN, DIE AUF VERSCHIEDENEN ETAGEN DES PRAGER WOHNHAUSES ZU HÖREN SEIN WERDEN: JAZZ, BACH, CHOPIN, INDISCHE RAGAS
Das Haus ist hoch und breit und aufgedonnert. Baujahr etwa 1890. Gründerzeit. Riesenweiber mit Kanonenkugel-Busen stemmen überladene Balkone, Nymphen räkeln sich auf Mauervorsprüngen, Kentauren recken Marmor-Fackeln in die Luft. Abends ist das Haus beleuchtet wie ein Luxusdampfer vor dem Auslaufen.
Acht Etagen – dreizehn Mietparteien. Die Menschen, die Sie hören werden, leben wirklich. Nur das Haus, das besagte, gibt es nicht …
Das heißt: Es steht an jeder Ecke zwischen Wenzelsplatz und Karlsbrücke. In der Pařižská. Oder in der Maiselova. An der Ecke Havelská / Michalská. In der Kaprova, Rytiřská. In der Melantrichova, gleich hinterm Altstädter Ring. Ein Haus voller Geschichten. Und satt an Geschichte. Es ist …
Ansage Ein Europäisches Haus. (…)
U‑BAHN-STATION / EIN- UND AUSFAHRENDE ZÜGE / LAUTSPRECHER-DURCHSAGEN / DIE SCHRITTE EILIGER PASSAGIERE
Ansage Souterrain
MILAN KUSÝ, TSCHECHISCH / DARAUF:
Milan Kusý steht jeden Tag im Eingang zur Metro-Station und verkauft die Obdachlosenzeitung “Novi Prostor” – etwa “Neuer Raum” oder “Land in Sicht”. Kein gesunder Arbeitsplatz. Jede einfahrende U‑Bahn lässt die Zeitungsseiten flattern. Herr Kusý ist dauernd erkältet. Er trägt einen grün-grauen Parka und Fäustlinge. Man kann davon leben, sagt er. Aber nur, wenn man eisern jeden Tag herkommt. Sonst verliert man seine Stammkunden. Hier sind es an die 50, am andern Standort — in der Vinohradská – 30. Die Zeitschrift kostet 20 Kronen, 15 für die Organisation der Obdachlosen, fünf für den Verkäufer. Das muss reichen. Mit 50 Jahren sind die Arbeitschancen nahe Null.
MILAN KUSÝ, TSCHECHISCH
Mit 38 hatte Herr Kusý, gelernter Dreher und Baggerfahrer, ein Taxi geleast. Er wollte sich selbständig machen. Aber schon nach einem halben Jahr: Unfall und Totalschaden. Der Leasingvertrag lief weiter. Die Versicherung zahlte nur schlecht. Er flog aus der Wohnung. Die Frau ließ sich scheiden.
Eine Weile versuchte sich Herr Kusý als Verkäufer in einem Erotik-Laden an der Grenze. Seit fünf Jahren steht er hier mit der Zeitung “Land in Sicht”. Er übernachtet bei Freunden und zahlt, was er grade so übrig hat.
MILAN KUSÝ, TSCHECHISCH
Das alles glaubt man erst, wenn es passiert ist, sagt Herr Kusý.
(…)
TREPPENHAUS / STIMMEN / DIE JAZZBAND JETZT HALLIG ENTFERNT / SCHRITTE TREPPAUF
Diese wunderbar kühlen Treppenhäuser ! Falscher Marmor an den Wänden. Das seit Jahrzehnten mit Pappe verklebte Fenster der Concierge. Solide Steinstufen, “Stiegen” hießen sie im Prager Deutsch — leicht zu gehen, breit und nicht zu hoch. Am Morgen immer etwas feucht. Geruch von Seifenlauge. Man hastet nicht, man steigt.
Ansage Hochparterre oder “Mezzanin”.
TÜRKLINGEL
“Müller” steht auf dem Plastikschild. Der Löwenkopf aus Messing mit dem Klingelgriff im Maul ist wohl gestohlen worden. Nein, ich bin nicht angemeldet. Auch Pan Tau – Sie erinnern sich – konnte einfach durch die Wand gehen. Wir sind in Prag — und im Radio !
ENTFERNT RADIOMUSIK, VON WERBESPOTS UNTERBROCHEN
TÜRGERÄUSCH / SCHRITTE IM FLUR
Hana Valentová Ohhh … I’m Hana and … (SIE LACHT VERLEGEN)
Hana Valentová, 23 Jahre alt, eine Untermieterin. Studentin auf der Prager Film- und Fernseh-Hochschule.
HANA (TSCHECHISCH, DARAUF:)
Als sie zum ersten Mal diese Ein-Raum-Wohnung sah, war sie geschockt, sagt Hana. Junkies hatten hier gewohnt. Dreck und Löcher in den Wänden. Aber der Blick aus dem Fenster hat sie dann doch überzeugt.
SCHRITTE ZUM OFFENEN FENSTER / STRASSENGERÄUSCHE (PASSANTEN-STIMMEN, MÜLLABFUHR, AMBULANZEN)
Hana sieht:
Simse, Nischen, Balustraden … Titanenschenkel und Engelpopos … Vom Staub ergraute Drachen mit Lichtern aus Taubenschiss… Die Sonne, wenn sie untergeht, projiziert den Schatten unseres Hauses auf die gegenüberliegende Fassade.
TAUBENGEFLATTER / DAS FENSTER WIRD GESCHLOSSEN / SCHRITTE
IM ZIMMER / HANA, TSCHECHISCH / DARAUF:
Sie leben hier zu zweit, Hana ist verheiratet. Sie haben nur einen Tisch, an dem sie essen und arbeiten. Und bügeln muss man ja auch irgendwo. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und Arbeitsplatz … Alles auf 20 Quadratmetern.
Ewig geht das nicht, sagt Hana. Zwei kleine Zimmer, ein Garten —
das wäre schön. Aber dann müssten sie Geld auftreiben. Das Thema ist zur Zeit tabu.
(…)
TREPPENHAUS / EIMERKLAPPERN / DIE ENTFERNTE JAZZ-MUSIK /
Und noch einer wohnt auf dieser Etage …
TÜRKLINGEL / “Dobry den! — Dobry den!” / GERÄUSCHE DER
MASSAGE-PRAXIS
Auf dem Weg in sein Kabuff — früheres Dienstbotenzimmer — muss der Untermieter Nummer 2 jedes Mal auf Zehnspitzen die Massage-Praxis von Herrn Beranek durchqueren.
N. N. (TSCHECHISCH) / ZIMMERTÜR
“Ich selbst bin nicht wichtig”, sagt der junge Mann. Er ist Anarchist.
N. N. (TSCHECHISCH)
Er versuche einfach, sagt Herr Noname, sich vom Zeitgeist abzukoppeln. Was anderen so wichtig sei – Karriere und viel Geld — interessiere ihn die Bohne.
Das Studium der Politologie hat er gerade beendet und schreibt jetzt – was für ein Zufall ! – für die Obdachlosenzeitschrift “Land in Sicht”. Milan, den Verkäufer in der Metro, hat er bisher nicht getroffen. Er selbst geht meist zu Fuß.
Und Ihre Vision, Herr … ?
N. N. (TSCHECHISCH)
Eine Gesellschaft, die sich selbst organisiert, ohne Gewalt und Repression … In der sich die Menschen verwirklichen können — ohne jede Form von Hierarchie … Alle sollen gleich und frei sein.
TREPPENHAUS / ENTFERNT DAS SIGNALHORN EINER AMBULANZ / STIMMEN / AUTOR KLOPFT AN TÜREN / EINE TÜR WIRD GEÖFFNET
Ansage Erster Stock – die Beletage.
Petr Adler (AUF DEUTSCH) Ich bin so eine mitteleuropäische Mischung. Meine Mutter war arisch-deutsch und mein Vater jüdisch-tschechisch.
Das ist Herr Adler, ein Jude, der in diesem Haus die Hitlerzeit überlebt hat und die Zeit danach. Seine Frau ist Kunsthistorikern und fast blind.
Frau Adler Jetzt bin ich schon in Pension …
Petr Adler Schau’n Sie — Sie finden hier praktisch niemanden, der rein slawischer oder germanischer Abstammung wäre. Alle sind Mischlinge – irgendwie !
Frau Adler Ja !
Herr Adler Meine Mutter hat sich im Krieg zur tschechischen Nation bekannt und hat die Lebensmittelkarte mit einem „T“ gehabt – also „Tschechisch“. Mein Vater hatte das „J“ dort – das war ja klar …
„J“ für „Jüdisch“
Herr Adler … Aber jetzt ist eben die Sache kompliziert: Weil er vor oder nach einem Datum geboren wurde und nie zur jüdischen Religion gehört hat, ist er kein „Geltungsjude“. Er durfte nicht die Praxis ausüben, die ärztliche, musste den Stern tragen, aber er musste nicht ins KZ. Die arische Frau hat ihn geschützt.
DER PARKETTBODEN KNARRT
Das ist der Ordinationssessel meines Vaters, der dann ungefähr 20 Jahre lang auf dem Balkon stand und jetzt so ausschaut …
HERR ŠVÁB SINGT NEBENAN / BEIM EINTRETEN: STIMME NAH
Herr Šváb nebenan singt den Kiddush — am Vorabend des Sabbat.
“Gesegnet seist Du / Herr, unser Gott / König des Universums,
der die Weinreben wachsen lässt … !”
JAKUB ŠVÁB (ENGLISCH, DANN TSCHECHISCH / DARAUF:)
Wer ich bin ? Ein einfacher Jude in Prag … Hier geboren, immer hier gelebt – die ganzen 30 Jahre.
Herr Šváb ist Fremdenführer, spezialisiert auf jüdische Touristen.
Die jüdische Gemeinde Prags – früher einmal über 40 000 Mitglieder – kommt heute auf keine 2000 und zerfällt in eine Reihe religiöser Splittergruppen.
Herr Šváb ist unabhängig – “obwohl”, so sagt er, “meine Freunde glauben, dass ich orthodox bin”. Das macht vielleicht sein Patriarchen-Bart.
Antisemitismus ?
Außer den paar Neonazis, sagt Herr Šváb, diskriminiert uns hier niemand.
Petr Adler Den populären „Volks-Antisemitismus“ gibt es immer — und selbstverständlich: je mehr Juden desto mehr. Also sehr stark ist er nicht, weil
die Juden ja jetzt Mangelware sind.
Autor Aber das ist jetzt nicht ein vorrangiges Problem – dass man sagt: Oh,
jetzt fängt das hier auch bei uns wieder an, auf ’ne andere Art ?
Petr Adler Es hat nie aufgehört ! Auch nach dem Krieg nicht. Das war eine fürchterliche Enttäuschung für meinen Vater. Der hat gedacht, die Juden werden umjubelt sein, die zurückkommen. Keine Spur davon selbstverständlich !
Autor Also auch die Emigranten wurden …
Adler Emigrant und Jude – na, das ist schon ein bisserl zu viel !
(FRAU ADLER LACHT IM HINTERGRUND)
(…)
GERÄUSCHE AUF DEM FLUR
Der Flur ist vollgestellt und dunkel. Ein Lichtschacht überträgt Gerüche und Geräusche aus dem Hostinec U Pošty unten. Schweinefleisch mit Knödeln – Stammessen. Nur 96 Kronen.
Vor dem ersten Weltkrieg was das alles eine Wohnung,
“herrschaftlich”. An hohen stuckverzierten Decken flattern Vögel, wachsen Früchte – häufig übertüncht und kaum noch zu erkennen.
Ich sage “Dobry den” ! “Guten Tag”, sagt die alte Frau, die vor ihrer Tür steht. “Kommen Sie doch ‘rein !”
ZIMMERTÜR WIRD GESCHLOSSEN
Zuzana Podmelová (AUF DEUTSCH) Meine Großmutter, die stammte aus Halle an der Saale, mein Großvati aus einem kleinen provinziellen Städtchen in Böhmen, mein Vati war aus Prag, meine Mutti aus Wien …
Zuzana Podmelová, 86 Jahre alt. Alleinstehend.
Um diese Tageszeit kann man sie gewöhnlich auf der Strasse sehen. Dann stiefelt sie in Turnschuhen, mit Einkaufsrucksack, weiße Baseball-Cap, zum Mittagstisch im jüdischen Gemeindehaus.
Nur heute ist ihr nicht zum Ausgehen zumut.
Podmelová Meine Mutti war Gläubig. Aber wir waren reformierte Juden, alle. Wir haben nie koscher gegessen. Wir haben die großen Feiertage gefeiert …
Die jüdische Kultur, das ist nicht nur Religion.
Als Hitler an die Macht kam, war Zuzana Dreizehn. Fünf Jahre später wurden Österreich und dann das überwiegend deutsch-sprachige Grenzgebiet der Tschechoslowakei vom großen Nachbarn einkassiert.
Podmelová Das war eine Asylanten-Wohnung. Zuerst kamen Großvati und Großmutti aus Wien, und die haben bei uns gewohnt. Und dann kam mein Onkel und meine Tante und meine Cousine. Diese drei wohnten auch bei uns.
Autor Da waren Sie schon wie viele in der Wohnung ?
Podmelová Da waren wir fünf mehr … Also wir drei — Vati, Mutti und ich … Großvater und Großmutti und die drei aus Karlsbad – Onkel, Tante und meine Cousine. Wir hatten einen Hund …
Autor Das war schon Nummer neun !
Podmelová … der wohnte im Badezimmer. Wir habe es uns eingeteilt, wann — wer – wohin … Wie lange er baden kann und so … Damit wir nicht alle auf einmal — Wir haben auf einander Rücksicht genommen.
TREPPENHAUS / JUGENDLICHE STIMMEN, GELÄCHTER / ENTFERNT: JAZZMUSIK AUS DEM PARTERRE / FAHRSTUHL
Der Fahrstuhl zittert, rumpelt, knirscht — ein verzierter Käfig an Drahtseilen. Ängstliche gehen besser zu Fuß. Fast unhörbar krächzt eine weibliche Stimme die Zahl der Etagen.
DIE STIMME (TSCHECHISCH)
Ansage Die zweite Etage.
BEIM AUSSTEIGEN KLAVIERMUSIK (EINE GAVOTTE VON J. S. BACH) / TÜRGERÄUSCH, SCHRITTE / KLAVIERMUSIK JETZT NAH … ENDET
Melkusová Milch … oder ?
Autor Ein bisschen …
Ludmilla Melkusová, 86 Jahre alt, Klavierlehrerin.
KNARRENDE SCHRITTE AUF ALTEM PARKETT
Autor Sie trinken keinen Kaffee ?
Melkusová Sehr wenig.
Autor Dankeschön ! … Haben Sie noch Studenten zur Zeit ?
Melkusová (AUF DEUTSCH)Noch eine Studentin. Sie ist schon Magister …
Autor Sie sind in diesem Haus geboren …
Ludmila Melkusová Ja … Im Jahre 1922 schon … (SIE LACHT) Ich war am Konservatorium 25 Jahre, bis ich pensioniert wurde.
Ein Bruder ihres Großvaters war ein Buchbinder. Später kam er zu Geld mit bedruckten Kranzschleifen und kaufte das Haus gegenüber.
Autor Kann man die Fenster aufmachen ? — Wenn Sie mir mal zeigen, wo da drüben diese Druckerei war …
Melkusová Das sind diese zwei schmutzigen Fenster …
Autor Weil hier so viel gebaut wird !
DAS FENSTER WIRD GEÖFFNET / BAUGERÄUSCHE UND STIMMEN-GEWIRR AUF DER STRASSE / AUSRUFERIN
Autor Das gehört heute einer Firma – der Markt ?
Früher Obst und Gemüse, heute Souvenirs. Überall die gleichen Wappenteller, Vasen, Spejbl-und-Hurvinek-Marionetten. Standardisierte Buden mit standardisiertem Kitsch.
Melkusová Man hört fast nie tschechische Sprache hier …
Die Händler kommen aus Bulgarien, aus Russland und aus der Ukraine, die Touristen aus der ganzen Welt.
DAS FENSTER WIRD WIEDER GESCHLOSSEN
Autor Wir wollen nicht so viel kalte Luft reinlassen … Dankeschön !
Den größten Umsatz aller Zeiten machte der Großvater drüben,
als Tomáš Masaryk starb, 1937 – bis 1935 Staatspräsident.
Eine Vaterfigur.
Melkusová Gegenüber, da machte man die Schleifen – Trauerschleifen …
Autor “In tiefer Trauer” oder so etwas stand darauf …
Melkusová Oui …Die ganze Familie helfte (half) – über die Nacht auch …
Autor Die Menschen waren alle so sehr traurig …
Melkusová Ja, ja !
Prag wehrte sich mit Trauerschleifen – gegen Hitler.
SCHRITTE IM ZIMMER
Autor Was ist das ? (LIEST) “Contredanse …”
Melkusová Das ist Chopin … Wenn Sie wollen ?
Die Noten auf dem Klavier sind noch aufgeschlagen.
Melkusová Aber ich weiß nicht wo meine …
Frau Melkusová sucht ihre Brille.
Melkusová (ENTFERNT) Ich spiele nicht mehr, und ich kann nicht mehr mit meinen Brillen sehen … (SCHRITTE) Ich sehe so schlecht … (SIE SEUFZT) Ach, ich weiß nicht wo sie liegt …
Autor Am Fensterbrett ist noch eine Brille …
Melkusová Also: Frédéric Chopin, “Contredance” …
SIE SPIELT / HARTER SCHNITT IN:
RUNDFUNK-AUFNAHME VOM EINMARSCH DER DEUTSCHEN TRUPPEN IN PRAG / MARSCHMUSIK / SPULGERÄUSCH
Im März ’39 wurde Prag besetzt. Der Rundfunkmann Petr Adler hat noch Ton-Kopien in der Schublade.
JAN MASARYK, TSCHECHISCH / DARAUF:
Die Stimme von Jan Masaryk, Sohn von Tomáš Masaryk, Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung in London — Herbst 1939.
JAN MASARYK
„… Hitler und seine Bande … Die Geduld der westlichen Demokratien ist erschöpft … Unser Programm ist die freie Tschechoslowakei in einem freien Europa …”
SPULGERÄUSCH
Petr Adler Die deutsche Okkupation war arg. Das war wirklich Lebensgefahr fortwährend.
Autor Das deutsche Militär war immer anwesend, sichtbar …
Adler Anwesend, marschierend, singend … Und wir können Ihnen bis heute
„Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein“ und anderes bis zum „Horst-Wessel-Lied“ vorsingen …
Frau Adler (SINGT) „Und das heißt: Erika …“ (SIE LACHT)
(…)
FAHRSTUHL / STOCKWERK-ANSAGE (TSCHECHISCH)
Ansage Die dritte Etage.
TÜR / AUTOR: “Dobry večer !” / GEDÄMPFTE MUSIK
Eine elegante Wohnung. Neue Sachlichkeit. Fotos an den Wänden, großformatig, streng schwarz-weiß. Franz Kafkas Prag: Sein Schulweg, Wohnung an der Teinkirche, die Treppe der Arbeiter-Unfall-Versicherung (Kafkas Dienststelle), das Arbeitshäuschen in der Alchimistengasse, der Neue Jüdische Friedhof …
Jan Parik (AUF DEUTSCH) Für mich war das Kafka und Prag, immer !
Sie sind sicher auch gepilgert zu Kafkas Grab …
Autor Nee …
Parik Geht mal hin !
Jan Parik, Fotograf. Jahrgang 1936.
Autor Sie sind in Wroclaw geboren …
Parik … in Breslau !
Autor In Breslau, als Deutscher …
Parik Als Deutscher — im jüdischen Krankenhaus. Mein Vater sprach deutsch, der hat Deutsch studiert. Und meine Mutter war Deutsche. Und ich bin ein richtiges Kapitalisten-Kind.
Autor Aha …
Parik Mein Vater hat immer gesagt: Wenn es schlecht geht, dann gehen wir in die Tschechei.
Autor Aber die Geschichte hat Sie ja dann schnell eingeholt …
Parik Ganz schnell eingeholt !
Die “deutsche Zeit”, so erfahre ich, überstand der kleine Jan aus Breslau bei seinem tschechischen Großvater. Mit 19 wurde er Student.
Parik Ich studierte auf der Filmhochschule, die in dieser Straße ist.
Die berühmte FAMU. Dort anzukommen war nicht einfach, in den Fünfzigern …
Autor Was wäre da ein Hinderungsgrund gewesen ?
Parik Ein Hinderungsgrund war mein kapitalistischer Background und jüdischer Background.
Autor Das Jüdische auch ?
Parik Das Jüdische auch – das mochten die Kommunisten nicht. Ich hab mich immer dazu bekannt, dass ich die Kommunisten nicht mag.Die haben mich ’57 aus der Schule geschmissen !
(…)
An herbstlichen Regentagen wie heute verdichten sich die Gassen der Altstadt zu Schwarz-Weiß-Bildern von Jan Parik, dem Kafka-Fotografen aus dem dritten Stock. Die Nymphen an der Häuserfront gegenüber sehen mürrisch aus. Trotz der hohen Fenster ist das Zimmer jetzt ganz dunkel.
(…)
TREPPENHAUS / FAHRSTUHL
Ansage Die vierte Etage.
Hier oben wohnt der letzte Kommunist im Block, ein jugendlich wirkender Mittfünfziger.
TÜRGLOCKE / TÜR
Und damit ich gleich Bescheid weiß …
Josef Skála (AUF TSCHECHISCH / DARAUF:)
“Ich bin kein Millionär !” Dr. Josef Skála lächelt offensiv. Aus der Erbmasse des Kommunismus, habe er nicht eine Krone mitgenommen. Sein Ur-Großvater hat die KPČ mitgegründet, 1921. Er selbst – Absolvent und später Lektor für Philosophie und Geschichte an der Karlsuniversität — nennt sich heute “freiberuflicher Marxist” und verdient seinen Lebensunterhalt als Aufsichtsratvorsitzender einer Exportgesellschaft …
Skála wäre lieber Universitätslehrer geblieben. Doch obwohl er nie Agent oder Mitglied der Staatssicherheit gewesen sei, stehe er – auf Grund seiner Überzeugungen — seit ’89 auf der schwarzen Liste. Allerdings sei er “stolz genug, diese ungebildeten Politiker, die heute an der Spitze stehen, zu ignorieren !”
Zur Zeit wird unser Volksvermögen praktisch für nichts an ausländische Investoren verscherbelt. “Wir sind Gastarbeiter im eigenen Land”, sagt Herr Skála.
(…)
FAHRSTUHL
Ansage Fünfte Etage. Penthouse.
Auf diesem Treppenabsatz: Stahl und Glas. In der Ecke, selbst-leuchtend, ein kleiner Buddha …(AUTOR LIEST) “LMC – Electronic Job Market — Spojení s elitou” — In Kontakt mit der Elite”.
Also dann …
TÜRGERÄUSCH / TIBETANISCHE MUSIK
Libor Malý This is my teacher …(AUF DAS ENGLISCHE ORIGINAL:)Ein Online-Lama aus Tibet It’s great ! Er sendet Botschaften im Netz … Sometimes I’m saying: Buddha was the best management consultant I’ve evermet … Buddha war der beste Management-Berater, dem ich je begegnet bin … Kleiner Scherz!
Libor Malý, Jahrgang 1968, dirigiert die größte Job-Börse in Tschechien. 40 000 User loggen sich hier täglich ein. Der Büro-Komplex reicht bis zur nächsten Querstraße.
Libor Malý I was born in Prague in 1968 … I was two, three months when the Soviet army came to Prague to liberate us from this Western capitalistic deviation which started to happen these times … Er war noch ein Baby, als die Rote Armee erschien, um die Prager “von der kapitalistischen Verirrung zu befreien, die damals grassierte”, sagt Herr Malý. Auf einem Foto sieht man ihn im Kinderwagen, ein sowjetischer Tank biegt grade um die Ecke.
… I started to work as a programmer … Der Ökonomie-Student wurde Programmierer … and then surprisingly … und weil damals nach der Wende ’89 niemand so richtig bescheid wusste … I became a marketing manager of that software house … stieg er kurz darauf zum Marketing-Manager der selben Software-Firma auf … And then after a few years I became head hunter … versuchte sich als Headhunter … und 1995 gründete Herr Malý dieses erste Job-Portal der Republik … I had a good time with a good idea at a good place and I just succeed here.
Der Mann ist praktizierender Buddhist. Buddha lehrt, wie man als Boss mit 180 Leuten richtig umgeht, sagt er …
Seine Feng-Shui-Beraterin hat den kleinen Brunnen ausgesucht, und auch diese schöne Statue – die Grüne Tara, eine Art weiblicher Buddha. Schützt vor der Angst und führt zur Erleuchtung.
Autor You have … scents …
Libor Malý I have the essence from many herbs … Die Gerüche laden die Luft positiv auf … The cristal in the middle of the room — again this is Feng Shui — and it concentrates energy … Auch der Kritall, der von der Decke baumelt, ist Feng Shui. Konzentriert die Energie … There is more control of what’s happening in the office … Alles läuft dann kontrollierter ab …
Was noch ? … You have sunshine inside the offices … Leuchtröhren in der Decke, die Sonnenlicht simulieren …Hey – the sun is shining — it’s good ! It’s of course not so cheap … Das alles war nicht grade billig. Und noch etwas … What I want to show you is this thing … Ein kurioses Etwas aus Kupfer, sieht aus wie ein Vogelhäuschen. Ein Kabel führt in die Wand … It’s getting all the negative electromagnetic smoke and sends it back outside … Fängt den Elektrosmog ein und leitet ihn ab … out of the company !
I think it’s from Germany …Kommt wohl aus Deutschland !
Libor Malý Completely useless – but it works ! (ER LACHT)
Autor Interesting !
Libor Malý And the sun is shining – even inside ! Manche glauben schon, der Boss tickt nicht ganz richtig, sagt Herr Malý. Aber: Die sind gern hier ! … It’s a win-win-solution … I need to have the best motivated, best people who work as good and as much as they can for me – to earn my money … Er brauche die motiviertesten Mitarbeiter, die besten, fleißigsten Leute, damit sie ihm das Geld verdienen … There is no trick ! Buddhism works with the mind !
Das Ei des Buddha !
Sonst kann jeder denken, was er will ! … We are not a church, we are a business … Das hier ist keine Kirche, sondern Geschäft !
ATMO “BÜRO MALÝ” WEG
WOHNUNG PARIK / ENTFERNT IN DER GASSE NUR NOCH EINZELNE STIMMEN, EINE TURMUHR SCHLÄGT
Mitternacht vorbei. Von seiner Wohnung aus sieht Jan Parik, Kafkas Fotograf, die Lichter auf der Kleinseite, jenseits der Moldau. Nach der Rückkehr aus Amerika ist ihm Prag – nach und nach – fremd geworden.
EINE TURM-UHR SCHLÄGT
Parik (MÜDE UND NACHDENKLICH) Das sind andere Menschen, sind alles andere Menschen !
Autor Inwiefern ?
Parik Ich weiß es nicht. Ich hab alte Freunde getroffen, und wir hatte uns vielleicht für ein paar Minuten was zu sagen. Das war alles ! Ich lebe mit meiner Frau, mit meinem Kind, hier eigentlich zurückgezogen. Wie in einem Elfenbeinturm … Splendid isolation …
Ich hab einen Freund, aber der ist über Achtzig und hat mir jedes Mal erzählt, dass er todtraurig ist und dass seine Frau gestorben ist … Und er ist nicht gut drauf … Ich lieb’ ihn abgöttisch – aber diese Leute werden einmal nicht sein …
Autor Es geht eine Welt mit unter – die Sie im Grunde auch für ihre Fotos brauchen …
Parik Exakt was Sie sagen ! Das ist wie ein Nährboden … Wie ’ne Pflanze ohne Erde. Die kann nur ’ne Weile im Wasser existieren, dann geht sie ein oder verfärbt sich irgendwie … Ich suche jetzt ’ne Antwort …
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