RETINITIS PIGMENTOSA – Erfahrungen eines Augenmenschen an der Grenze zur Finsternis. Über einen erblindenden Kameramann und guten Kollegen – SFB / ORB und MDR (2000).
GEKÜRZTES MANUSKRIPT.
UNTERGRUND-BAHN, INNEN.
Autor Der Anruf kam an einem Nachmittag um Fünf.
“Hier ist Hans !” — “Welcher Hans?”
Dann saß er vor mir — in der U‑Bahn von Königswinter nach Bonn.
Der Schnurrbart, der immer leicht spöttische Mund. Hans Gern, gewesener Kameramann. Augenmensch. Pfundskerl. Einer, der von Leben strotzt. Wie vor 25 Jahren. Nur der lange weiße Stock mit der Schlaufe – der war neu.
Mensch Hans !
Wir hatten Filme gemacht, für’s Jugendfernsehen. “Jochen steigt aus”, und so. Verdammt lang her ! Dann war der Faden abgerissen — wie das so geht…
U‑BAHNGERÄUSCHE: TÜREN GEHEN AUF UND ZU.
Das mit seinen Augen fing vor 20 Jahren an. Er drehte damals in Spanien.
Hans Das war ein Dokumentarfilm mit dem Titel “Reconquista” – die Wiedereroberung Spaniens und die Vertreibung der Mauren im 12. / 13. Jahrhundert. Das war ein anstrengender Tag in gleißender Sonne. In Granada – da musste ich von einer sonnenbeschienenen Situation in einen Dom hinein, um den Lichtumfang festzustellen, den wir da drinnen brauchten. Das große Kirchenportal schloß sich hinter mir, und ich stand wie angewurzelt und sah überhaupt nix. Und meine Kollegen riefen: “Ja, wo bleibst Du denn — nun komm’ doch ?” Ich sag’: “Moment !” – weil sich das Bild langsam aufzuhellen begann.
Draußen war eine knallige Sonne, und der Platz war fast in weißem Marmor. Das war so gleißend. Ich hab mir gesagt: Naja — du bist wie schneeblind. Aber dann rückwärts, als wir die Kirche verließen und wieder in die Sonne gerieten, stand ich wieder wie angewurzelt. Weil — plötzlich war das so weiß, daß ich wieder nichts sah.
Der Augenarzt hat mich untersucht, und dann hat er gesagt: Ich hab da einen ganz dummen Verdacht. Ich überweise Sie mal in die Bonner Universitätsklinik. Und nach einigem Hin und Her kam der Professor ganz fröhlich mit der Crew und sagt: Ja, wir haben jetzt das Ergebnis. Also, wenn Sie Berufskraftfahrer sind oder Pilot – dann hab ich ’ne traurige Mitteilung für Sie: Diese Berufe können Sie nicht mehr ausüben demnächst. Sie haben eine Netzhauterkrankung, die heißt Retinitis Pigmentosa.
Autor … Eine Erbkrankheit. Die Netzhaut wird allmählich zerstört. Irreparabal. Eine dieser Gemeinheiten der Natur. Unbegreiflich für die Betroffenen – und bis heute auch für die Wissenschaft. Ein Gen ist defekt. Zellen sterben, aber der Zellschrott wird nicht mehr abtransportiert. Er lagert sich, meist ringförmig, um das Zentrum der Retina — der Netzhaut — ab. Verengt das Sehfeld. Immer mehr.
Man kann diese Krankheit beschreiben. Aber man kann sie nicht heilen. 30 000 Deutsche leiden unter “RP”, weltweit zwei bis drei Millionen Menschen.
Hans Da sagte ich: “Ja — ich bin Kameramann”. Da wurde er sehr ernst und meinte: Es tut mir leid. Das ist ein progressiver Vorgang, und Sie müssen sich schon darauf einstellen.
Ich war ja auf dem Höhepunkt meiner Karriere und war ein äußerst engagierter Kameramann im doppelten Sinn des Wortes. Ich war schon als junger Kameramann sehr schnell auf Weltreise. Ich machte Dokumentationen aus der Dritten Welt, aus Südamerika, Expeditionen zu den Eskimos in Kanada, dann wieder nach Venezuela, Orinoco, die ganze Karibik bereist, Indonesien … Ich hatte eine Reputation !
Ich war top !
Autor Wie hatte ich ihn erwartet, nach diesem Anruf ? Die Stimme klang fest und fordernd wie früher. Aber ich mißtraute ihr. Ein Kameramann wird blind – ist das etwa keine Katastrophe ? Wenn wir drehten – ich noch ein blutiger Anfänger damals – war Hans der Chef am Set. Er sah alles – den Schatten des Mikrophons, die vergessene Kippe. Ihm entging nichts.
Dann trafen wir uns. Und Hans … war immer noch der Chef. Wie soll ich sagen … Er beherrschte einfach die Szene ! Vom ersten Augenblick an. A man can be destroyed, but he cannot be defeated (Hemingway). Von seiner Krankheit sprach er eher distanziert – wie der Arzt zum Patienten.
Hans Stell Dir mal ein Fischernetz vor. Jetzt blickst Du durch das Fischernetz durch. Siehst Du das Schiff da hinten ? Ja. Jetzt stell’ Dir mal vor, jede vierte, sechste oder achte Masche wäre verklebt – zu!
Mit einer gelatineartigen Masse. Du kannst also nicht mehr durch’s ganze Netz durchsehen, sondern nur noch partiell. Was siehst Du von dem Dampfer ? Ja – jetzt seh ich nur das Heck und den Bug. Den Kamin siehst Du nicht ? Der Kamin ist hinter so einer verklebten Netzmasche. Aha – jetzt seh ich plötzlich wieder den Kamin. Der taucht jetzt auf, weil er eine Masche passiert, die jetzt frei ist…
Dieses Fischernetz begleitet mich ja ständig. Wenn ich mich nach rechts wende oder nach links, habe ich ja überall Fischernetz. Ich trag’s ja mit mir ‘rum. Ich hab das Fischernetz ja eigentlich im Kopf. Ich hab’s ja in mir drin.
Autor Der Praktiker wurde Verwaltungsmann – zuständig für 70 Kameraleute. Später Abteilungsleiter im Hauptstadtstudio der ARD: Parteitage, Staatsbesuche, Wahlberichterstattung, Bundestagsdebatten, der “Bericht aus Bonn”. Dreizehn Jahre machte er das. Dreizehn Jahre mit dieser U‑Bahn zum Dienst.
U‑BAHN / DAS KLAPPEN DER TÜREN / STATIONSANSAGE
Hans … Zwei Stationen vor’m Auswärtigen Amt … Hieß Heußallee, da mußt’ ich ‘raus immer…
Und als es dann immer schlimmer wurde – da kamen schon mal die eigenen Verletzungen. Also Stufe verpaßt, Bürgersteig verpaßt, mit dem Kopf gegen Türen gerannt, die halb auf waren. Nicht gesehen. Verdammt noch mal ! — Ich hab dauernd Gläser umgeworfen, ganze Flaschen von Rotwein, Lokale versaut, Tische versaut…
Autor Er lacht drüber. Abgehakt !
Hans Passiert mir alles heute nicht mehr – toi, toi, toi ! Ich hatte auch lange keinen Unfall mehr, weil ich viel, viel vorsichtiger umgehe.
Autor Keine Schwäche zeigen, niemals weich werden. Ich bin ich! Lieber ein Witz und Schwamm drüber!
U‑BAHN-STATION. HANS UND DER AUTOR VERLASSEN DEN WAGGON.
Hans …Du, da war ich mit einem Team in Wien … Da haben wir in Wien gedreht. Und der Regisseur wollte Filmaufnahmen aus einem schönen alten Versteigerungshaus in Wien haben …
Autor … Dorotheum …
Hans Dorotheum genau ! Und dann, während die Versteigerung lief, sagte ich zu dem Beleuchter: Also, ich stell mir das so vor: Hier links tust Du mir einen 2 KW hin mit Tüll. Und hier rechts, da tust Du mir einen 4 KW hin … Und in dem Moment sagt der Versteigerer: “Der Herr do hint’n – zum Dritten !” Weil ich die Hand gehoben hatte…
“Und zum Dritten — der Herr do hint’n, bitte melden … Der Herr do hint’n — zum Dritt’n!”
Autor Ein verwirrendes Wiedersehen ! Verhält sich so ein Fast-Blinder ? Steckt er das alles weg ? Ich begann ihn zu beobachten – den Freund und Kollegen. Ich beobachtete Hans, wie er mir bei der Arbeit auf die Finger sah. Es klingt vielleicht salopp – aber Hans ließ mich nicht aus den Augen. Doppelter Profiblick. Er wußte ja, wie man eine Sendung macht. Unser Wiedersehen war auch ein berufliches Experiment. Hans trug den Rekorder unauffällig bei sich. Kleines Ansteck-Mikrophon. Er führte mich durch die Stadt, die mir fremd war.
BAHNHOFSGERÄUSCHE / DER WEISSE STOCK / ANSCHWELLENDER STRASSENVERKEHR
Hans … Die alte Uni ! Bonn ist sehr schön ! Alles Uni. Clemens-August – bayerischer Herzog. Wittelsbacher!
Na der steht gut hier, steht prima !
STOCKSCHLAG AUF AUTO-BLECH / STÄRKERE STRASSEN-GERÄUSCHE / AKUSTISCHE VERKEHRSAMPEL
Hans Jetzt fixier ich halt das rote Männchen so lange, bis es grün
wird …
AKUSTISCHE VERKEHRSAMPEL (KÜRZERE INTERVALLE).
DAS KLACKEN DES WEISSEN STOCKS
Autor Hans hat einen kräftigen Gang. Er ist Einsneunzig – ein Ausrufe-zeichen. Jeder Schritt eine Revolte gegen die Krankheit. Ich, mit dem eigenen Tonbandgebammel, konnte kaum folgen.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich die Anspannung, seine konzentrierte Unruhe, den Stress. Wie lange er da stand und lauschte – auf die Richtung des Verkehrs, auf die Stimmen der Passanten, die Echos ihrer Schritte!
DER WEISSE STOCK / DIE GERÄUSCHE DER STADT / PRESSLUFTHAMMER, NÄHER KOMMEND
Hans Wir müssen woanders hin ! Muss mich nur orientieren … Gut…o.k…
STIMMEN UND SCHRITTE / ATMO VERSCHWIMMT / DRAUF:
In der Dunkelheit bin ich ja so gut wie blind. Auch wenn Straßenla-ternen brennen, die bringen einfach zu wenig Licht um uns die Kontraste zu zeigen – wo ist der Zaun, wo ist die Mülltonne, wo ist der Bürgersteig zu Ende?
Diese Kanten, die brauchen wir, um sehen zu können. Ein trockener Asphalt hat abends um halb neun Reflexion. Wenn’s aber regnet, ist er nicht mehr da. Und eine anthrazitfarbene Mülltonne, die auf Granitplatten steht, die kannst du womöglich in der Dämmerung noch sehen oder sie in ihren Konturen erkennen. Kaum hat’s ein bißchen geregnet, ist die Mülltonne mit den Granitplatten eine Masse – siehste nicht mehr.
Autor Du schreibst mir auch Briefe, wie geht das?
Hans Ja… erstens mal kann ich ohne Linien auf dem Papier nicht mehr gerade schreiben. Ich folge jetzt Wort für Wort eigentlich nur noch meinem Zeigefinger und dem Daumen, der den Füller hält. Nur noch diese kleine Partie, wo ich meine Buchstaben setze, die halte ich im Auge. Das ist ein ständiger Schwenk. Es ist auch beim Lesen ein ständiger Schwenk. Dann muss die Tinte schwarz sein, weil ich hohe
Kontraste brauch’.
Autor “So hangelt sich Dein Kameramann an den Linien entlang”, schrieb mir Hans in seiner großen schwarzen Schrift. “Die Gesichtsfeld-Ausfälle sind schon zu heftig. Nicht mehr im Spiegel, sondern bei längerer Betrachtung eines Fotos stelle ich fest, wie mein Alterungsprozess verläuft. Kein flüchtiger Blick mehr. Tempi passati. Man muss Trost-Strategien entwickeln. Ich beobachte zum Beispiel, wie andere Sinne den fortschreitenden Verlust meines Seh-Sinns kompensieren. So bin ich in den letzten Jahren vom Seh- zum Hörmenschen geworden. Bin ja ohne Fernsehen aufgewachsen. Die großen Sportreportagen, die spannenden Krimis kamen aus dem Radio, und ich bin dem Radio treu geblieben. Du weißt ja: Die Bilder im Kopf…”
Und dann zitierte er noch den blinden Jazzmusiker Ray Charles: “I don’t want to see all that shit on earth”.
RAY CHARLES / ATMO WIEDER PRÄSENT / DER WEISSE STOCK / STRASSEN-MUSIK
Hans Im Sommer breiten die dann hier ’n Teppich aus auf der Erde und legen dann hier ihre Waren aus, und da muss ich unheimlich aufpassen. Ich bin einem Schwarzafrikaner voll in den Laden ‘reingelaufen. Der hatte dort Leder- und Silberwaren ausgelegt – auf der Erde, auf einem großen Tuch und saß dort auch. Und ich damals noch ohne Stock.
Und dann kam er mit dem Reizwort “Rassist” … Ganz plötzlich nahmen da einige Passanten Haltung gegen mich ein. “Hör’ mal – watt is, watt is — watt häst Du dem Mann gedonn ?” Dass ich kurz davor stand eine gewaltige Ohrfeige einzufangen.
MARKT-AUSRUFER IM HINTERGRUND
Ich hab gesagt: “Ich seh schlecht !” — “Kann jeder sagen ! Kauf Dir doch ’ne Brille, Du Arschloch !” Und – weißt Du – mit dem Zeigen
der Behinderung durch den Stock kann mir das nicht mehr passieren.
Man muss es nur akzeptieren.
DIE ATMO VERSCHWIMMT / DARAUF:
Hans Wenn Du Dich ungeschickt benimmst, kriegst Du von der Öffentlichkeit Druck, weil die Öffentlichkeit ja nicht lesen kann, was mit dir los ist. Und da hab ich mir einen weißen Stock ausgesucht. Und es war eine ganz interessante Situation in meinem Leben. Man ist natürlich so aufgewühlt. Aber man kann nicht sein Leben lang aufgewühlt sein, das liegt mir auch gar nicht.
Ich hab das Sanitätshaus verlassen, und ab sofort kam ich mir vor wie jemand, der die Wellen des Roten Meeres teilt. Der Passantenstrom teilte sich wie von magischer Hand, weil ich diesen Stock vor mir hertrug.
Die Mütter ziehen plötzlich die Kinder beiseite, Hunde werden beiseite genommen, hilfreiche Leute nehmen einen am Arm: “Achtung, da steht ’ne Leiter !” — “Ja, danke ! Hab’ ich gesehn!”
Der weiße Stock war wie eine Wunderkerze, die ich vor mir hertrug.
ATMO GANZ WEG
(…)
Karin Ich lernte ihn kennen auf einem Karnevalsball. Da war ich Siebzehn. Genau der Mann, den ich mir vorgestellt hatte … wo ich also auch sehr verliebt war. Er machte damals schon Musik, was mir auch sehr gefiel.
Der Umstand, daß mit seinen Augen etwas nicht stimmte, ist relativ früh eingetreten. Das erste Mal, wo er ganz spontan etwas gesagt hat, das war in einem Ferienurlaub in Spanien. Von einer Unternehmung sind wir nachts nach Hause gekommen, und ich war vollkommen begeistert von dem traumhaften Sternenhimmel. Und er wurde immer stiller und immer ruhiger und hat gesagt: “Ich seh’ keine Sterne”.
Und dann sind wir in die Klinik gefahren. Und die Diagnose war eindeutig.
Der Hansi war für mich ein ganz starker Mensch und Mann.
Und langsam wurde das weniger und hörte auf. Das war für mich eine ganz neue Rolle, die ich übernommen hab’, weil … Es war für mich selbstverständlich, daß ich ihm half. Aber trotzdem habe ich mich manchmal gefragt: Mein Gott – hoffentlich verändert sich unser Verhältnis nicht !
Hans Es gab irgendwann mal einen Abend, wo es sehr spät geworden war. Karin sagte: “Weißt Du was – ich hol’ Dich !” Es war unten stockfinster und es regnete leicht. Und ich verließ dieses Bürogebäude und ging in Richtung Straße, wo sie vorfahren würde. Und da stand sie schon da. Und der Scheinwerfer war so auf mich gerichtet. Ich lief also auf das Auto zu, wie ein Schauspieler, der im Rampenlicht die Treppe runterläuft. Ich kam mir so krüppelhaft vor. Und hinter dem Steuer saß meine Frau, und der Scheinwerfer leuchtete mich an, und ich war so gefangen wie ein Hase auf der Landstraße, der nicht in der Lage ist, den Kegel des Autos, der ihn erfaßt hat, zu verlassen. Und da wusste ich zum ersten Mal, daß ich behindert bin.
Eigentlich habe ich auch das erste Mal ein Gefühl von Scham empfunden, von totaler Niedergeschlagenheit, weil ich einfach auch dem geliebtesten Menschen gegenüber, den ich habe, so hilflos war.
Ich kannte meine Rolle als Mann: Vater, Vater meiner Kinder, “mein Mann”, ein Meter 90 lang, ein mords Trumm Typ, welterfahren, weitgereist immer nur strahlend, immer Siegertyp – beruflicher Sieger, privat Sieger, musikalisch Sieger, renommierter Drummer — dieses ganze Konglomerat von Mann ist in diesem Augenblick zerbrochen.
Ich war total erschüttert.
Karin Ich hab das nicht so empfunden wie er. Ich hab nur Angst gekriegt. Ich hab plötzlich ganz große Angst gekriegt und gedacht: Um Gottes Willen – warum geht er nicht mit dem Stock hin und her und tastet rechts und links ab. Ich hab kein Mitleid empfunden, nicht das Mitleid, das man empfindet, wenn man eine hilflose Person sieht. Aber dann hab ich mir gesagt: Er muss es schaffen ! Wenn er es will, dann schafft er das auch ! Ja, er wird es schaffen ! Wir hoffen beide, daß er nicht ganz blind wird.
Wir haben uns auch Reisen vorgenommen. Ich sag dann immer:
“Wir müssen uns beeilen, solang’ Du wirklich noch was mitbekommst”.
Und dann gibt’s auch Stunden, da ist er zutiefst deprimiert und sagt:
Ja — vorgenommen haben wir uns das …
Hans Diese Verfügbarkeit von Karin – dass man ein Ehepaar, wo einer
behindert ist, automatisch immer als Zwilling sieht ! Automatisch!
Da strampeln wir beide gegen an ! Ich will die Karin nicht verein-nahmen, und die Karin will sich mir nicht total ausliefern, nur weil wir mit einander verheiratet sind. Zusammen zu wachsen wie siamesische Zwillinge, auch körperlich untrennbar – das ist für uns einfach kein Zustand ! Weil dieser Zustand irgendwann sein natürliches Ende hat. Und was dann eintritt, wenn du den siamesischen Zwilling verlierst, ist viel schlimmer, als wenn du es geschafft hast, die letzten Jahre deines Lebens zumindest noch ’ne kleine Selbständigkeit zu behalten.
Irgendwann sitzt die Karin da und sagt: “Sag mal – Deine Fingernägel sehen ja unmöglich aus !” Ich sag: “Ja, ich hab da Probleme. Ich kann das nicht mehr so richtig, aber …” – Sagt die Karin ganz beherzt: “Komm’, ich mach Dir das ! … Ich mach Dir das !” – Immer mehr!
Der Mann ist deprimiert und sagt: “Ja, weißt Du — wenn wir eines Tages umziehen in die neue Wohnung — ob ich hier nochmal ’ne Lampe abklemmen kann?”
Karin Für ihn ’n Alptraum !
Ein Gast Kein Problem — mach’ ich Dir !
Hans Lieber ! Ich sag’ das nur beispielhaft, was da zwischen dem alten Ehepaar läuft!
Karin Ich könnte ja auch sagen: “Ich mag das nicht – Deine Fingernägel … Maniküre machen…”
Hans …Oder die Fußnägel machen !
Karin Die mach’ ich Dir nicht und die würd’ ich Dir nie machen, weil ich einfach der Meinung bin, dass Du ohne weiteres zu einem Fußpfleger gehen kannst ! Es wird vielleicht eines Tages so weit kommen.
Eigentlich müßte ich ja an so einer Situation und Aufgabe wachsen.
Sollte man annehmen…
Freundin Du wirst nicht jünger… Ich weiß auch nicht, ob ich irgendwo ruhig sitzen könnte, und mein Mann ist allein in der Stadt unterwegs – die Angst, dass gleich das Telefonat kommt, und der ist gestürzt oder unters Auto gekommen…
Karin Da hab’ ich ganz großes Vertrauen zu ihm !
Freundin Weil Du ihn besser kennst. Ob ich die Nerven hätte?
Hans Ich bin ja kein Trottel, der in sein Unheil rennt!
Freundin Es wäre im Grund viel leichter, wenn Du überhaupt nichts sehen würdest … Dann wüsste man’s!
Hans Ja !
EINGANG ZUM KAUFHOF / FLIEGENDER HÄNDLER: “Hier dürfen Sie sich die schönsten und vormals teuersten Schmuckteile selbst aussuchen …”
Hans So ’n Kaufhaus ist schon ’ne Sache der dritten Art ! -
Da seh’ ich schon ne graue Masse, die sich aufwärts bewegt.
Jetzt geh ich einfach nach der Logik, dass das so weitergehen muss…
ROLLTREPPE
Lass mich mal … Muss sehen, wie das hier geht…
Autor Hans meanderte zwischen den Regalen – Glas, Porzellan. Geriet in Sackgassen. Fand wieder heraus. Stand und lauschte. Legte wieder einen Schritt zu. Vor ihm teilte sich der Käuferstrom.
Hans Da hör ich was … Aha … JVC … aha … Nee, Du sollst mir keene Tips geben!
Autor Ich ließ ihn gehen.
Hans Habt Ihr Tonbandcassetten hier irgendwo?
Verkäuferin Ganz nach hinten ! Gradeaus durch und dann links!
Ganz durch ! Soll ich Sie eben rüberbringen?
Hans Wie wär’ das ?
Verkäuferin Sie halten sich bei mir …
Hans Ich bin bei Ihnen, sie sind bei mir ! (VERKÄUFERIN LACHT)
Verkäuferin Dann kommen Sie einmal mit mir links … Und dann werd’ ich Sie gleich zu dem betreffenden Herrn führen … So ! Und da sind zwei Herren, die Ihnen helfen können!
Hans Jetzt muss ich feststellen, in welcher Reihenfolge man sich an-stellt … Sind Sie das Ende der Schlange ? — Aha, gut!
DURCHSAGEN / KASSENGERÄUSCH
Die sind alle unheimlich nett, die Leute ! Schön’ guten Tag ! Bin ich
dran ? Ne Quittung krieg ich ? Das wär sehr lieb von Ihnen !
Herzlichen Dank, schönen Tag noch !
Autor Jetzt könnten wir uns eigentlich einen Kaffee gönnen!
Hans Ja … Lass mich mal überlegen, wo …
AUSSEN-ATMO / DER WEISSE STOCK
Hans… Jetzt hör’ ich Tassen klappern …
Dann gehn wir da mal rein … Tschuldigung ! So … Jetzt steh ich total auf dem Schlauch. Das sind erst mal große Adaptionsschwierigkeiten von draußen, vom Hellen ins Dunkle rein.
STEHCAFÈ
Hans Ich möchte zwei Tassen Kaffee haben, beide mit etwas Milch drin.
Bedienung Geschäumte Milch oder normale ?
Hans Normale.
Bedienung 5 Mark und 60.
Hans Entschuldigung ! Achtung ! Seh’ schlecht !
Bedienung Sie kriegen noch Geld zurück !
Hans Ja, weiß ich …
Ist natürlich auch viel logisches Denken dabei. Wie im Kaufhaus: Du siehst die Kasse – ich hör’ sie. Du siehst die Abteilung – ich hör’ sie. Eine Feinkostabteilung riech’ ich – das riecht nach Käse und Fisch und Früchten … Und wenn Du im Regal 100, 200 Jeans hast, dann riechen die ! Die brauch’ ich gar nicht zu sehen!
DAS STEHCAFÉ …
Wir müssten noch an einen Bankautomaten. Ich muß ein bißchen Geld ziehen. Abmarsch !
ATMO WEG
Da lernt man also unheimlich viele Dinge. Und man fragt sich auch:
Ist das Sehen so wichtig ? Oder was wärst du lieber — blind oder taub?
Das sind Dinge, die man sich ständig fragt. Ich hab’ Antworten!
Weißt Du, was das heißt, keine Musik mehr zu hören, keinen Vogel ? Da scheiß’ ich auf’s Sehen, das sag’ ich Dir ganz ehrlich ! Würd’ ich nie mein Gehör ‘für hergeben. Nie!
Der Sehsinn ist eigentlich ganz oberflächlich. Weil – das was du siehst, geht ja nicht in die Tiefe des Gegenstands ‘rein. Wenn ich einen Menschen sehe, der ’ne Geige am Kinn hat – was seh’ ich da ? Eine Geige ! Ich kann doch mit den Augen gar nicht erfahren, zu was so ein Instrument fähig ist!
Schaufenster, wofür sind die denn da ? Ich brauch die gar nicht, wie ich merke. Mir fehlt kein Schaufenster. Und das ist toll, die Erfahrung die ich jetzt mache in den letzten Jahren – bei fortschreitender Sehbehinderung lassen meine Begierden nach. Ich kauf viel weniger als früher. Eigentlich kann man sagen, ich leb’ sparsamer als früher. Meine Gelüste werden gar nicht geweckt. Ich hab mir ewig kein Stück Kuchen mehr gekauft. Früher war ich dauernd verführt durch Marzipanschweinchen in den Schaufenstern… Ich musste mir Marzipan kaufen!
Weißt Du, wenn ich sage: “Ich habe vielen Dingen kein Gehör geschenkt” – das ist so ein toller Ausdruck, den muss man erst mal untersuchen ! “Ich schenke der Amsel mein Gehör” – von dem Ausdruck muss ich mich verabschieden. Denn ich bin dankbar, daß sie mir den Frühling ankündigt. Die Amsel sagt mir: Junge – hab’ noch ein bißchen
Geduld, in drei Wochen haben wir das Schlimmste hinter uns. Dann haben wir den Frühling!
Das klingt fatalistisch — aber ich geb’ dem Sehsinn gar nicht mehr die Bedeutung, die er mal für mich hatte. Die hatte er beruflich für mich. Er hat sie in gewisser Beziehung natürlich auch heute noch für mich. Und Beziehungen, die ich glühend vermisse, das sind Dinge, die nichts mit’m Marzipanschweinchen zu tun haben, mit’m Rollmops. Das hat mit dem Kontakt — mit dem Blickkontakt mit anderen Menschen zu tun, der nicht mehr stattfindet. Und das vermiss’ ich unheimlich.
Weil – wir Menschen agieren nicht nur über die Sprache, sondern wir begleiten das, was wir verbal äußern auch mit Mimik und den Augen. Und das muss man lesen können. So wie man ein Buch liest, muss man sein Gegenüber lesen können. Auch Frauen … Klar, das fehlt einem ! Das ist das Schönste was es gibt auch zwischen den Geschlechtern: der Blickkontakt.
Museumsbesuche – totale Katastrophe! Hab ich alles hinter mich gebracht. Hab’ ich aufgegeben. Vor ein paar Jahren war ich in der letzten Bilderausstellung, vor zehn Jahren war ich zum letzten Mal im Kino – eine Katastrophe! In solchen Situationen ist man schon richtig verzweifelt. Also da merkt man schon: Da ist ja nix mehr ! Das ist ja kein Genuss mehr! Das ist dann eine Quälerei! Ich mach’s nicht mehr! Will nicht mehr!
(…)
STADTGERÄUSCHE
Hans Irgendwo springen junge Leute auf Skateboards rum.
Haben ’n schönen Tag heute erwischt !
So, jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang !
Autor Sein Leben bestand aus Bildern — Totalen, Halbtotalen, Nahaufnahmen. Hans war Augenzeuge von Beruf. Viele Bilder, die wir so ihm Kopf haben – er hat sie gedreht: Moskau in den frühen Sechzigern, Ceausescu in seinem Palast, Ulrike Meyfarts Fosbury-Flopp, die vermummten PLO-Terroristen Münschen 1972, Mitterand auf dem roten Teppich in Köln-Wahn.
Und nun dieser tägliche Kampf – tapfer und banal zugleich: das Glas nicht umschütten, die Kartoffeln auf dem Teller finden. Eigentlich mehr, als einer ertragen kann !
(…)
QUERVERKEHR
Hans Ja, jetzt hab’ ich mich doch verlaufen ! Ah, das ist eben das Blöde – es geht einem einfach immer mehr Orientierung verloren!
SCHRITTE / DER WEISSE STOCK / VERKEHR
(…)
SPRECHENDER KOMPASS
West … West … Nordwest … Nordwest … Nordwest …
Südost … Südost … Süd … Süd … Süd …
Southeast … Southwest … North … North … North …
WECKER MIT ZEITANSAGE / COMPUTER-STIMME:
” … Das japanische Internet-Unternehmen … machte zuletzt einen guten Schnitt … Derzeit explodieren die … Anfang Januar an der Börse noch mit … muß man heute bereits … 1260 Euro für das Papier … Softbank gilt als Synonym … Der GUS-Autohandel wird ebenfalls als Gemeinschaftsprojekt … mit Partnern wie Microsoft und…”
(…)
Autor Wir sind dann nach Hamburg gefahren, mein Freund Hans und ich. Mobilitätstraining für Sehbehinderte. Vierzehn Tage lang Eimer füllen, Fenster putzen, Kerze anzünden und Bett beziehen, Geschirr abtrocknen, Fingernägel schneiden, Treppen-steigen, Gänge durch die fremde Stadt.…
Trainerin … Ja, ich hab Kassler-Aufschnitt …
Helmut …Such’ ich das erstmal ! Praktisch immer abgreifen, ob Platz da ist !
Autor Die Speisen finden auf dem vorgestellten Zifferblatt … Essen als Suchspiel.
Trainerin Okay – geht bei zwölf Uhr ! Kannst aber auch bei neun Uhr hinstellen, ja…!
BESTECK-GERÄUSCH / HELMUT SEUFZT
Helmut Dann würd’ ich einfach mal versuchen hier einzupiecken und dann schnell ‘rüber auf den Teller … Das würd’ ich jetzt mehr auf neun Uhr legen … Würd’ ich jetzt die Kartoffeln zwischen sechs und neun machen oder zwischen sechs und zehn in dem Bereich, und von zehn bis eins würd’ ich mir dann das Gemüse hinlegen…
(…)
AUFGERÄUMTE FEIERABEND-STIMMUNG
Autor Vor demSeminarraum sah es aus wie im Windfang einer Skihütte: weiße Langstöcke in allen Größen – rotierend aufgehängte Kugeln an der Spitze oder flache Teller. Leichtmetall, Fieberglas.
Ein Trainingslager.Wir waren acht. Petra die Jüngste Anfang Dreißig. Jochen, der Älteste, ging auf die 65 zu. Sie alle sahen nur noch Splitter, Flicken. Winzige Ausschnitte, weit hinten am Ende ihres Tunnels. Die Welt durch den Strohhalm betrachtet, durch ein Fischernetz. Manche würden bald ganz blind sein.
TRAININGS-ZENTRUM
Autor …die Schlaufe um die Hand?
Trainerin Nein, auf keinen Fall!
Autor Am vorletzten Abend ein Selbstversuch. Weißer Stock,
Simulationsbrille auf ! Schwarz – nur ein winziges Loch in der Mitte.
Sehen, was Hans vielleicht noch sieht. Eine Annäherung.
Trainerin Keine hastigen Bewegungen… Erst mal orientieren.
Autor Hans, bist Du das?
Hans Ja, ich geh heut’ auf die Reise !
Autor Komm’ heil zurück !
Hans Ja klar!
Trainerin So … Jetzt gehn wir einfach mal nach draußen !
TÜR WIRD GESCHLOSSEN /AUSSENATMO
Autor … Sehen kann ich jetzt gar nichts mehr ! …
Der feste Boden – weit unten — dreht sich weg beim Gehen.
Bin ich zu hastig mit dem Stock? …
DER WEISSE STOCK
Trainerin Vorsicht ! Immer nach vorne orientieren ! Keine hastigen Bewegungen!
Autor … Ich kann mich an den Pfützen orientieren …
Die Pupillen hinter dieser blöden Brille suchen Halt. Tanzen. Torkeln. Nur ein paar Lichtreflexe. Regen klatscht von den Bäumen. Der unsichtbare Weg ist glitschig. Ilse, die Trainerin, immer ein paar Schritte hinter mir.
Trainerin Immerzu den Stock schwenken! … Den Stock mehr nach links, nicht so breit!
Autor Und immer unten am Boden … Ist da Wasser? Sch.…
Trainerin … Kleiner Pool ! Nu denk’ ich, gehst du so weiter, bis der Weg zu Ende…
Autor Vorne seh’ ich ein Licht. Und dieses Licht ist am Ende des Fußwegs ? Oder kommt etwas dazwischen?
Jetzt bin ich fast an der Straße!
So — jetzt wird ’s gefährlich!
Wo ist die Straße? Wo ist der Bürgersteig zu Ende?
Ah, jetzt seh’ ich was … Eine kleine reflektierende Kante. Hier fängt die Straße an … ?
Trainerin … Immer horchen!
Autor Oh, oh, oh …
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ABSAGE