Tinnitus — Volksleiden im Lärmzeitalter
Ein Feature im Selbstversuch
SFB + MDR / ORB / BR / NDR 1998 – Kurzfassung 48:27 für SFB/ORB
Der Mensch kann die Augen schließen, die Ohren aber nie — Alltagserfahrung für acht Millionen Deutsche, die von Ohrgeräuschen gequält werden: Pfeifen und Rauschen, Knattern, Tuckern, Klopfen, Tuten, Knallen. Eine Million Betroffener, so schätzt die Deutsche Tinnitus-Liga, leiden besonders schwer unter diesem Dauerlärm, der immer da ist — Jahre und Jahrzehnte lang. Und den niemand sonst hört. Ein einsames, ein „modernes“ Leiden. Denn die akustische Umweltverschmutzung und Dauerstreß im Workaholic-Rausch zählen vermutlich zu den häufigsten Auslösern.
Der Autor schildert den oft verheerenden Einfluss der Innenohrgeräusche auf das Privatleben der Geplagten. Er hat gängige und alternative Diagnose- und Therapieformen selbst „getestet“. Und er traf Zeitgenossen, die mit „ihrem“ Geräusch Frieden geschlossen haben — zum Beispiel einen amerikanischen Jazzmusiker, der über die Tag und Nacht in seinem Kopf ablaufenden Tonfolgen auf dem Piano improvisiert.
„Willkommen im Klub!“
Zum Feature im Programmheft des SFB, das Sendemanuskript zitierend
7 Uhr 30, Aufnahme-Halle im Klinikum Steglitz. Rauscht die Klimaanlage so laut — oder sind’s meine Ohren ? — Schalter 13. Hinter der Glasscheibe entsteht meine Kranken-Akte. „Sie sind zum ersten Mal hier ?“ Auf der Überweisung lese ich: „Tinnitus aurum, bitte um Therapievorschlag“. Ich nehme Aufzug Nummer 20.
Der HNO-Wartesaal gesteckt voll. Fach-Leidende unter sich: „Wie geht’s denn so Ihrem Geräusch ?“ — „Danke der Nachfrage — und was macht Ihr Tinnitus in letzter Zeit ?“ Sie reden über ES (ihr Geräusch) oder IHN (ihren Ton) wie über Haustiere; als hockte ER oder ES auf Geisterart neben ihnen, unhörbar für den jeweils anderen, ein akustisches Phantom, und doch so gegenwärtig, so quälend, daß sie immerzu davon reden müssen. Ich habe mein eigenes Geräusch mitgebracht — ein hohes, oft schneidendes Zischen um die 7000 Hertz. Ich kann hier mitreden. — „Willkommen im Klub!“
Acht bis neun Millionen Bundesbürger haben solche Tag- und Nachtbegleiter. Die meisten sind eher harmlos; rauschen oder winseln leise; wehen leicht; knarzen und knistern wie Übersee-Telefonleitungen im vor-digitalen Zeitalter; sirren; klimpern kleine Liedchen auf Engelsharfen („tinnire“ ist das lateinische Wort für „klingeln“).
Aber es gibt auch die Bestien im Kopf: die Hooligans unter den Geräuschen, die schimpfenden Stimmen, die dröhnenden U‑Bahn-Züge, die Presslufthämmer, die unablässig landenden Jets. Fast einer Million betroffener Deutscher vergällt das Dauer-Geräusch jeden Spaß am Leben, schätzt die Deutsche Tinnitus Liga, ein Selbsthilfeverein mit derzeit 23 000 Migliedern.
Ich werde durchgecheckt; höre Sinustöne und „sprachsimulierendes Breitband-rauschen“; absolviere einen Eignungstest für Nachwuchsastronauten („Vestibularis-prüfung“), daß mir Hören und Sehen vergeht. Die Ergebnisse materialisieren sich als gezackte Linien und bizarre Muster in meiner Kranken-Akte, die bald aussieht wie ein Album voller Konstruktionszeichnungen oder Zuschneidebögen. Leider bleibt mein Tinnitus von alldem ganz unbeeindruckt; hockt irgendwo im Kopf und flüstert hämisch: „Ich bin noch da ! Laß die ruhig weiterstümpern ! Ich gehöre jetzt zu Dir ! Du mußt mit mir leben!“
Tatsächlich: Die Schulmedizin streckt vor meinem Quälgeist alsbald die Waffen. Ich aber gebe nicht so schnell auf. Ich versuche alles, was gut und teuer ist (und zumindest nicht schadet): Akkupunktur, Low-Level-Laser- und Magnetfeld-Therapie, Bachblüten, Hypnose, Tai Chi Chuan, Ayurveda; ich lese alle einschlägigen Ratgeber („Tinnitus — was tun ?“, „Leiden und Chance“, „Leben mit Ohrgeräuschen“); ich versuche, das Übel mit Entspannungsmusik und verzerrten Mozart-Klängen nach der Methode Tomatis zu besänftigen; tröste mich mit den Schicksalen berühmter Tinnitus-Betroffener wie van Gogh und Beethoven; ich schnuppere an Ferrum metallicum, Ginko und Schlafmohn; lasse Blutegel setzen, atme Ozon; mir werden die Knie besungen, die Ohrläppchen geknetet, die Fußsohlen massiert. Oh ja — ich hab’ auch Spaß dabei, kann aber das dumme Gefühl nicht ganz loswerden: Bei alldem amüsiert sich mein Tinnitus wie Bolle.
Er ist mir zugeflogen. Eines morgens war er da, wie ein verirrter Wellensittich, und lässt sich nun nicht mehr wegjagen. Ich habe ihn schon 13 Monate. Aber noch immer warte ich darauf, daß er eines Morgens einfach fort ist — Käfig offen und Stille ringsum. — Freilich sagte ein Funk-Kollege unlängst (er hat einen ziemlich wilden, hässlichen Vogel im Kopf): „Stille gibt’s — rein physikalisch betrachtet — doch gar nicht. Stille wäre der totale Tonausfall, Gerneralpause, der Tod ! Sollten wir uns das vielleicht wünschen?“