Ein europäisches Haus

Prag auf acht Eta­gen

MDR / RBB 2009  (54:19)


MANUSKRIPT-AUSZÜGE:


EINE KAKOPHONISCHE MISCHUNG AUS MUSIKSTÜCKEN, DIE AUF VERSCHIEDENEN ETAGEN DES PRAGER WOHNHAUSES ZU HÖREN SEIN WERDEN: JAZZ, BACH, CHOPIN, INDISCHE RAGAS

Das Haus ist hoch und breit und auf­ge­don­nert. Bau­jahr etwa 1890. Grün­der­zeit. Rie­sen­wei­ber mit Kano­nen­ku­gel-Busen stem­men über­la­de­ne Bal­ko­ne, Nym­phen räkeln sich auf Mau­er­vor­sprün­gen, Ken­tau­ren recken Mar­mor-Fackeln in die Luft. Abends ist das Haus beleuch­tet wie ein Luxus­damp­fer vor dem Auslaufen. 

Acht Eta­gen – drei­zehn Miet­par­tei­en. Die Men­schen, die Sie hören wer­den, leben wirk­lich. Nur das Haus, das besag­te, gibt es nicht … 
Das heißt: Es steht an jeder Ecke zwi­schen Wen­zels­platz und Karls­brü­cke. In der Pařižs­ká. Oder in der Mais­el­o­va. An der Ecke Havels­ká / Mich­als­ká. In der Kapro­va, Rytiřs­ká. In der Melan­tricho­va, gleich hin­term Alt­städ­ter Ring. Ein Haus vol­ler Geschich­ten. Und satt an Geschich­te. Es ist …

Ansa­ge  Ein Euro­päi­sches Haus. (…)

U‑BAHN-STATION / EIN- UND AUSFAHRENDE ZÜGE / LAUTSPRECHER-DURCHSAGEN / DIE SCHRITTE EILIGER PASSAGIERE

Ansa­ge  Sou­ter­rain 

MILAN KUSÝ, TSCHECHISCH / DARAUF:

Milan Kusý steht jeden Tag im Ein­gang zur Metro-Sta­ti­on und ver­kauft die Obdach­lo­sen­zei­tung “Novi Pros­tor” – etwa “Neu­er Raum” oder “Land in Sicht”. Kein gesun­der Arbeits­platz. Jede ein­fah­ren­de U‑Bahn lässt die Zei­tungs­sei­ten flat­tern. Herr Kusý ist dau­ernd erkäl­tet. Er trägt einen grün-grau­en Parka und Fäust­lin­ge. Man kann davon leben, sagt er. Aber nur, wenn man eisern jeden Tag her­kommt. Sonst ver­liert man sei­ne Stamm­kun­den. Hier sind es an die 50, am andern Stand­ort — in der Vin­ohr­ad­ská – 30. Die Zeit­schrift kos­tet 20 Kro­nen, 15 für die Orga­ni­sa­ti­on der Obdach­lo­sen, fünf für den Ver­käu­fer. Das muss rei­chen. Mit 50 Jah­ren sind die Arbeits­chan­cen nahe Null. 

MILAN KUSÝ, TSCHECHISCH

Mit 38 hat­te Herr Kusý, gelern­ter Dre­her und Bag­ger­fah­rer, ein Taxi geleast. Er woll­te sich selb­stän­dig machen. Aber schon nach einem hal­ben Jahr: Unfall und Total­scha­den.  Der Lea­sing­ver­trag lief wei­ter. Die Ver­si­che­rung zahl­te nur schlecht. Er flog aus der Woh­nung. Die Frau ließ sich scheiden. 

Eine Wei­le ver­such­te sich Herr Kusý als Ver­käu­fer in einem Ero­tik-Laden an der Gren­ze. Seit fünf Jah­ren steht er hier mit der Zei­tung “Land in Sicht”. Er über­nach­tet bei Freun­den und zahlt, was er gra­de so übrig hat.

MILAN KUSÝ, TSCHECHISCH

Das alles glaubt man erst, wenn es pas­siert ist, sagt Herr Kusý.

(…)

TREPPENHAUS / STIMMEN / DIE JAZZBAND JETZT HALLIG ENTFERNT / SCHRITTE TREPPAUF

Die­se wun­der­bar küh­len Trep­pen­häu­ser ! Fal­scher Mar­mor an den Wän­den. Das seit Jahr­zehn­ten mit Pap­pe ver­kleb­te Fens­ter der Con­cier­ge. Soli­de Stein­stu­fen, “Stie­gen” hie­ßen sie im Pra­ger Deutsch — leicht zu gehen, breit und nicht zu hoch. Am Mor­gen immer etwas feucht. Geruch von Sei­fen­lau­ge. Man has­tet nicht, man steigt. 

Ansa­ge  Hoch­par­terre oder “Mez­za­nin”. 

TÜRKLINGEL  

Mül­ler” steht  auf dem Plas­tik­schild. Der Löwen­kopf aus Mes­sing mit dem Klin­gel­griff im Maul ist wohl gestoh­len wor­den. Nein, ich bin nicht ange­mel­det. Auch Pan Tau – Sie erin­nern sich – konn­te ein­fach durch die Wand gehen. Wir sind in Prag  — und im Radio !

ENTFERNT RADIOMUSIK, VON WERBESPOTS UNTERBROCHEN

TÜRGERÄUSCH / SCHRITTE IM FLUR

Hana Valen­to­vá  Ohhh … I’m Hana and … (SIE LACHT VERLEGEN)

Hana Valen­to­vá, 23 Jah­re alt,  eine Unter­mie­te­rin. Stu­den­tin auf der Pra­ger Film- und Fernseh-Hochschule.

HANA (TSCHECHISCH, DARAUF:)

Als sie zum ers­ten Mal die­se Ein-Raum-Woh­nung sah, war sie geschockt, sagt Hana. Jun­kies hat­ten hier gewohnt. Dreck und Löcher in den Wän­den. Aber der Blick aus dem Fens­ter hat sie dann doch überzeugt.

SCHRITTE ZUM OFFENEN FENSTER / STRASSENGERÄUSCHE (PASSANTEN-STIMMEN, MÜLLABFUHR, AMBULANZEN)

Hana sieht: 

Sim­se, Nischen, Balus­tra­den … Tita­nen­schen­kel und Engel­po­pos … Vom Staub ergrau­te Dra­chen mit Lich­tern aus Tau­ben­schiss… Die Son­ne, wenn sie unter­geht, pro­ji­ziert den Schat­ten unse­res Hau­ses auf die gegen­über­lie­gen­de Fassade.

TAUBENGEFLATTER / DAS FENSTER WIRD GESCHLOSSEN / SCHRITTE 
IM ZIMMER /
HANA, TSCHECHISCH / DARAUF:

Sie leben hier zu zweit, Hana ist ver­hei­ra­tet. Sie haben nur einen Tisch, an dem sie essen und arbei­ten. Und bügeln muss man ja auch irgend­wo. Schlaf­zim­mer, Wohn­zim­mer, Küche und Arbeits­platz … Alles auf 20 Quadratmetern. 

Ewig geht das nicht, sagt Hana. Zwei klei­ne Zim­mer, ein Garten — 
das wäre schön. Aber dann müss­ten sie Geld auf­trei­ben. Das The­ma ist zur Zeit tabu.

(…)

TREPPENHAUS / EIMERKLAPPERN / DIE ENTFERNTE JAZZ-MUSIK / 

Und noch einer wohnt auf die­ser Etage … 

TÜRKLINGEL / “Dobry den!  — Dobry den!” / GERÄUSCHE DER 
MASSAGE-PRAXIS

Auf dem Weg in sein Kabuff — frü­he­res Dienst­bo­ten­zim­mer — muss der Unter­mie­ter Num­mer 2 jedes Mal auf Zehn­spit­zen die Mas­sa­ge-Pra­xis von Herrn Bera­nek durchqueren. 

N. N. (TSCHECHISCH) / ZIMMERTÜR

Ich selbst bin nicht wich­tig”, sagt der jun­ge Mann. Er ist Anarchist. 

N. N. (TSCHECHISCH)

 Er ver­su­che ein­fach, sagt Herr Nona­me, sich vom Zeit­geist abzu­kop­peln. Was ande­ren so wich­tig sei – Kar­rie­re und viel Geld — inter­es­sie­re ihn die Bohne.

Das Stu­di­um der Poli­to­lo­gie hat er gera­de been­det und schreibt jetzt – was für ein Zufall ! – für die Obdach­lo­sen­zeit­schrift “Land in Sicht”. Milan, den Ver­käu­fer in der Metro, hat er bis­her nicht getrof­fen. Er selbst geht meist zu Fuß.

Und Ihre Visi­on, Herr … ?

 N. N. (TSCHECHISCH)

Eine Gesell­schaft, die sich selbst orga­ni­siert, ohne Gewalt und Repres­si­on … In der sich die Men­schen ver­wirk­li­chen kön­nen — ohne jede Form von Hier­ar­chie … Alle sol­len gleich und frei sein.

TREPPENHAUS / ENTFERNT DAS SIGNALHORN EINER AMBULANZ / STIMMEN / AUTOR KLOPFT AN TÜREN / EINE TÜR WIRD GEÖFFNET 

Ansa­ge  Ers­ter Stock – die Beletage.

Petr Adler (AUF DEUTSCH)  Ich bin so eine mit­tel­eu­ro­päi­sche Mischung.  Mei­ne Mut­ter war arisch-deutsch und mein Vater jüdisch-tschechisch.

Das ist Herr Adler, ein Jude, der in die­sem Haus die Hit­ler­zeit über­lebt hat und die Zeit danach. Sei­ne Frau ist Kunst­his­to­ri­kern und fast blind.

Frau Adler  Jetzt bin ich schon in Pension …

Petr Adler  Schau’n SieSie fin­den hier prak­tisch nie­man­den, der rein sla­wi­scher oder ger­ma­ni­scher Abstam­mung wäre. Alle sind Misch­lin­ge – irgendwie ! 

Frau Adler  Ja !

Herr Adler  Mei­ne Mut­ter hat sich im Krieg zur tsche­chi­schen Nati­on bekannt und hat die Lebens­mit­tel­kar­te mit einem „T“ gehabt – also „Tsche­chisch“. Mein Vater hat­te das „J“ dort – das war ja klar … 

J“ für „Jüdisch“  

Herr Adler  … Aber jetzt ist eben die Sache kom­pli­ziert: Weil er vor oder nach einem Datum gebo­ren wur­de und nie zur jüdi­schen Reli­gi­on gehört hat, ist er kein „Gel­tungs­ju­de“. Er durf­te nicht die Pra­xis aus­üben, die ärzt­li­che, muss­te den Stern tra­gen, aber er muss­te nicht ins KZ. Die ari­sche Frau hat ihn geschützt. 

DER PARKETTBODEN KNARRT

Das ist der Ordi­na­ti­ons­ses­sel mei­nes Vaters, der dann unge­fähr 20 Jah­re lang auf dem Bal­kon stand und jetzt so ausschaut … 

HERR ŠVÁB SINGT NEBENAN / BEIM EINTRETEN: STIMME NAH

Herr Šváb neben­an singt den Kid­dush — am Vor­abend des Sabbat. 
“Geseg­net seist Du / Herr, unser Gott / König des Universums, 
der die Wein­re­ben wach­sen lässt … !”

JAKUB ŠVÁB (ENGLISCH, DANN TSCHECHISCH / DARAUF:)

Wer ich bin ? Ein ein­fa­cher Jude in Prag … Hier gebo­ren, immer hier gelebt – die gan­zen 30 Jahre. 

Herr Šváb ist Frem­den­füh­rer, spe­zia­li­siert auf jüdi­sche Touristen. 

Die jüdi­sche Gemein­de Prags – frü­her ein­mal über 40 000 Mit­glie­der – kommt heu­te auf kei­ne 2000 und zer­fällt in eine Rei­he reli­giö­ser Splittergruppen. 

Herr Šváb ist unab­hän­gig – “obwohl”, so sagt er, “mei­ne Freun­de glau­ben, dass ich ortho­dox bin”. Das macht viel­leicht sein Patriarchen-Bart. 

Anti­se­mi­tis­mus ?

Außer den paar Neo­na­zis, sagt Herr Šváb, dis­kri­mi­niert uns hier niemand.

Petr Adler  Den popu­lä­ren „Volks-Anti­se­mi­tis­mus“ gibt es immer — und selbst­ver­ständ­lich: je mehr Juden des­to mehr. Also sehr stark ist er nicht, weil 
die Juden ja jetzt Man­gel­wa­re sind. 

Autor  Aber das ist jetzt nicht ein vor­ran­gi­ges Pro­blem – dass man sagt: Oh, 
jetzt fängt das hier auch bei uns wie­der an, auf ’ne ande­re Art ?

Petr Adler  Es hat nie auf­ge­hört ! Auch nach dem Krieg nicht. Das war eine fürch­ter­li­che Ent­täu­schung für mei­nen Vater. Der hat gedacht, die Juden wer­den umju­belt sein, die zurück­kom­men. Kei­ne Spur davon selbstverständlich ! 

Autor  Also auch die Emi­gran­ten wurden …

Adler  Emi­grant und Jude – na, das ist schon ein bis­serl zu viel ! 
(FRAU ADLER LACHT IM HINTERGRUND)  

(…)

GERÄUSCHE AUF DEM FLUR

Der Flur ist voll­ge­stellt und dun­kel. Ein Licht­schacht über­trägt Gerü­che und Geräu­sche aus dem Hos­ti­nec U Poš­ty unten. Schwei­ne­fleisch mit Knö­deln – Stamm­essen. Nur 96 Kronen.

Vor dem ers­ten Welt­krieg was das alles eine Wohnung, 
“herr­schaft­lich”. An hohen stuck­ver­zier­ten Decken flat­tern Vögel, wach­sen Früch­te – häu­fig über­tüncht und kaum noch zu erkennen. 

Ich sage “Dobry den” ! “Guten Tag”, sagt die alte Frau, die vor ihrer Tür steht. “Kom­men Sie doch ‘rein !”

ZIMMERTÜR WIRD GESCHLOSSEN

Zuz­a­na Pod­mel­o­vá (AUF DEUTSCH) Mei­ne Groß­mutter, die stamm­te aus Hal­le an der Saa­le, mein Groß­va­ti aus einem klei­nen pro­vin­zi­el­len Städt­chen in Böh­men, mein Vati war aus Prag, mei­ne Mut­ti aus Wien …

Zuz­a­na Pod­mel­o­vá, 86 Jah­re alt. Alleinstehend. 

Um die­se Tages­zeit kann man sie gewöhn­lich auf der Stras­se sehen. Dann stie­felt sie in Turn­schu­hen, mit Ein­kaufs­ruck­sack, wei­ße Base­ball-Cap, zum Mit­tags­tisch im jüdi­schen Gemeindehaus. 

Nur heu­te ist ihr nicht zum Aus­ge­hen zumut.

Pod­mel­o­vá  Mei­ne Mut­ti war Gläu­big. Aber wir waren refor­mier­te Juden, alle. Wir haben nie koscher geges­sen. Wir haben die gro­ßen Fei­er­ta­ge gefei­ert …
Die jüdi­sche Kul­tur, das ist nicht nur Religion. 

Als Hit­ler an die Macht kam, war Zuz­a­na Drei­zehn. Fünf Jah­re spä­ter wur­den Öster­reich und dann das über­wie­gend deutsch-spra­chi­ge Grenz­ge­biet der Tsche­cho­slo­wa­kei vom gro­ßen Nach­barn einkassiert.

Pod­mel­o­vá  Das war eine Asy­lan­ten-Woh­nung. Zuerst kamen Groß­va­ti und Groß­mutti aus Wien, und die haben bei uns gewohnt. Und dann kam mein Onkel und mei­ne Tan­te und mei­ne Cou­si­ne. Die­se drei wohn­ten auch bei uns.

Autor   Da waren Sie schon wie vie­le in der Wohnung ?

Pod­mel­o­vá  Da waren wir fünf mehr … Also wir drei — Vati, Mut­ti und ich … Groß­va­ter und Groß­mutti und die drei aus Karls­bad – Onkel, Tan­te und mei­ne Cou­si­ne. Wir hat­ten einen Hund …

Autor  Das war schon Num­mer neun !

Pod­mel­o­vá  … der wohn­te im Bade­zim­mer. Wir habe es uns ein­ge­teilt, wann — wer – wohin … Wie lan­ge er baden kann und so … Damit wir nicht alle auf ein­mal — Wir haben auf ein­an­der Rück­sicht genommen. 

TREPPENHAUS / JUGENDLICHE STIMMEN, GELÄCHTER / ENTFERNT: JAZZMUSIK AUS DEM PARTERRE / FAHRSTUHL

Der Fahr­stuhl zit­tert, rum­pelt, knirscht — ein ver­zier­ter Käfig an Draht­sei­len. Ängst­li­che gehen bes­ser zu Fuß. Fast unhör­bar krächzt eine weib­li­che Stim­me die Zahl der Eta­gen.

DIE STIMME (TSCHECHISCH)

Ansa­ge  Die zwei­te Etage.

BEIM AUSSTEIGEN KLAVIERMUSIK (EINE GAVOTTE VON J. S. BACH) / TÜRGERÄUSCH, SCHRITTE  / KLAVIERMUSIK JETZT NAH … ENDET 

Mel­ku­so­vá  Milch … oder ?

Autor  Ein bisschen … 

Lud­mil­la Mel­ku­so­vá, 86 Jah­re alt,  Klavierlehrerin.

KNARRENDE SCHRITTE AUF ALTEM PARKETT 

Autor  Sie trin­ken kei­nen Kaffee ?

Mel­ku­so­vá   Sehr wenig.

Autor  Dan­ke­schön ! … Haben Sie noch Stu­den­ten zur Zeit ?

Mel­ku­so­vá  (AUF DEUTSCH)Noch eine Stu­den­tin. Sie ist schon Magister … 

Autor  Sie sind in die­sem Haus geboren …

Lud­mi­la Mel­ku­so­vá  Ja … Im Jah­re 1922 schon … (SIE LACHT) Ich war am Kon­ser­va­to­ri­um 25 Jah­re, bis ich pen­sio­niert wurde.

Ein Bru­der ihres Groß­va­ters war ein Buch­bin­der. Spä­ter kam er zu Geld mit bedruck­ten Kranz­schlei­fen und kauf­te das Haus gegenüber.

Autor  Kann man die Fens­ter auf­ma­chen ? — Wenn Sie mir mal zei­gen, wo da drü­ben die­se Dru­cke­rei war …

Mel­ku­so­vá  Das sind die­se zwei schmut­zi­gen Fenster …

Autor  Weil hier so viel gebaut wird !

DAS FENSTER WIRD GEÖFFNET / BAUGERÄUSCHE UND STIMMEN-GEWIRR AUF DER STRASSE / AUSRUFERIN

Autor   Das gehört heu­te einer Fir­ma – der Markt ?

Frü­her Obst und Gemü­se, heu­te Sou­ve­nirs. Über­all die glei­chen Wap­pen­tel­ler, Vasen, Spe­jbl-und-Hur­vi­nek-Mario­net­ten. Stan­dar­di­sier­te Buden mit stan­dar­di­sier­tem Kitsch. 

Mel­ku­so­vá  Man hört fast nie tsche­chi­sche Spra­che hier …

Die Händ­ler kom­men aus Bul­ga­ri­en, aus Russ­land und aus der Ukrai­ne, die Tou­ris­ten aus der gan­zen Welt. 

DAS FENSTER WIRD WIEDER GESCHLOSSEN

Autor  Wir wol­len nicht so viel kal­te Luft rein­las­sen … Dankeschön !

Den größ­ten Umsatz aller Zei­ten mach­te der Groß­va­ter drüben, 
als Tomáš Masa­ryk starb, 1937 – bis 1935 Staatspräsident. 
Eine Vaterfigur. 

Mel­ku­so­vá    Gegen­über, da mach­te man die Schlei­fen – Trauerschleifen …

Autor  “In tie­fer Trau­er” oder so etwas stand darauf … 

Mel­ku­so­vá   Oui …Die gan­ze Fami­lie helf­te (half) – über die Nacht auch … 

Autor   Die Men­schen waren alle so sehr traurig …

Mel­ku­so­vá   Ja, ja !

Prag wehr­te sich mit Trau­er­schlei­fen – gegen Hitler.

SCHRITTE IM ZIMMER

Autor  Was ist das ? (LIEST“Cont­redan­se …”  

Mel­ku­so­vá  Das ist Cho­pin … Wenn Sie wollen ? 

Die Noten auf dem Kla­vier sind noch aufgeschlagen.

Mel­ku­so­vá  Aber ich weiß nicht wo meine …

Frau Mel­ku­so­vá sucht ihre Brille.

Mel­ku­so­vá  (ENTFERNTIch spie­le nicht mehr, und ich kann nicht mehr mit mei­nen Bril­len sehen … (SCHRITTEIch sehe so schlecht …  (SIE  SEUFZTAch, ich weiß nicht wo sie liegt … 

Autor  Am Fens­ter­brett ist noch eine Brille … 

Mel­ku­so­vá  Also: Fré­dé­ric Cho­pin, “Cont­re­dance” … 

SIE SPIELT / HARTER SCHNITT IN:

RUNDFUNK-AUFNAHME VOM EINMARSCH DER DEUTSCHEN TRUPPEN IN PRAG / MARSCHMUSIK / SPULGERÄUSCH

Im März ’39 wur­de Prag besetzt. Der Rund­funk­mann Petr Adler hat noch Ton-Kopien in der Schublade.

JAN MASARYK, TSCHECHISCH / DARAUF:

Die Stim­me von Jan Masa­ryk, Sohn von Tomáš Masa­ryk, Außen­mi­nis­ter der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Exil­re­gie­rung in Lon­don — Herbst 1939.

JAN MASARYK

… Hit­ler und sei­ne Ban­de … Die Geduld der west­li­chen Demo­kra­tien ist erschöpft … Unser Pro­gramm ist die freie Tsche­cho­slo­wa­kei in einem frei­en Europa …”

SPULGERÄUSCH

Petr Adler  Die deut­sche Okku­pa­ti­on war arg. Das war wirk­lich Lebens­ge­fahr fortwährend. 

Autor  Das deut­sche Mili­tär war immer anwe­send, sichtbar …

Adler  Anwe­send, mar­schie­rend, sin­gend … Und wir kön­nen Ihnen bis heute 
„Auf der Hei­de blüht ein klei­nes Blü­mel­ein“ und ande­res bis zum „Horst-Wes­sel-Lied“ vorsingen …

Frau Adler (SINGT) „Und das heißt: Eri­ka …“ (SIE LACHT)

(…)

FAHRSTUHL / STOCKWERK-ANSAGE (TSCHECHISCH

Ansa­ge  Die drit­te Etage.

TÜR / AUTOR: “Dobry večer !” / GEDÄMPFTE MUSIK 

Eine ele­gan­te Woh­nung. Neue Sach­lich­keit. Fotos an den Wän­den, groß­for­ma­tig, streng schwarz-weiß. Franz Kaf­kas Prag: Sein Schul­weg, Woh­nung an der Tein­kir­che, die Trep­pe der Arbei­ter-Unfall-Ver­si­che­rung (Kaf­kas Dienst­stel­le), das Arbeits­häus­chen in der Alchi­mis­ten­gas­se, der Neue Jüdi­sche Friedhof …

Jan Parik (AUF DEUTSCH)  Für mich war das Kaf­ka und Prag, immer ! 
Sie sind sicher auch gepil­gert zu Kaf­kas Grab …

Autor   Nee …

Parik   Geht mal hin !

Jan Parik, Foto­graf. Jahr­gang 1936. 

Autor  Sie sind in Wro­claw geboren …

Parik   … in Breslau !

Autor  In Bres­lau, als Deutscher …

Parik   Als Deut­scher — im jüdi­schen Kran­ken­haus. Mein Vater sprach deutsch, der hat Deutsch stu­diert. Und mei­ne Mut­ter war Deut­sche. Und ich bin ein rich­ti­ges Kapitalisten-Kind.

Autor   Aha …

Parik   Mein Vater hat immer gesagt: Wenn es schlecht geht, dann gehen wir in die Tschechei. 

Autor  Aber die Geschich­te hat Sie ja dann schnell eingeholt …

Parik   Ganz schnell eingeholt !

Die “deut­sche Zeit”, so erfah­re ich,  über­stand der klei­ne Jan aus Bres­lau bei sei­nem tsche­chi­schen Groß­va­ter. Mit 19 wur­de er Stu­dent.

Parik   Ich stu­dier­te auf der Film­hoch­schu­le, die in die­ser Stra­ße ist.

Die berühm­te FAMU. Dort anzu­kom­men war nicht ein­fach, in den Fünfzigern …

Autor  Was wäre da ein Hin­de­rungs­grund gewesen ?

Parik  Ein Hin­de­rungs­grund war mein kapi­ta­lis­ti­scher Back­ground und jüdi­scher Background.

Autor  Das Jüdi­sche auch ?

Parik   Das Jüdi­sche auch – das moch­ten die Kom­mu­nis­ten nicht. Ich hab mich immer dazu bekannt, dass ich die Kom­mu­nis­ten nicht mag.Die haben mich ’57 aus der Schu­le geschmissen ! 

(…)

An herbst­li­chen Regen­ta­gen wie heu­te ver­dich­ten sich die Gas­sen der Alt­stadt zu Schwarz-Weiß-Bil­dern von Jan Parik, dem Kaf­ka-Foto­gra­fen aus dem drit­ten Stock. Die Nym­phen an der Häu­ser­front gegen­über sehen mür­risch aus. Trotz der hohen Fens­ter ist das Zim­mer jetzt ganz dunkel.

(…)

TREPPENHAUS / FAHRSTUHL 

Ansa­ge  Die vier­te Etage.

Hier oben wohnt  der letz­te Kom­mu­nist im Block, ein jugend­lich wir­ken­der Mittfünfziger. 

TÜRGLOCKETÜR

Und damit ich gleich Bescheid weiß …

Josef Ská­la  (AUF TSCHECHISCH / DARAUF:)

Ich bin kein Mil­lio­när !” Dr. Josef Ská­la lächelt offen­siv. Aus der Erb­mas­se des Kom­mu­nis­mus, habe er nicht eine Kro­ne mit­ge­nom­men. Sein Ur-Groß­va­ter hat die KPČ mit­ge­grün­det, 1921. Er selbst – Absol­vent und spä­ter Lek­tor für Phi­lo­so­phie und Geschich­te an der Karls­uni­ver­si­tät — nennt sich heu­te “frei­be­ruf­li­cher Mar­xist” und ver­dient sei­nen Lebens­un­ter­halt als Auf­sichts­rat­vor­sit­zen­der einer Exportgesellschaft … 

Ská­la wäre lie­ber Uni­ver­si­täts­leh­rer geblie­ben. Doch obwohl er nie Agent oder Mit­glied der Staats­si­cher­heit gewe­sen sei, ste­he er – auf Grund sei­ner Über­zeu­gun­gen — seit ’89 auf der schwar­zen Lis­te. Aller­dings sei er “stolz genug, die­se unge­bil­de­ten Poli­ti­ker, die heu­te an der Spit­ze ste­hen, zu ignorieren !”

Zur Zeit wird unser Volks­ver­mö­gen prak­tisch für nichts an aus­län­di­sche Inves­to­ren ver­scher­belt. “Wir sind Gast­ar­bei­ter im eige­nen Land”, sagt Herr Skála.

(…)

FAHRSTUHL 

Ansa­ge  Fünf­te Eta­ge. Penthouse.

Auf die­sem Trep­pen­ab­satz: Stahl und Glas. In der Ecke, selbst-leuch­tend, ein klei­ner Bud­dha (AUTOR LIEST)LMC – Elec­tro­nic Job Mar­ket — Spo­jení s eli­tou” — In Kon­takt mit der Elite”. 

Also dann …

TÜRGERÄUSCH / TIBETANISCHE MUSIK

Libor Malý   This is my tea­cher …(AUF DAS ENGLISCHE ORIGINAL:)Ein Online-Lama aus Tibet   It’s gre­at !  Er sen­det Bot­schaf­ten im Netz … Some­ti­mes I’m say­ing: Bud­dha was the best manage­ment con­sul­tant I’ve ever­met … Bud­dha war der bes­te Manage­ment-Bera­ter, dem ich je begeg­net bin … Klei­ner Scherz

Libor Malý, Jahr­gang 1968,  diri­giert die größ­te Job-Bör­se in Tsche­chi­en. 40 000 User log­gen sich hier täg­lich ein. Der Büro-Kom­plex reicht bis zur nächs­ten Querstraße.

Libor Malý   I was born in Pra­gue in 1968 … I was two, three months when the Soviet army came to Pra­gue to libe­ra­te us from this Wes­tern capi­ta­li­stic devia­ti­on which star­ted to hap­pen the­se times … Er war noch ein Baby, als die Rote Armee erschien, um die Pra­ger “von der kapi­ta­lis­ti­schen Ver­ir­rung zu befrei­en, die damals gras­sier­te”, sagt Herr Malý. Auf einem Foto sieht man ihn im Kin­der­wa­gen, ein sowje­ti­scher Tank biegt gra­de um die Ecke. 

…  I star­ted to work as a pro­gramm­er … Der Öko­no­mie-Stu­dent wur­de Pro­gram­mie­rer … and then sur­pri­sin­gly … und weil damals nach der Wen­de ’89 nie­mand so rich­tig bescheid wuss­te I beca­me a mar­ke­ting mana­ger of that soft­ware house … stieg er kurz dar­auf zum Mar­ke­ting-Mana­ger der sel­ben Soft­ware-Fir­ma auf … And then after a few years I beca­me head hun­ter … ver­such­te sich als Head­hun­terund 1995 grün­de­te Herr Malý die­ses ers­te Job-Por­tal der Repu­blik … I had a good time with a good idea at a good place and I just suc­ceed here.

Der Mann ist prak­ti­zie­ren­der Bud­dhist. Bud­dha lehrt, wie man als Boss mit 180 Leu­ten rich­tig umgeht, sagt er … 

Sei­ne Feng-Shui-Bera­te­rin hat den klei­nen Brun­nen aus­ge­sucht, und auch die­se schö­ne Sta­tue – die Grü­ne Tara, eine Art weib­li­cher Bud­dha. Schützt vor der Angst und führt zur Erleuchtung.

Autor  You have … scents …

Libor Malý   I have the essence from many herbs … Die Gerü­che laden die Luft posi­tiv auf … The cris­tal in the midd­le of the room — again this is Feng Shui — and it con­cen­tra­tes ener­gy … Auch der Kritall, der von der Decke bau­melt, ist Feng Shui. Kon­zen­triert die Ener­gie … The­re is more con­trol of what’s hap­pe­ning in the office … Alles läuft dann kon­trol­lier­ter ab …  

Was noch ?  … You have suns­hi­ne insi­de the offices … Leucht­röh­ren in der Decke, die Son­nen­licht simu­lie­ren …Hey – the sun is shi­ning — it’s good !  It’s of cour­se not so cheap … Das alles war nicht gra­de bil­lig. Und noch etwas … What I want to show you is this thing … Ein kurio­ses Etwas aus Kup­fer, sieht aus wie ein Vogel­häus­chen. Ein Kabel führt in die Wand … It’s get­ting all the nega­ti­ve elec­tro­ma­gne­tic smo­ke and sends it back out­side … Fängt den Elek­tro­smog ein und lei­tet ihn ab … out of the company ! 
I think it’s from Ger­ma­ny …Kommt wohl aus Deutsch­land !  

Libor Malý  Com­ple­te­ly use­l­ess – but it works ! (ER LACHT)

Autor  Inte­res­t­ing !

Libor Malý  And the sun is shi­ning – even insi­de !  Man­che glau­ben schon, der Boss tickt nicht ganz rich­tig, sagt Herr Malý. Aber: Die sind gern hier ! … It’s a win-win-solu­ti­on … I need to have the best moti­va­ted, best peo­p­le who work as good and as much as they can for me – to earn my money … Er brau­che die moti­vier­tes­ten Mit­ar­bei­ter, die bes­ten, flei­ßigs­ten Leu­te, damit sie ihm das Geld ver­die­nen … The­re is no trick ! Bud­dhism works with the mind !

Das Ei des Buddha !

Sonst kann jeder den­ken, was er will !  … We are not a church, we are a busi­ness … Das hier ist kei­ne Kir­che, son­dern Geschäft !

ATMOBÜRO MALÝ” WEG

WOHNUNG PARIK / ENTFERNT IN DER GASSE NUR NOCH EINZELNE STIMMEN, EINE TURMUHR SCHLÄGT

Mit­ter­nacht vor­bei. Von sei­ner Woh­nung aus sieht Jan Parik, Kaf­kas Foto­graf, die Lich­ter auf der Klein­sei­te, jen­seits der Mol­dau. Nach der Rück­kehr aus Ame­ri­ka ist ihm Prag – nach und nach – fremd geworden.

EINE TURM-UHR SCHLÄGT 

Parik  (MÜDE UND NACHDENKLICHDas sind ande­re Men­schen, sind alles ande­re Menschen !

Autor  Inwie­fern ?

Parik   Ich weiß es nicht. Ich hab alte Freun­de getrof­fen, und wir hat­te uns viel­leicht für ein paar Minu­ten was zu sagen. Das war alles ! Ich lebe mit mei­ner Frau, mit mei­nem Kind, hier eigent­lich zurück­ge­zo­gen. Wie in einem Elfen­bein­turm … Sple­ndid isolation … 

Ich hab einen Freund, aber der ist über Acht­zig und hat mir jedes Mal erzählt, dass er tod­trau­rig ist und dass sei­ne Frau gestor­ben ist … Und er ist nicht gut drauf … Ich lieb’ ihn abgöt­tisch – aber die­se Leu­te wer­den ein­mal nicht sein … 

Autor  Es geht eine Welt mit unter – die Sie im Grun­de auch für ihre Fotos brauchen …

Parik   Exakt was Sie sagen ! Das ist wie ein Nähr­bo­den … Wie ’ne Pflan­ze ohne Erde. Die kann nur ’ne Wei­le im Was­ser exis­tie­ren, dann geht sie ein oder ver­färbt sich irgend­wie … Ich suche jetzt ’ne Antwort …

➤Fea­tures (deut­sch/­In­fo-Tex­te)