Relotius und die Folgen. Ergänzte Fassung eines Eintrags in den Dokublog > Radioblog des swr vom Frühjahr 2019.
„Der Grundfehler seiner Arbeit lag nur darin, dass er kein Reporter ist, sondern Schriftsteller“, schrieb der Münchner SPIEGEL-Leser A.T. an das Magazin über jenen Autor, der nach seiner „Enttarnung“ (Dezember 2018) in anderen Leserbriefen „Trickbetrüger“, „ebenso brillant wie verschlagen“ oder einfach „Verbrecher“ genannt wurde. Claas Relotius heißt er, war bis zu seinem Rausschmiss im Reportage-Ressort des Magazins fest angestellt und hat als „Starreporter“ einen beträchtlichen Teil seiner Artikel frei erfunden.
„Scripted Reality“, „Faction“, „Nonfiction Novel“, „Tatsachenroman“ – so und ähnlich ist die Verschwisterung von Realität und Erfindung genannt worden, aber diese Etikettierung führte immer nur zu neuen Missverständnissen. Ebenso ergeht es Radiobegriffen wie „Reportage“, „Hörbild“, „Audiofeature“, „Akustisches Feature“, „Autorenfeature“, „Dokumentarbericht“, „Dokumentation“, „Nicht-fiktionales Hörfunk-Genre“.
Truman Capote’s Erfolgsroman „In Cold Blood“ hatte in der deutschen Übersetzung („Kaltblütig“) den Untertitel „Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen“. Der Kommunikationsforscher Phillip K. Tomkins schrieb in einer ersten Kritik nach Erscheinen des Originals 1965 unter der Überschrift „In Cold Fact“ für die Zeitschrift „ESQUIRE“: „By insisting that ‚every word‘ of his book is true he has made himself vulnerable“. In diesem Sinn war auch DER SPIEGEL, das „Deutsche NACHRICHTEN-Magazin“, dessen Statut aus dem Jahr 1949 kategorisch verlangt, alle „Informationen und Tatsachen“ im Blatt müssten „unbedingt zutreffen“, für die erfindungsreichen Texte eines Claas Relotius der falsche Ort. Und ARD-Featureprogramme wären es ebenso.
Im Unterschied zum journalistischen Berichterstatter / Korrespondent / Investigator (…), der – oft zu Unrecht – den Adel der strikten Objektivität in Anspruch nimmt, l e b e n AutorInnen für die Dauer der Recherche und der Produktion in ihrem Thema. Sie saugen es auf; sind Augen, Ohren, Übersetzer, Katalysatoren für das Publikum. Neben dem Alltagszwang, ausreichend Geld zu verdienen, entwickeln viele von uns mit jedem Auftrag eine höchst private Obsession, ja eine Art „Vampirismus“ – so jedenfalls beschrieb Maike Albath in einer Buchkritik für den Deutschlandfunk Capote’s mehrjährige Arbeit an „Kaltblütig“.
AutorInnen liefern uns eine SUBJEKTIVE SICHT – auf eine Person, einen Ort, einen Zustand, auf ein Stück der großen Torte, die wir „Welt“ nennen. „Realität ist nur eine Frage der Wahrnehmung“ – der Spruch hängt neben meinem Bildschirm an der Wand.
Wir sind Erzähler –
nicht Fliegenbeinzähler
Der Feature-Autor (die männliche Form hier als Gattungsbegriff) ist nicht „das Radio“ und nicht dessen Lakai. Was wir von ihm hören, sind seine Wahrnehmungen. Wie er sie vermittelt, ist seine „Handschrift“. Jedoch erwarte ich von ihm eine erkennbare und begründbare aber keineswegs starre Haltung dem Gegenstand gegenüber, unterfüttert mit eigenen Erkenntnissen und nachprüfbaren Fakten aus sekundären Quellen. Eine Grundübereinkunft besteht darin, dass er die vorgefundene Realität nicht nach einem vorfabrizierten Drehbuch zurechtbiegt, sondern als Person entsprechend dem individuellen Temperament darauf reagiert. Voraussetzungen sind intellektuelle Beweglichkeit und Open mind.
Das erlebnishafte Eintauchen in eine fremde Lebens- und Gedankenwelt ist immer individuell, nicht mehrheitsfähig und nur in Teilen nachprüfbar.
Harald Martenstein, Kolumnist des Berliner „Tagesspiegel“ im „Salon“ seiner Zeitung (April 2019): „Reportagen sollen spannende Geschichten und wahr sein. Zum Handwerk gehört es, Dinge wegzulassen. Man kann nicht alles aufschreiben, was man weiß. Man trifft eine Auswahl. Ein Bild entsteht, auf dem zu sehen ist, was man für wesentlich hält und was zur Geschichte passt, die man erzählen will. Das ist immer subjektiv und in gewisser Weise eine Manipulation. Ein anderer Reporter würde anders erzählen. Die Lüge beginnt, wenn Personen und Ereignisse erfunden werden“.
Nun also, da das hochbegabte Kind Relotius in den Brunnen gefallen ist, sind die Kolleginnen und Kollegen des SPIEGEL „tief erschüttert“, „fassungslos“. Es fühle sich an „wie ein Trauerfall in der Familie“. Das Blatt bitte um Entschuldigung und verspreche, die Arbeit der Autoren in Zukunft „dank der vielen Möglichkeiten des Internets“ zu überprüfen. „Aufarbeiter“ durchforsten weit zurückliegende Texte nach sachlichen Fehlern und Übertreibungen. Eine Kommission wird eingerichtet. Sie soll „in aller Demut“ das Unterste nach oben kehren, damit dergleichen nie…nie wieder geschieht. Die Auflistung der inkriminiertenTexte auf SPIEGEL-Online erinnert an die Beute eines Plagiatjägers der Plattform „VroniPlag“. Auch für das Schweizer Magazin „Reportagen“ hat R. zwischen 2013 und 2016 fünf Artikel geschrieben. „Wir werden diese Geschichten nachträglich noch einmal einem umfangreichen Faktencheck unterziehen“, heißt es dazu im Netz.
Die Gerichtsverhandlung ist eröffnet. Womöglich trifft investigativer Furor die gedruckte oder gesendete Story demnächst schon im voraus – siehe den Gastbeitrag im Programmheft des Deutschlandfunks von Dr. Christine Horz (Mai 2018): „Das Publikum kann eine Watchdog-Funktion erfüllen, die eine Medienaufsicht aus Nutzersicht erlaubt“. So sollte das Publikum „auch die Möglichkeit haben, v o r der Ausstrahlung eines Beitrags einbezogen zu werden, etwa durch Dialog mit Journalisten oder Umfragen zu neuen Formaten in den Chat-Foren der Intensivnutzer. Externe Evaluationen der Sendeinhalte durch ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Fachgremium“ könnten dies ergänzen.
Ein Software-Entwickler aus Düsseldorf postete zur Relotius-Debatte an den SPIEGEL, er habe „die Vision, dass jegliches Rohmaterial, das in den Nachrichten auftaucht, zur späteren eventuellen Kontrolle in eine Blockchain abgelegt wird, sodass man als interessierter Leser sich bis zu den Quellen eines Artikels vorarbeiten kann“.
Im App-Store und bei Google Play finde ich eine App, die investigativ „sicherstellen“ soll, dass weibliche Hauptfiguren in Spielfilmen mehr als nur Ehe und Mutterschaft anstreben.
In einem Forum zum Thema „Vertrauen zurückgewinnen — neue Skandale verhindern“ (siehe „Tagesspiegel“ vom 15. April 2019) schlägt die Publizistin Cigdem Akyol vor, von Reportern künftig ein Rechercheprotokoll einzufordern, und die Investigativ-Reporterin der „Welt“-Gruppe, Tina Kaiser, hat die glorreiche Idee, den Kollegen „Selfies von sich bei der Recherche“ abzuverlangen.
„Aufsicht“ –– „externe Evaluation“ –– „Kontrolle“ –– „sicherstellen“ –– „Protokoll“ ––– „Selfies“ als Fotobeweis …
Leine lassen !
Watchdogs allerorten. O du armer kleiner Autor mit dem Mikro in der Hand, den ich in der Zeitschrift „Cut“ vor Jahren so beschrieben hatte: „Als mitdenkendes und mitleidendes Wesen taucht der Reporter“ – sprich: das Multifunktionswesen „Featureautor“ – „ein in die Wirklichkeiten anderer, ein Fisch unter Fischen in fremden Gewässern. Seine Unabhängigkeit – nicht zu verwechseln mit dem buchhalterischen, zu Indifferenz oder Missbrauch einladenden Begriff ‚Objektivität‘ – erlaubt ihm, versuchsweise die Position der anderen Seite einzunehmen, und sei es die von Jack the Ripper“.
AutorInnen brauchen Vertrauen – freilich nicht das „blinde“ wie im Fall des Fabulierers R. Sie brauchen die lange Leine – kein Gängelband. Sie brauchen Hilfestellung, kollegiale Empathie, Ermunterung.
Auf keinen Fall Überwachung!
Nebenwirkungen
23. März 2019 – Kleiner Einblick in mein Alltagsleben (Mail an einen Berliner Kollegen)
(…) Vorgestern bin ich sehr erschrocken, als ich bei der Suche nach einem Musikvideo das Youtube-Angebot überschwemmt von Doof- und Hassmails vorfand, offenbar ausgelöst durch den Namen „Claas Relotius“ in zwei früheren Blog-Texten, die mir wohl Algorithmen auf dem Umweg über Google vollautomatisch beschert hatten (Youtube ist ein Kanal von Google).
Mir war den ganzen Tag schlecht wegen der Menge primitivster Attacken gegen lebende Politiker, die Demokratie im allgemeinen und – vor allem – gegen die „Lügenpresse“, unseren Teil eingeschlossen … Bis mir mein Schwager (Berufsschullehrer für digitale Gestaltung) zeigte, wie ich mit dem Befehl „Verlauf löschen“ dies alles auf meinem Mac wieder loswerden kann.
Allerdings hatte ich nun mal per Surfen durch die Kommentare und die Kommentare der Kommentare und immer so weiter einen Blick in die Hölle der Dummheit und Aggression getan. Durch Anklicken dieser posts schwoll die Dreckmasse kontinuierlich an. Albtraum! Wichtig wär ’s, dass wir uns mit diesen finsteren Seiten des Internet viel mehr beschäftigen (…) Muss erst mal eine Weile pausieren und nachdenken.
Nachtrag 25. Mai 2019
Der „Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum Fall Relotius“ ist erschienen
WICHTIG: Die Vorschläge der Kommission betreffen n i c h t einen der üblichen SPIEGEL-Artikel, die faktische Ergebnisse investigativer Recherchen vorlegen, sondern eine vom Rest des Heft-Inhalts deutlich abgesetzte, namentlich gekennzeichnete Reportage mit literarischem Anspruch – ein Format also, das dokumentarisch-erzählenden Features im Hörfunk nahe kommt – H. K.
Ergebnis:
► Wir organisieren unsere Sicherungsmechanismen fortan so, dass sie auch nahtlos funktionieren, wir richten eine unabhängige Ombudsstelle ein, die etwaigen Hinweisen auf Ungereimtheiten nachgehen soll, und wir überarbeiten unsere Recherche‑, Dokumentations- und Erzählstandards (…)◀︎
Im einzelnen:
► Beschreibungen sollten nur so viele Adjektive beinhalten, wie für das Verständnis der realen Szenerie nötig. Mit jedem weiteren gerät der Autor an die Grenze zur Fiktion (…) Szenische Einstiege in Texte sind nur dann erlaubt, wenn sie selbst erlebt wurden oder ihre Quelle genau benannt wird (…) Jeder Reporter muss seine Recherche lückenlos dokumentieren. Vor allem dann, wenn sie nicht überprüfbar ist. Protagonisten müssen fotografiert werden, Kontaktdaten müssen vorliegen, der Reporter muss nachweisen können, dass er die beschriebenen Orte besucht hat, für Interviews bedarf es einer autorisierten Fassung oder einer Audiodatei. Diese Unterlagen müssen der Dokumentation aufbereitet vorgelegt und mindestens zwei Jahre aufbewahrt werden.
Die Vorschläge sollen dabei helfen, Fälschungen, aber auch vermeintliche Verschönerungen und unzulässige Verdichtungen oder Weglassungen mit vertretbarem Aufwand auszuschließen (…) Jeden Mittwoch nach der Platzbesprechung sollte das CvD-Sekretariat per Zufallsgenerator (App) eine Seitenzahl auswählen und die Dok-Leitung informieren, welcher Text dort eingeplant ist. Die Geschichte, die zu dem Zeitpunkt auf dieser Seite/diesen Seiten eingeplant ist, wird vor Erscheinen erweitert verifiziert (…) Das heißt, die Dokumentation (…) bittet den Autor oder die Autorin auch um Notizen, Fotos, Videos, Audio-Aufnahmen. Sie lässt sich ebenfalls Telefonnummern, E‑Mail-Adressen oder beispielsweise Facebook-Profile der vorkommenden Personen geben, auch, falls vorhanden, die eines »Fixers«, Übersetzers oder Fahrers. Die Autoren und Ressortleiter werden darüber informiert. ◀︎
FAZIT: Von Hausjuristen überwachte (Selbst)-Zensur findet statt
(CvD = Chef vom Dienst – Dok = Dokumentations-Abteilung – Fixer = laut WIKIPEDIA „eine Person, die ortsunkundigen Berichterstattern organisatorisch assistiert und sie mit Kontakten zu Einheimischen versorgt“)
Warum ich immer noch
„Radio mache“
WEIL ich über 40 lange Jahre meinem genetisch bedingten (?) Erzähldrang nachgeben konnte, ohne dass ein Zufallsgenerator im Auftragt höherer Mächte meine Manuskripte herausgepickt und – über das persönliche Gespräch mit meinen jeweiligen Redakteuren/Redakteurinnen hinaus – den Inhalt „erweitert verifiziert“ hätte.
WEIL szenische Einstiege zu meinen dramaturgischen Eigenarten gehören und von Kollegen (aber auch Hörern) geschätzt werden, wiewohl einige meiner Einfälle im Lauf der Zeit durchaus in die Hose gingen.
WEIL meine Frau beim ersten Querlesen die Anzahl der Adjektive bereits gnadenlos reduziert hat, vermeintliche “Verschönerungen“ (leider) ebenso.
WEIL Verdichtungen und Weglassungen zum Handwerk gehören.
Wäre ich jemals danach gefragt worden, hätte ich mich geweigert, meine Recherche „lückenlos“ zu dokumentieren, Protagonisten und mich selbst beweiseshalber abzulichten (Tatortfotos) und eine Liste von Kontaktadressen samt Telefonnummern und Facebook-Profilen abzuliefern. Meine durch Fakten ausgelöste und zugleich gezügelte FANTASIE wäre sonst ausgebremst und erwürgt worden.
Die dünnblütigen Texte, die auf diese Art voraussichtlich entstehen, mag ich weder lesen noch im Radio hören.