Logbuch einer Notrettungsstation.
Sender Freies Berlin mit ORB und HR (2001).
GEKÜRZTE MANUSKRIPTFASSUNG.
Sprecher Er fragte: Kannst Du Blut sehen ? Menschenblut ! Kein Ketchup wie im Fernsehen.
Na dann !
IM NOTARTZWAGEN / SCHNELLE FAHRT AUF DER LANDSTRASSE / SONDERSIGNAL / FUNKSPRECHVERKEHR
Sprecher Sonntag, 15 Uhr. Mit 160 auf der Landstraße, die in die Berge führt. Sonne, Straße trocken. 28 Grad.
Lange Autoschlangen. Cabrios mit offenem Verdeck. Motorradfahrer – einzeln und in dichten Pulks. Schrecken auf und rucken an den Straßenrand.
Könnte auch ein Film sein.
MARTINSHORN / FUNKSPRECHVERKEHR
ANKUNFT AM UNFALLORT / GERÄUSCH DER NOTBEATMUNG
Stimmen Er kriegt keine Luft … Machen Sie mal die Augen auf…
Du kriegst jetzt geholfen … Wir helfen Dir jetzt!
Sprecher Da liegt er auf der Fahrbahn. Leblos. In einer Lache Benzin.
Starker junger Mann, schwarzes Leder, Totenkopfabzeichen.
Das eine Bein grotesk im rechten Winkel abgeknickt. Daneben, was von dem Motorrad – einer 600er Ducati “Monster” – übrig blieb.
Da ist auch eine Menge Blut.
Mann (ZWEITES UNFALLOPFER) Bin ich mit dem z’sammegefahre?
Sprecher Der andere. Ein alter Mann, blutend und verstört, in den Trümmern seines VW Polo. Wollte abbiegen, nach links. Hat die Maschine übersehen. Die kam wie ein Geschoss.
Jetzt wird das teuere schwarze Lederzeug hastig aufgeschnitten.
Männer von der Feuerwehr spannen Decken gegen Gaffer.
Stimmen Hebt an … O. k !
ABSCHLEPPWAGEN / KULISSE WEG
Sprecher “Kannst Du Blut sehen ?” hatte er gefragt. “Menschenblut ?” Mein Nachbar Joachim ist Notarzt durch-und-durch. Neun Jahre Klinikum.
Dr. Joachim Eitel Daß ich überhaupt Medizin studiert hab, liegt an der Notfallmedizin. Als Zivildienstleistender war ich Sanitäter beim Roten Kreuz in Ulm, meiner Heimatstadt.
Das seh ich noch wie heute vor mir — bei einem Notarzteinsatz: Da ist ein kleines Kind vom Auto angefahren worden. Und da stand ’ne Traube von Leuten um das Kind rum, und die haben getan was sie konnten für das Kind. Haben das Kind auf ’ne Decke gelegt. Das Kind hat noch selber geatmet, hatte so ’ne schwere Impressions-Fraktur am Schädel, so ’ne Beule an der Seite…
Was mich halt so beeindruckt hat: daß der Notarzt, auch Anästhesist, über
die Fähigkeit verfügt, jetzt für das Kind das Richtige zu tun. Damit das Kind ’ne Chance hat. Das war ein bleibendes Erlebnis für mich.
Sprecher Er hatte mich auf die Idee gebracht: Eine Woche Notarztwagen – als Beobachter. Als vierter Mann mit ständig wechselnden Kollegen und Kolleginnen.
Hier fahren nur Narkoseärzte auf dem NAW, dem Notarztwagen – einmal, auch zweimal pro Woche. An den anderen Tagen sind sie “auf Station”. Das Rote Kreuz betreibt das Rettungszentrum auf der Nordseite des Klinikums. Der ADAC stellt den Hubschrauber und die Piloten. Das Klinikum stellt die Ärzte.
RETTUNGSSTATION
Stimmen … Hallo … Wo liegt er denn da ? … Wir sind gleich da ! … Hier ist die Leitfunkstelle Fulda mit Rettungsdienst-Einsatz für Rotkreuz Fulda 9183 … Brauchen den Unfallchirurgen im Schockraum, Oberschenkel und Thorax … Was hat das Kind für Verletzungen? Können Sie mir das sagen?
Sprecher Sonntag, 17 Uhr.
(…)
Montag, 8 Uhr. Pünktlich auf der Matte. Für meinen Nachbarn Joachim ist Dienstbeginn. Dr. Fehrenbach hat Feierabend, nach 23 Stunden. Er war 7,2 Stunden auf Station plus 15,8 Stunden in Bereitschaft.
Dr. Fehrenbach Ich mach das jetzt seit zehn Jahren bald. Und das ist das, was einen fertig macht mit der Zeit – diese Art von Einsätzen, wo man aus’m tiefen Schlaf von jetzt auf gleich einsatzbereit sein muß.
Diese Entscheidungs- und Handlungsabläufe gelingen nur deswegen, weil sie eigentlich mehr oder weniger unterhalb der Bewusstseinsebene ablaufen. Und es geht immer um Zeit. Dann klappert nur noch das Geschirr…
Dr. Eitel Das sind Algorithmen, die stehen für häufig wiederkehrende Notfallsituationen zur Verfügung – die man irgendwann mal lernt. Und die
laufen dann ab.
Dr. Zühlke Es ist noch eine enorme Angst bei mir… Dadurch, daß ich noch relativ unerfahren bin als Notärztin. Ich fahr jetzt ungefähr seit einem halben Jahr. Ich bin froh, wenn der Einsatz nicht so schlimm ist – dem Patienten geht’s gar nicht so schlecht wie gedacht. Dann bin ich nicht bös’ drum ! Ich bin froh, wenn’s dem Patienten gut geht, und dann können wir wieder fahren.
IM FAHRENDEN NOTARZTWAGEN
Sprecher Montag, 19 Uhr.
Stimmen … Oben an der Kreuzung links … Auf der rechten Seite gucken …
Die Hausnummer 2 … Links ist 1 und 3 … Ah, da steht schon jemand!
Sprecher Neben mir der Rettungsassistent streift die dünnen Handschuhe aus Latex über – heute schon zum achten Mal.
DER WAGEN HÄLT
Der Griff nach EKG und Sauerstoffgerät. Und raus. Unser Blaulicht lockt die Nachbarn an die Fenster.
AUSLADEN DER TRAGE / HASTIGE SCHRITTE IN EINEM TREPPENHAUS / TÜRKLINGEL
Dr. Eitel Guten Tag.
Stimme Es ist viel besser geworden, 2 bis 3 Minuten bevor Sie kamen…
Dr. Eitel Schön, wie heißen Sie denn? Und wie alt sind Sie?
Patientin 87 …
Dr. Eitel 87 … Ja, es sieht so aus, als hätten Sie einen leichten Schlaganfall erlitten. Wir müssen Sie in die Klinik mitnehmen. Machen Sie mal ’nen spitzen Mund — wie wenn Sie pfeifen wollen.
Patientin (VERSUCHT ZU PFEIFEN)
Stimme Ihre Tochter ruf’ ich noch an …
Dr. Eitel Sie haben doch ein bißchen Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Aber Sie verstehen mich ! Es fehlen Ihnen nur die richtigen Worte!
Patientin (UNVERSTÄNDLICH)
Assistent Nicht erschrecken !
Dr. Eitel Können Sie mir noch mal sagen, wann das ungefähr angefangen hat heute ? … Auf’m Weg zum Doktor ?
Patientin (UNVERSTÄNDLICH)
Assistent Die Arme bitte auf den Bauch … Packst du mal mit an!
Tochter der Patientin Ich fahr’ hinter Dir her ! Ich komm’ Dir nach … Ich komm’ bald nach!
Assistent So jetzt werden die Beine mal flach …
METALLISCHE GERÄUSCHE
Sprecher Die Spreizbeine der Trage klappen ein. An diese herzlosen Geräusche muss ich mich erst noch gewöhnen. Klingt wie Reparaturwerkstatt.
EINSATZ-KULISSE WEG
Dr. Eitel Sie lag da so … Ich hab sie angefaßt, hab sie übers Haar gestreichelt … Und sie hat dann gelächelt ! Und das hat mir gut getan, daß sie lächelt … War für mich ein Zeichen, daß es ihr wieder ein bißchen besser geht. Das ist einfach ein gutes Gefühl: Das hat funktioniert, das hast du gut gemacht ! Wenn einen niemand lobt, sitzt man da und denkt: Das war net schlecht ! Und der enorme Aufwand an technischen und menschlichen Ressourcen, auch an Geld … war gut!
Sprecher Dienstag,18 Uhr.
FUSSBALLPLATZ
Sprecher Ein Rhöndorf. Superstimmung auf dem Fußballplatz.
Hier kicken Kneipenmannschaften. Mehr Bier als Turnier.
Der Mann ist schon in Silberfolie eingepackt. Er zappelt, seine Zähne klappern. Dynamo Tresen heißt der Jux-Verein — mit T wie “Theke”.
Ein alkoholisierter Kumpel hält die Infusionsflasche.
DER VERLETZTE SCHNAUFT, STÖHNT UND JAMMERT
Stimmen …Ganz ruhig … Das brennt !
Sprecher Der Notarzt zieht die Spritzen auf — Beruhigungs- und Schmerzmittel. “Isses Sschlimm, Herr Doktor ?” fragt mich der Kumpel. “Schätze Wadenbeinbruch. Ab in die Klinik !”
SPORTPLATZ-KULISSE WEG
Dr. Eitel Wir sind hier in der glücklichen Situation, daß wir ein reiches Land sind und uns diese Unfallmedizin leisten können. Daß jeder eben die Chance haben soll, daß er bestmöglich versorgt wird. Daran glaub ich. Dieser Mensch hat dieses eine Leben. Und wenn er jetzt eine Dummheit gemacht hat, er ist deshalb auf den Kopf gefallen, dann nützt es ihm nichts, wenn man ihn schlechter behandelt – so nach dem Motto: Er ist besoffen, er ist selber schuld !
(…)
Sprecher Wie geht’s eigentlich dem Kneipenfußballer?
STATION 4
Sprecher Er liegt auf der 4 B. Hat viel Besuch. Gestern die Truppe von “Dynamo Tresen”. Heute eine Gruppe Biker, schwarz, mit Blumensträußen.
Lucky Das einzige, was bei mir jetzt noch ganz ist, das sind die zwei Nieren,
die Leber und das rechte Bein. Sonst war alles schon kaputt. Alles!
Sprecher Ein Veteran des Straßenkriegs. Immer wieder Unfälle. Fünf Jahre lang außer Gefecht, alles in allem. Heute kriegt er seinen Gips und seine Krücken.
LuckyIch war dreimal klinisch tot. Zweimal haben sie mich mit dem Notarzt zurückgeholt und einmal auf der Intensivstation. In der Lunge war ja ein zehn Zentimeter langer Riss. Die Lippen waren total kaputt, die Zunge war ab. Ich hatt’ auch noch’n kleinen Gehirnschaden – zweieinhalb Wochen, aber das ist mir eigentlich Wurscht … (LACHT)
Sprecher “Lucky” steht auf seinem Arm als bunte Tätowierung. Schon dreimal dem Tod von der Schippe gesprungen.
Lucky Meine Eltern hab ich am Anfang auch nicht erkannt und so…
Sprecher Da braucht man einen Haufen Glück ! Der vom Sonntag
hatte weniger Glück. Man wird ihm das zerfetzte Bein wahrscheinlich abschneiden.
LUCKY KRAMT KURZ IM NACHTSCHRANK
Sprecher Polizeifotos in Klarsichthüllen.
Lucky … Das ist ein Originalbild …Das war bei meinem ersten Unfall kaputt …
Sprecher Sein Motorrad war ein “Chopper”, ein Genussfahrzeug.
Eine Fünfzehnhunderter.
Lucky So sah das Auto aus, wo ich reingefahren bin!
Autor Du lieber Gott !
Lucky Das Motorrad ist irgendwie … das Leben. Erst das Motorrad, dann die Frauen ! (FETTES GELÄCHTER)
Autor Was ist denn dem Fahrer passiert von dem Auto?
Lucky Die ist tot …
KULISSE WEG
RETTUNGSZENTRUM, HUBSCHRAUBER-HANGAR / TOR ÖFFNET SICH HYDRAULISCH
Sprecher Donnerstag, kurz nach Acht. Meine fünfte Schicht. Der Helikopter “Christoph 28” fliegt nach Hilders in der Rhön. Fahrzeug von der Straße abgekommen, brennt, wahrscheinlich vier Verletzte.
Mehr weiß die Leitstelle noch nicht.
HELIKOPTER STARTET
(…)
INTENSIVSTATION
Sprecher9.30 Uhr. Intensivstation.
Der Motorradfahrer, den wir Sonntag aufgelesen haben, ist noch tief bewußtlos. Künstliches Koma. Sein Leben weiter auf der Kippe.
Dr. Eitel Also der Patient ist sicher jemand, der ohne unser modernes Notarztwesen primär gar nicht überlebt hätte. Der wäre am Unfallort verstorben ohne Notarzt, ohne Hubschrauber. Der hat in der ersten Zeit eine Unmenge Blut bekommen.
Auf so eine schwere Mehrfachverletzung reagiert der Körper mit einer generalisierten Entzündungsreaktion. “Systemic inflamatory response syndrom” – so nennt sich das … in den Gefäßen, an den kleinen Blutgefäßen, in der Niere, in der Lunge, in der Leber, bei der Kreislaufregulation. Alles das hat er hinter sich.
RETTUNGSZENTRUM / DRAUSSEN LANDET DER HUBSCHRAUBER
Sprecher 9.45 Uhr. Der Helikopter kommt zurück. Für Dr. Keul, der eigentlich schon Dienstschluss hatte, war das Einsatz Nummer 12 in dieser Schicht.
Vier junge Männer auf der Heimfahrt von der Technoparty gestern abend. In einer Linkskurve der B 278 kommt der Wagen von der Straße ab, prallt gegen einen Baum, fängt Feuer. Der Fahrer ist vor Übermüdung eingeschlafen.
11.30 Uhr. Dr. Keul berichtet:
Dr. Keul … Die beiden Patienten haben in einem Abstand von 5 bis 10 Metern nebeneinander im Wald gelegen.
Und der erste Eindruck war, daß der eine Patient sich noch bewegt hat. Und der zweite Patient, der war still und hatte eine sogenannte Schnappatmung — eine schwache, ganz schwache, versiegende letzte Atmung. Es war ein Patient, dem man gleich angesehen hat, dass er unmittelbar vorm Atemstillstand steht.
Gut — man muss bei einem Patienten anfangen … Hab’ dann letztendlich mit dem angefangen, dem’s schlechter ging. Da war’s nach wenigen Minuten klar, daß der sterben würde und zwar noch an der Unfallstelle. Wir haben schon während der Wiederbelebungsmaßnahme gesehen, daß der Bauchumfang erheblich zunimmt, daß es da offensichtlich in den Bauch blutet, da ein massiver Blutverlust ist. Im EKG war eine Null-Linie, dementsprechend keine tastbaren Pulse. Die Atmung hatte ja auch schon aufgehört.
Und da hab ich mich schnell entschlossen, diesen ersten Patienten zu verlassen und mich dem anderen zuzuwenden. Dann haben wir ihn dann in Windeseile in den Hubschrauber eingeladen und in die Klinik gebracht.
Der Patient ging dann in den OP, hatte in dieser Phase noch so’n halbwegs passablen Kreislauf, aber dann, als der Bauch eben eröffnet wurde — dann war so der erste Eindruck von den Chirurgen, daß die Leber von dem Patienten völlig zerborsten war durch diesen enormen Aufprall. Und diese Blutung, die war letztendlich auch net zu beherrschen.
Autor Wie lang hat man sich da noch bemüht ?
Dr. Keul Eineinhalb Stunden …
(…)
Sprecher 12.10 Uhr. Ein Wohnheim.
TREPPENHAUS
Stimmen … Wir sind benachrichtigt worden, weil er seit längerem nicht in seiner Trinkhalle gesehen wurde … Wohnt hier … Ist alkoholkrank … Auf Grund des Geruches haben wir dann die Wohnung öffnen lassen…
Sprecher Der Hausmeister hat die Leiche entdeckt. Zwei Polizeibeamte halten Taschentücher vors Gesicht.
Notärztin Dr. Zühlke … Darf ich das Bügelbrett mal beiseite nehmen? So lassen – ja ?
Sprecher Dunkles Zimmer, Vorhang zu. Halbentkleidete Gestalt zwischen umgstürzten Möbelstücken. Das Gesicht kaum zu erkennen. Schwarz.
Dr. Zühlke Haben Sie die Personalien von dem Mann ?
Sprecher … Zerfließende Materie. Fahles Licht vom Fernseher, der schon weiß-wie-lange läuft. “Den konnte keiner ausstell’n”, sagt der Hausmeister sarkastisch.
KULISSE WEG
(…)
NOTRETTUNGSSTATION
Sprecher 13.15 Uhr. Rettungszentrum
NOTÄRZTIN FÜLLT DEN LEICHENSCHEIN AUS
Dr. Zühlke …Das ist jetzt mein dritter, den ich ausstelle … Gott-sei-Dank kommt das nicht so häufig vor … Da muß ich den Zeitpunkt eintragen, wann wir die Leichenschau durchgeführt haben. (SCHREIBT)
Ich hab’ jetzt einfach angekreuzt: “Todesart ungeklärt”. Alles weitere ist der Kriminalpolizei überlassen .
Hallo Christoph !
(ZU DEM KOLLEGEN) Das war ein Patient — das einzige was wir über den wussten: dass er ein bekannter Alkoholiker ist. Und er lag jetzt wahrscheinlich schon tagelang tot in seiner Wohnung. Wir sind einfach nur hinzugerufen worden, um die Leichenschau durchzuführen.
Kollege Todesart ungeklärt …
Dr. Zühlke Solche Dinge wie – dass Blutspuren im Bad waren …
Kollege Das kannst Du an der Epikrise unten angeben, nähere Angaben zur Todesursache …
Dr. Zühlke Und das hier komplett auslassen … (SCHREIBT)
Ich konnte eigentlich nur noch den Tod feststellen. Für mich war’s ein trauriger Anblick — zu sehen, daß es kein schneller Tod war, dass er einsam gestorben ist und in was für Verhältnissen der gelebt hat.
Dann denk’ ich mir oft, wenn ich dann in unsere Wohnung reinkomm’: Wie schön wir doch wohnen ! Man lebt bewusster. Das hält natürlich oft nicht lange an …
Also ich hab’ Wohnungen gesehen – das hätt’ ich mir nie gedacht, daß Menschen so hausen können!
Kollege (Dr. Rathjen) … nicht nur engste Verhältnisse oder unaufgeräumt, sondern … Sterbender Patient und zwei Angehörige, jeder sitzt in seinem Zimmer und guckt Fernsehen. Jeder guckt ein anderes Fernsehprogramm. Das war für mich so das schrillste Erlebnis.
Autor Ist nicht wahr!
Dr. Rathjen Doch!
Autor Und die wußten, daß der Dritte stirbt?
Dr. Rathjen Die haben uns ja gerufen ! Die wollten nicht, daß er zu Hause sterben kann, sondern wir sollten ihn mitnehmen. Also haben wir ihn mitgenommen.
Dr. Eitel Gestorben wird im Krankenhaus.
Dr. Fehrenbach Für alles wo man Spezialisten hat, braucht man sich selber die Finger nicht dreckig zu machen. Wir bezahlen Krankenkassenbeiträge und wir bezahlen Steuern, wir bezahlen alles mögliche. Und jetzt sollen halt die Profis kommen und es richten und es machen.
Insofern schafft man sich eine gesellschaftliche Situation, wo man Krankenhäuser wie Tempel baut, sich mehr oder weniger gut dotierte Spezialisten zur Erfüllung dieses lästigen Themas hält und die in einem Raum großer persönlicher Distanz walten und verwalten lässt. Punktum.
KULISSE WEG
Sprecher Donnertag, 16 Uhr.
IM NOTARZTWAGEN / FAHRZEUG HÄLT
Rettungsassistent Ach — da oben liegt er !
GERÄUSCHE BEIM AUSSTEIGEN / WAGENTÜR WIRD ZUGESCHLAGEN
Sprecher Männliche Person in leichtem Sommeranzug. Rückenlage.
Der Mann muss über 80 sein.
Notarzt … Gut … Dann machen wir mal zwo Milligramm Adrenalin auf zehn Milliliter … Und über’n Absaugkatheter…
Sprecher Das Gesicht ist tiefblau angelaufen. Rote Briefumschläge liegen auf dem Gehweg, schon frankiert. Wie Einladungen zu einem Fest. Nur noch 50 Meter bis zum nächsten Briefkasten.
STIMMEN / ARBEITSGERÄUSCHE / AUGENZEUGEN:
Der ist eben umgefallen … Der ist hier mit dem Roller rumgefahren und hatt dann gerufen: “Der Mann ist umgefallen “… Ja ! … Die Hände haben noch gezittert…
Sprecher Schwer arbeitender Notarzt und die beiden Rettungsassistenten an dem Leblosen. Ein Stromstoß von 200 Joule fährt in den Körper. Der Mann bäumt sich auf. Ein zweiter Versuch. Ein dritter. Doch das Herz will nicht mehr anspringen. Flimmert noch ein wenig. Dann steht es nur noch still.
KULISSE WEG
Dr. Eitel (IM RETTUNGSZENTRUM) Das ist ja das Maximale, was wir machen: Der Tod ist eingetreten, und da kommt das Notarztteam und versucht, durch die Wiederbelebungsmaßnahmen dieses Ereignis rückgängig zu machen.
Das Zeitfenster vom initialen Ereignis, wenn jemand einen Kreislaufstillstand
hat, also das Gehirn, die Organe nicht mehr durchblutet sind, bis spätestens was passiert, sind fünf Minuten, bis das Gehirn irreversiblen Schaden nimmt. Obwohl wir sicher eines der besten Rettungswesen der Welt haben, sieht man schon, dass das knapp wird.
Man weiß ja net genau, wie lang das schon alles zurückliegt. Deshalb wird
man natürlich im Zweifelsfall immer die Reanimations-Maßnahmen einleiten.
Je jünger der Patient ist, desto länger wird man’s versuchen. Trotz aller technischen Möglichkeiten sind die Erfolgschancen gering.
Die Reanimation ist die letzte Möglichkeit, die man hat. Und meistens ist es zu spät oder nützt nix. Das ist schon so …
Jeder von uns Notärzten hat die Erfahrung sicher schon gemacht: Man hat jemanden wiederbelebt, man hat den Kreislauf wieder in Gang gebracht, man hat ihn hier in die Klinik gefahren — und ein paar Tage später geht man dann auf die Instensivstation, dann sagen die: Gut — Kreislauf stabil, aber hypoxischer Hirnschaden. Der wird nie mehr aufwachen. Das, was diesen Menschen ausmacht – die individuelle Existenz (SIGNALTON) dieser Person…
Jetzt muss ich doch fliegen … Muss auch noch pinkeln …
Autor O. k. ‑Komm’ gesund wieder !
TÜR WIRD ZUGESCHLAGEN / ATMO RETTUNGSZENTRUM WEG
(…)
Sprecher Freitag. Alle reden noch von dem Unfall nach der Techno-Party, oben in der Rhön. Gestern war die Trauerfeier für den einen 16-Jährigen. In der Kirche spielten sie sein Lieblingslied: “One more time”.
SONG: “ONE MORE TIME” (DAFT PUNK)
Sprecher Todesanzeigen:
“Wir trauern um Jan — du wirst uns fehlen” – “Ein ewiges Rätsel ist das Leben — und ein Geheimnis ist der Tod — Trachtengruppe Gersfeld” –
“Ihr wart noch jung, ihr starbt so früh / Wer euch gekannt, vergisst euch nie. Eure Freunde: Olli, Heiko, Christian, Jenny, André, Tina, Carmen, Sascha …” – 27 Namen.
MUSIK WEG
(…)
Dr. Fehrenbach Es ist ja die Frage: Wenn man immer mit Tod konfrontiert ist, ist man ja auch mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert. Und wenn man sagt: Es gibt da ’nen Großen, dessen Ratschlüsse man nicht durchschaut, der wird schon wissen für was es gut ist – dann muß ich auch nicht für alles die Verantwortung tragen.
Dr. Keul Es wäre natürlich schon sehr bedeutsam, wenn man beispielsweise sicher an ein Leben nach dem Tod glauben würde. Im Jenseits treffen sich doch alle wieder, und dann wird alles gut. Da könnte man sicher mit manchen tragischen Situationen besser umgehen als ich’s kann. Ich denke, dass sehr religiöse Ärzte sich da vermutlich leichter tun.
Sprecher Und noch ein Nachruf in der Zeitung: “Kurz vor Vollendung seines 90. Geburtstags starb gestern unser lieber Vater, Schwiegervater, Opa, Uropa…”
Die roten Briefumschläge !
“Wir wollen nicht trauern, daß wir ihn verloren haben, sondern dankbar sein, daß wir ihn hatten…”
RETTUNGSZENTRUM / FERNSEHTON
Sprecher 23 Uhr. Rettungszentrum. Mannschaftsraum. Im Fernseher zum x‑ten Mal “Das Boot” nach dem Roman von Lothar-Günther Buchheim. Keiner sieht mehr hin.
Nachtgespräche.
Dr. Eitel Das Interessante,was Du heute morgen verpasst hast, war eben die Entscheidung, jemanden nicht wiederzubeleben. Die Meldung war: Patient mit bekannter koronarer Herzkrankheit im Garten zusammengebrochen, bewusstlos. Wir haben dann im Wohnzimmer einen alten Mann vorgefunden, in den Armen seiner Tochter liegend.
Vom ersten Aspekt her war der Mann tot. Er hatte weite lichtstarre Pupillen.
Er hatte keinen tastbaren Carotispuls mehr. Er hatte einen Atemstillstand. Das EKG, das wir abgeleitet haben, hat eine Asystolie gezeigt. Beim Öffnen der Kleidung haben wir gesehen, er hat einen künstlichen Ausgang als Hinweis für eine bösartige Erkrankung. Er war 82 Jahre alt, Krebs wahrscheinlich.
Dann hat die Tochter noch gesagt: Ja, sie hat uns erst so spät geholt, weil ihr Vater, als er noch mit ihr sprechen konnte, wollte nicht, daß der Notarzt kommt. Er will nicht an Maschinen angeschlossen werden.
Und das alles zusammen — der Zustand des Patienten, die weiten, schon entrundeten Pupillen als Zeichen für eine schon eingetretene zerebrale Störung, also Schädigung des Gehirns, das Alter des Patienten, die bösartige Grunderkrankung, der glaubhaft weitergegebene Wille des Patienten — hat dann mich veranlasst, in dieser Situation keine erweiterten Reanimations-Maßnahmen einzuleiten, sondern den Willen des Patienten zu respektieren und den Tod, der schon eingetreten war, als finanles Ereignis zu akzeptieren.
Die letzten Worte, die der Vater zu der Tochter gesagt hat: “Jetzt ist alles zu Ende”.
Damit bin ich auch sehr zufrieden dass das so war. Ich denke, dass der Mann genau so gestorben ist, wie er sich das gewünscht hat. Er war kurz vorher noch in seinem Garten und ist dann in den Armen seiner Tochter gestorben.
Dr. Fehrenbach Das ist ein ganz schwieriges Thema. Rein rechtlich gesehen handeln wir im mutmaßlichen Willen des Patienten, und dieser mutmaßliche Wille, wenn wir den nicht weiter erforschen können, ist immer die Lebenserhaltung.
Ein Hippokrates – der hatte es relativ einfach. Der konnte jemandem ins Gesicht schauen, und wenn der eine “facies hypocratica” hatte – also man sieht jemandem an, wenn er einen Schockzustand hat, das sieht man schon am Gesicht, das ist dieser Gesichtsausdruck, wenn jemand kurz vor dem Sterben liegt –, da hat der Hippokrates gesagt, vor 2500 Jahren: “Von denen lasst die Finger, an denen hat ein Arzt nix mehr verloren”. Und das sind gerade heute unsere Patienten.
Da ist unsere Gesellschaft schwer auf den Hund gekommen. Wie gehen wir mit Sterbenden um? Wir müssen alle lange Zeit am Leben erhalten. Da ist die Menschheit mit sich selber sehr grausam geworden!
Dr. Rathjen Also wenn ich wirklich heute nochmal die Wahl hätte, und ich möchte Menschen helfen, dann würd ich nicht unbedingt Medizin machen. Dieser Aspekt der sozialen Hilfe bleibt einfach zu sehr auf der Strecke.
Autor Was würden Sie dann lieber machen?
Dr. Rathjen Ja – dann würd ich eher sozialpädagogisch tätig werden. Erwachsenenbildung oder Jugendarbeit, Jugendzentrum … Man fragt: Hast Du Schmerzen? Ja — wo? O. k. -– kriegst hier was. So ungefähr.
Und dann ist man schon im Krankenhaus, und alles ist vorbei.
Aber selbst wenn ich wollte, könnt’ ich kaum … Ich hab viel zu sehr mit logistischen Sachen zu tun. Dokumentieren, aufschreiben, in den Computer eingeben, abheften, Leichenschauschein ausfüllen nimmt fast mehr Zeit in Anspruch, als sich um die Leiche zu kümmern!
Das ist so schlimm inzwischen, dass, wenn ich jetzt einen Patienten im Einsatz habe, der mich irgendwie sehr beschäftigt — dass ich nach einer Woche den Menschen, wenn ich ihn auf der Straße begegnen würde, wahrscheinlich nicht wiedererkennen würde…
(…)
Sprecher 1.20 Uhr.
WEBEREI / IM BÜRO DES PRODUKTIONSLEITERS
Verletzter …Ich hab Schmerzen ohne Ende … Scheiße ! Mann — Mann — Mann — Mann — Mann — So’n Scheiß!
Notarzt (Dr. Keul) Sie kriegen sofort was!
Sprecher Nachtschichtin der größten Weberei der Stadt — der Saal für schusssichere Westen. Ein unzerreißbarer Faden hat seine Hand in das Webblatt gezogen und zweieinhalb Finger amputiert.
Verletzter Scheiße, Mann ! Da kann man net ruhig bleiben ! Meine Hand ist im Arsch ! Total im Arsch ! Scheiße !!! … Daß ich die Hand net mehr hab ! … Bin ich blöd, wie die Nacht ! Mann — Mann — Mann — Mann — Mann !! Nein — nein — nein ! Das gibt’s doch net ! Das ist doch ’n Film — oder ? Das ist ’n Film, das ist net wahr !! ’n scheiß Film!
Sprecher Auch der Assistent schluckt heftig. Steckt die abgetrennten Finger in den doppelwandigen Transportbeutel — innen trocken, außen Eiswasser.
Der Werkmeister muß rausgehen, kippt sonst um.
TÜR GEHT AUF / GERÄUSCHE DES WEBEREI-SAALS
Arbeiskollege Bleib’ liegen ! Bleib’ liegen ! Er muss doch liegen bleiben!
Sprecher Allmählich wirkt das Schmerzmittel, der Mann wird ruhiger.
Er schläft.
Auch der Notarzt wird sich eine Weile hinlegen. Er ist seit 8 Uhr morgens auf den Beinen. Im Rettungszentrum hat er Spind und Bett. Und den Alarmpieper daneben.
(…)
KRANKENZIMMER
Krankenhaus “Hohe Warte” in Bayreuth. In einem Vierbettzimmer, Fensterplatz, liegt der 26jährige Motorradfahrer, der auf einer Landstraße bei Fulda fast gestorben wäre. Damals – vor neun Monaten.
Patient Ja, ich hab’s überstanden — den Ärzten sei Dank!
Sprecher Der Stationsarzt.
Dr. Iven Die Diagnose ist: Inkomplette Querschnittslähmung unterhalb ungefähr C5 bei Zustand nach Mylon-Einblutung in Halsmark und zusätzlich ein Zustand nach Beinamputation links — Oberschenkelamputation — bei nicht zu beherrschender Weichteilverletzung. Wobei er das eine Bein, das ihm bleibt, gar nicht mehr bewegen kann. Die Hände sind halbgelähmt. Zusätzliche Behinderung ist ein künstlicher Darmausgang, ein künstlicher Blasenausgang im Sinne einer Urinableitung durch die Bauchdecke…
Ziel ist, dass er das Fahren im Rollstuhl so beherrscht, daß er sich mit seinen teilgelähmten Armen und Händen selbst im Rollstuhl fortbewegen kann.
Patient Ein bißchen ist wieder gekommen … Angefangen hat’s am 12. Dezember – da hat der kleine Finger angefangen, sich zu bewegen. Da hatt’ meine Mutter Geburtstag an dem Tag…
Mittlerweile sind ’s sieben Finger, die ich wieder ’n bissel bewegen kann.
Ich hoff’, daß wenigstens die rechte Hand noch besser wird.
Also, irgend ein Ziel war eigentlich immer da.
Autor Wie würden Sie das jetzt beschreiben, das Ziel ?
Patient Ja – das weitere Leben nach der Reha …
Ja – das Leben eben …
KULISSE WEG
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