Der Kunstkopf-Mann

Letz­te Rei­se des Töne­fän­gers Mat­thi­as von Spall­art nach Ama­zo­ni­en.


Herbst 1980. In Basel packt ein Mann behut­sam das Nagra-IV-Auf­nah­me­ge­rät mit den blit­zen­den Knöp­fen und Schal­tern und 120 Spu­len Magnet­band rei­se­fer­tig zusam­men, dazu ein Paar der gera­de erst erfun­de­nen Dum­my Head Mikro­pho­ne für Kunst­kopf-Auf­nah­men, die – in den eige­nen Ohren getra­gen – den Klang so räum­lich wie­der­ge­ben sol­len, wie kei­ne ande­re Tech­nik zuvor… 

NDR Kul­tur / DLF 2018 –– Erzäh­ler: Tom Vogt –– Dau­er: 54:26 (NDR) / 49:30 (DLF) –– Pro­duk­ti­on: 11. bis 15. Sep­tem­ber 2017 im NDR-Stu­dio –– Erst­aus­strah­lung: Am Welt­tag des Radi­os 2018 (13. Febru­ar) –– Öffent­li­che Vor­füh­run­gen: „Lan­ge Nacht der Kunst und Musik“ (Kunst­hal­le Pfaf­fen­ho­fen a. d. Ilm 2018), Bre­mer Hör­ki­no (2019) –– Wan­der­aus­stel­lung „Radio­pho­nic Spaces“ (Basel, Ber­lin, Wei­mar 2018/19).
 

Mat­thi­as von Spall­art, etwa 1971


AUS DEM MANUSKRIPT:

ZWEI GITARREN-AKKORDEKETTENSÄGEN / STÜRZENDER BAUMRIESE
(aus dem nach Spall­arts Tod fer­tig­ge­stell­ten Hör­stück „Bra­sil“, 1982)

DARAUF:


Ansa­ge 

ZWEITER und DRITTER BAUMRIESE FÄLLT / AKUSTIK ZÜGIG WEG

Erzäh­ler  Es war … gegen Ende der Magnet­band­zeit. Das ana­lo­ge Zeit­al­ter klang aus und wech­sel­te zum digi­ta­len – ein glei­ten­der Über­gang. Wie eine lan­ge und kaum wahr­nehm­ba­re Blende. 

Ein Radio­stück blieb mir im Gedächt­nis – „Bra­sil“. Halb Fea­ture, halb Hör­spiel, zum ers­ten Mal gesen­det 1982. Autor: Mat­thi­as von Spallart. 

Ich hat­te ihn nie gese­hen, sei­ne Stim­me nie gehört. Kein Foto. Kein Video. 
Das Inter­net kam erst Jah­re später.

Ich kann­te sei­ne Sto­ry nur vom bit­te­ren Ende her. 35 Jah­re hab ich sie mit mir her­um­ge­tra­gen. Bis ich Die­sen da begeg­ne­te. Radio­men­schen wie er.

STIMMEN:

 –– Die Bil­der sind alle da. Man sieht ihn, man spürt ihn auch noch.

 ––  Er hat sich ger­ne in gepfleg­ten Bars bewegt. Er hat gern gute  Zigar­ren geraucht.

––  Man hat einen Kamel­haar­man­tel, den man nach­läs­sig über die erst­bes­te Stuhl­leh­ne wirft… (GELÄCHTER). 

  –– Er war ein her­vor­ra­gen­der Koch.

–– „Wart’, ich muss noch den Fond fer­tig machen!“ Und dann stand er an einem alten Koch­herd und hat Sachen „redu­ziert“… Hat ein­ge­kocht, bis nur eine brau­ne dicke Soße war, die ganz wun­der­bar geschmeckt hat. Ich stand vis-à-vis und hab nur gestaunt und dach­te: Dies Freu­di­ge, an die­ser Soße zu arbei­ten – wie er im Stu­dio an sei­nen Stü­cken gear­bei­tet hat.

 –– Die Nuan­cen waren wich­tig. Auch sei­ne Hand­be­we­gun­gen, wenn er dar­über gespro­chen hat, wie er ein Huhn in Salz zube­rei­tet. Das hat­te eine ähn­li­che Ges­tik, wie ein Fade-out oder wie ein dra­ma­ti­scher Bogen zu sein hat.

–– Er hat nicht Rös­ti und Leber­li gemacht … (GELÄCHTER). 

–– Ich  glau­be eben, dass der Mat­thi­as nicht auf der Erde stand, son­dern der war in der Luft. Ab und zu wirk­lich nicht ganz auf dem Boden. 

–– Er war irgend­wo ein Traum­tän­zer, aber ein groß­ar­ti­ger Regis­seur und Schau­spie­ler. Und er hat den Schau­spie­lern immer vor­ge­spielt, wie die Rol­le eigent­lich ange­legt sein müsste.

PASSAGE AUS DER ARBEIT AN EINER RADIOFASSUNG VON GEORG BÜCHNERSDANTONS TODMIT v. SPALLART ALS REGISSEUR UND DEM SCHAUSPIELER WOLFGANG REICHMANN IN DER ROLLE DES ST. JUST 

(1981 KURZ VOR SPALLARTS TOD MITGESCHNITTEN)
 

SPALLART / REICHMANN IN RASCHEM WECHSEL:  Was ist das Resul­tat? ––– Was ist das Resul­tat? ––– Mei­ne Damen und Her­ren: Was ist das Resul­tat? ––– 

Rhe­to­ri­sche Fra­ge: Was ist das Resul­tat? Ja? ––– Ja! ––– 

(MIT GRÖSSEREM DRUCK) Was ist das Resul­tat? ––– Was ist das Resul­tat? Sagen Sie ’s mir, Mon­sieur Le Ger­gues: Was ist das Resultat??


Erzäh­ler  Die von Spall­arts: Eine Künst­ler­fa­mi­lie – Maler, Musi­ker, Büh­nen­bild­ner, Schau­spie­ler seit dem frü­hen 19. Jahrhundert. 

Die Eltern von Mat­thi­as ste­hen bis zum Kriegs­jahr 1944 auf der Büh­ne in Ber­lin. Dann wird der Vater zwangs­ver­pflich­tet. 

O‑Ton Marei­le Grie­der  Der soll­te Nazi­pro­pa­gan­da mit­ma­chen, und das woll­te er nicht.

Erzäh­ler Marei­le, Spall­arts Halbschwester. 

O‑Ton Grie­der  Am 6. Dezem­ber 1944 sind wir über die Gren­ze in Rie­hen bei Basel in die Schweiz geflo­hen. Mat­thi­as war da ein Baby und ich drei Jah­re alt.

Erzäh­ler  Mile­na von Eckardt, die Mut­ter, wird schnell zum Lieb­ling des Bas­ler Publi­kums. Zwei Jah­re nach der Flucht spielt sie wie­der Haupt­rol­len, etwa die „Jüdi­sche Frau“ in Brechts „Furcht und Elend des Drit­ten Reiches“.

Wenn der berühm­te Fritz Kort­ner zu Spall­arts ein­ge­la­den ist, muss der Sohn jedes Mal „den Hahn machen“. Er kann so ent­zü­ckend krähen! 

Auch der Flücht­lings­jun­ge wird Schau­spie­ler. Und spä­ter Hörspielregisseur. 

STIMMEN:

–– Mat­thi­as von Spall­art kam mir vom ers­ten Ken­nen­ler­nen an eigent­lich vor wie eine Figur aus dem Neun­zehn­ten Jahr­hun­dert. Mög­li­cher­wei­se hing das zusam­men mit der aris­to­kra­ti­schen Her­kunft sei­nes Vaters und auch sei­ner Mut­ter. Er schien mir wie kopf­schüt­telnd in die Welt zu bli­cken. Ein selt­sa­mes Erstau­nen: „Ist denn das über­haupt möglich?“

––  Es hieß mal, er wür­de unter dem Ruhm sei­ner Eltern lei­den – weil die so bekannt waren. Ob das nun stimmt ?

––  Kann schon sein! Zwei so star­ke Figu­ren: Der stren­ge Vater und die Mut­ter, die ihn ver­göt­tert hat. 

––  Unter so einem Vater hät­te ich gelitten.

 –– Mat­thi­as ist irgend­wo an sei­nen eige­nen Ansprü­chen zer­bro­chen, geschei­tert … Dass er dann irgend­wann sein Berg­seil in sei­nen Citro­en gepackt hat und los­ge­fah­ren ist…

–– Macht der ’ne erfolg­rei­che Sache und hängt sich uff!

GESCHÄFTIGES UMHERGEHEN / EINPACK-GERÄUSCHE: DRUCKKNÖPFE, REISSVERSCHLÜSSE, SCHNALLEN, SCHACHTELN, BÜCHSEN 
DARAUF:

Erzäh­ler Okto­ber 1980. Mathi­as von Spall­art ist jetzt 36 Jah­re alt. 

An die­sem Herbst­tag packt er sei­nen Ruck­sack, den Kof­fer und eine Metall­kis­te – 120 Spu­len Ton­band sind dar­in. Auch Bat­te­rien. Er prüft die sil­ber­nen Reg­ler und Schal­ter des Auf­nah­me­ge­räts. Und die Kopfmikrophone. 

Rei­se­ziel: Brasilien.

Von Spall­art hat Blut geleckt: Eine Land­schaft – ein Land–– drei­di­men­sio­nal –– im Radio! Und kei­ne Zei­le Text. 

Die neue Tech­nik macht es möglich. 

Eine Demo-Schall­plat­te:


DEMO

MANN Hal­lo Ivon­ne! … FRAU  I can see you … MANN  Ich bin unge­fähr 10 Meter von dem Ton­band­ge­rät ent­fernt … (KOMMT NÄHER) … Wie geht ’s Dir? Herz­lich will­kom­men, lie­be Freun­de der Kopfstereophonie !

DARAUF:

Erzäh­ler Die ers­te Kunst­kopf­sen­dung in deut­scher Spra­che liegt ein Jahr­zehnt zurück. Sie hieß „Demo­li­ti­on“ nach einem nord­ame­ri­ka­ni­schen Sci­ence-Fic­tion-Roman: „The Demo­lished Man“, etwa „Der dekon­stru­ier­te Mann“. Aber auch: „Der zer­stör­te Mann“. Das Hör­spiel war die Sen­sa­ti­on der Ber­li­ner Funk­aus­stel­lung 1973.

Was von Spall­art sie­ben Jah­re spä­ter in den Scha­len­kof­fer legt, ist nicht die Urform jenes„Dummy Head“ aus Hart­gum­mi; nicht die­se gru­se­li­ge Nach­bil­dung eines mensch­li­chen Kop­fes mit Kunst­oh­ren und her­aus­hän­gen­den Kabelenden. 

Es gibt eine Rei­se­ver­si­on, gera­de erst erfun­den. Sie heißt MKE 2002. Die bei­den Mikro­pho­ne trägt man dort, wo unse­re eige­nen Mikros wach­sen: Ohr­mu­schel und Trommelfell. 

So wird der Trä­ger selbst ein Kunst­kopf-Mensch. 

DEMO HOCH  

Mei­ne Weih­nachts­kar­te 2017 mit Senn­hei­ser MKE 2002

MANN Ich ste­he halb links, Sie rechts … Ich bin jetzt nur noch unge­fähr 10 Zen­ti­me­ter von Ihrer Kopf­haut ent­fernt … Und nun kom­me ich noch näher … noch näher … an Ihr lin­kes Ohr her­an. Und anschlie­ßend … eben­so nah an Ihr rech­tes Ohr …

ÜBERGEHEND IN FLUGHAFEN-ATMO. DARAUF:

Erzäh­ler  Als er sich in Genf zum Flug nach Rio de Janei­ro von sei­ner Freun­din Chris­ti­ne ver­ab­schie­det, ist Spall­art bereit. Etwas wird gesche­hen. Eine media­le Pio­nier­tat. Paukenschlag. 

Er hat die Stel­le im Sen­der gekün­digt. Er hat ein Tes­ta­ment gemacht.

Alles auf Anfang! 

DIE FLUGZEUGGERÄUSCHE VERKLINGEN 

O‑Ton Chris­toph Bug­gert Ich hab in Erin­ne­rung, dass da jemand bei uns in der Redak­ti­on auf­tauch­te und dem man anmerk­te: Der for­dert sich etwas ab. Gab die­sem Pro­jekt in sei­nem Leben eine ganz gro­ße Bedeu­tung. Und die­ser her­aus­for­dern­de Aspekt hat uns interessiert.

Erzäh­ler Chris­toph Bug­gert, der feder­füh­ren­de Pro­gramm­ma­cher in Frank­furt am Main. Funk­an­stal­ten in vier Län­dern unter­stüt­zen Spall­arts Abenteuer.

O‑Ton Bug­gert Man muss träu­men dür­fen … Es ging um eine gro­ße exis­ten­ti­el­le Bewäh­rung. Und das sind Vor­aus­set­zun­gen, wo was ganz Gro­ßes ent­ste­hen kann. Wo auch Schei­tern mög­lich ist. Aber wir haben schon die­ses Risi­ko, das er per­sön­lich ein­zu­ge­hen bereit war, bru­tal ausgenutzt.

Erzäh­ler Natür­lich gab es auch ein Exposé: 

Als roter Faden dient das akus­ti­sche Ein­drin­gen in einen frem­den Kon­ti­nent 
von den Rän­dern her durch ver­schie­de­ne Zwi­schen­zo­nen bis ins mythi­sche Herz die­ses Erd­teils. Am Ende die Ent­de­ckung von Indus­trie­an­la­gen inmit­ten einer noch urwelt­lich zuge­schnit­te­nen Natur“.


O‑Ton Bug­gert  Man merk­te ihm von Anfang an an: Jun­ge, das ist ein gigan­ti­sches Pro­jekt. Also hof­fent­lich über­for­derst Du Dich nicht sel­ber! Wir schaf­fen die Vor­aus­set­zun­gen – Rei­se­kos­ten, tech­ni­sche Aus­rüs­tung und so wei­ter. Aber dann hing alles an ihm.


ANFANGSSZENE VONBRASIL“ > IM FAHRENDEN BUS 

DARAUF:

Erzäh­ler  Bra­si­li­en. Okto­ber 1980. Von Spall­art notiert:

Die Tran­sama­zo­ni­ca: ein Staub­tun­nel im Urwald. Der Bus über­füllt. Dun­kel­häu­ti­ge Män­ner mit Flin­ten und Lei­nen­sä­cken. Tag und Nacht auf die­ser Straße…“

Ich stel­le mir vor: 

Der Mann mit dem South Ame­ri­can Hand­book im Kof­fer – geist­rei­cher Träu­mer, Hob­by-Koch – der Joy­ce- und Her­man-Mel­ville- und Joseph-Con­rad-Ken­ner  – sen­si­bler Hör­spiel­re­gis­seur, sitzt schwit­zend, unge­wa­schen, ein­ge­klemmt zwi­schen Män­nern, die seit Tagen unter­wegs sind. Arme Teu­fel, Aben­teu­rer aus Not. Er lässt kein Auge von der Kis­te mit den Kunstkopf-Mikrophonen. 

Nur ein Wort ver­steht er: Mara­bá. Das ist der Sam­mel­punkt einer Elends-Pro­zes­si­on zu den Damm­bau­ten im Eisen­erz­ge­biet Gran­de Cara­jás. Oder zur Höl­le der Sier­ra Pel­la­da. Dort, im Mala­ria-Fie­ber, wüh­len Hun­dert­tau­sen­de nach Gold. 

Die Ande­ren schließ­lich wer­den wei­ter­rei­sen zum Jarí, einem von hun­der­ten Neben­flüs­sen des Ama­zo­nas, mäch­ti­ger als Rhein und Donau. 

Am Jarí liegt der Pri­vat­be­sitz des Dani­el Keith Lud­wig, Mul­ti­mil­lio­när aus Nord­ame­ri­ka. Die Par­zel­le, groß wie Bel­gi­en, hat der rei­che Mann gekauft – 16 000 Qua­drat­ki­lo­me­ter … Wald.

SZENE AUSBRASIL“: REGENWALD-RODUNGMOTORSÄGEN, FALLENDE BÄUME, WALKIE-TALKIES. DARAUF:


Inmit­ten der Rodung die Haupt­stadt: „Mon­te Dou­ra­do“ – „Gold­berg“.
 
Alles Made in USA: Häu­ser, Maschi­nen, Super­markt, Was­ser­tür­me, sogar die Feu­er­hy­dran­ten und Brief­käs­ten. Und die Pri­vat­po­li­zei. Mitt­le­rer Wes­ten am Amazonas.

Drei­ßig­tau­send Einwohner. 

In wei­tem Umkreis ließ der Unter­neh­mer mit dem deut­schen Namen Euka­lyp­tus­bäu­me pflan­zen: schnell wach­sen­des Holz als Roh­stoff. Aus Japan kam eine Papier­fa­brik samt Kraft­werk. Die schwamm schlüs­sel­fer­tig hin­ter einem Schlepp­schiff 25 000 Kilo­me­ter um den Globus. 

VERKLINGENDE RODUNGSGERÄUSCHEWEG

Doch … als Spall­art an sein Ziel kommt, steht die Pro­duk­ti­on schon wie­der still. Nach drei Euka­lyp­tus-Ern­ten ist der Urwald­bo­den aus­ge­laugt, ver­kars­tet. Schäd­lin­ge erle­di­gen die letz­ten Bäu­me !

O‑Ton Aldo Gar­di­ni  Er woll­te eigent­lich den Herrn Lud­wig tref­fen. Und mit dem Mann woll­te er reden.

Erzäh­ler Ihn herausfordern.

O‑Ton Gar­di­ni  Das war eigent­lich die Idee: Ein poli­tisch enga­gier­tes Stück zu machen. 


O‑Ton Gar­di­ni
  Und am Schluss war ’s ganz was anderes.

Erzäh­ler Vier Sen­der in Euro­pa war­ten auf das gro­ße Ding. Den Scoop, „Zivi­li­sa­ti­ons­schock“: Hier die Indi­os-wie-Gott-sie-schuf – dort der blass­häu­ti­ge Böse­wicht mit Namen und Adresse. 

Einer hat das alles vor­ge­macht: Hen­ry Ford, 40 Jah­re frü­her. Auch in Ama­zo­ni­en. Der Auto­kö­nig brauch­te Latex für die Rei­fen­pro­duk­ti­on, und der Roh­stoff quoll aus zwei­ein­halb Mil­lio­nen Mor­gen Kau­tschuk­wald am Tapa­jós. Doch „Ford­lan­dia“ war ein Ver­lust­ge­schäft. Nach 25 Jah­ren zogen die Yan­kees wei­ter. Tei­le der Rui­nen­stadt sind heu­te noch zu sehen. 

O‑Ton Bug­gert  Das war die Zeit des begin­nen­den poli­tisch-öko­lo­gi­schen Kamp­fes – Club of Rome und alles, was damals die poli­ti­sche Sze­ne beweg­te. Und es war auch eine gewis­se bio­gra­phisch und per­sön­lich gepräg­te Empö­rung eines empör­ten Euro­pä­ers mit einer qua­si ange­le­se­nen Empö­rung. Und da hat er uns auf einer Kar­te gezeigt: Ich gehe gra­de­wegs auf einer rich­tig mit dem Line­al gezo­ge­nen Linie durch den bra­si­lia­ni­schen Urwald. Und am Ende sto­ße ich auf den Ein­bruch des moder­nen Indus­trie­zeit­al­ters. Und da wer­de ich mich damit auseinandersetzen. 

Erzäh­ler  Doch Mis­ter Gold­fin­ger, den der Rei­sen­de aus der klei­nen, fer­nen Schweiz zur Rede stel­len will, ist nicht zu Hau­se. Er lebt 83jährig abge­schirmt in New York City und betä­tigt sich als Kunstmäzen. 

O‑Ton Gar­di­ni  Völ­lig unmög­lich, an die­sen Men­schen her­an­zu­kom­men. Völ­lig unmöglich.

Erzäh­ler  Den dum­men Feh­ler in Bra­si­li­en hat der Land­käu­fer längst abge­schrie­ben. Eine Mil­li­ar­de Dol­lar Ver­lust. Den Bra­si­lia­nern wird er die ver­ros­te­te Papier­fa­brik, die Häu­ser und die Was­ser­tür­me und die nagel­neue Eisen­bahn am Ende … “schen­ken”. Auch das rui­nier­te Grundstück.

Und von Spall­art? War er ange­mel­det? Hat man ihm ein Inter­view ver­wehrt? Woll­te nie­mand mit ihm reden? Das Stück Radio, das von all­dem übrig blei­ben wird, gibt kei­ne Auskunft. 


ZWEI GITARREN-AKKORDE >< SZENE AUSBRASILMIT RUDERGERÄUSCHEN UND STIMMEN 

DARAUF:

Erzäh­ler  End­lich, nach Wochen und im letz­ten Augen­blick, der Bescheid aus Bra­si­lia: Die India­ner­be­hör­de FUNAI geneh­migt Ton­auf­nah­men im Ipitinga-Reservat.

A Fun­da­ção Nacio­nal do Índio dient dem “Schutz unkon­tak­tier­ter Völ­ker vor Eindringlingen“. 

Als Bericht­erstat­ter muss man lan­ge warten.



Rei­se­no­ti­zen:

Auf der Suche nach den Bewoh­nern des Urwalds. Im Boot sind außer mir der Boots­mann und eini­ge Jäger.”

INDIO-SIEDLUNG > ANNÄHERUNG UND ERSTER KONTAKT

Nach sechs Stun­den errei­chen wir eine Insel, mit­ten im Fluss gele­gen. Sie wird von einem India­ner und sei­nen drei Kin­dern bewohnt. Auf dem höchs­ten Punkt der Insel ste­hen sei­ne bei­den stroh­ge­deck­ten Bam­bus­hüt­ten. Die Jäger sind unten am Fluss geblieben.

Eigent­lich soll­te hier ein Dorf ste­hen, aber die India­ner sind vor eini­gen Wochen in ein ande­res Reser­vat umge­sie­delt wor­den. Nur er, Sohn eines Häupt­lings, woll­te sei­ne Hei­mat nicht ver­las­sen.

Er ist scheu und mei­det mei­nen Blick. Füh­le mich gehemmt“.

Vier Taschen­mes­ser als Gastgeschenk. 

Ich stel­le mir vor: 


Von Spall­art mit den Kunst­kopf-Ohren und dem umge­schnall­ten Band­ge­rät – befan­gen wie der Indio vor ihm, dem man aus der Haupt­stadt wie­der einen stum­men Gast geschickt hat.

INDIO SPRICHT MIT SEINER TOCHTER 

DARAUF:


Erzäh­ler Der Kunst­kopf-Mann steu­ert behut­sam die Auf­nah­me aus. Ach­tet auf jede Bewe­gung. Die Mikro­pho­ne in den Ohren sind emp­find­lich gegen „Kör­per­schall“. Selbst eige­ne Schluck­ge­räu­sche muss er unter­drü­cken. Hier ent­ste­hen die schöns­ten Auf­nah­men der Reise.

DIE STIMMEN LANGE FREI STEHEN LASSEN


In der Hüt­te sitzt der India­ner und erzählt. Die Kin­der schau­keln sacht in ihren Hän­ge­mat­ten. Sie legen ihren Kopf auf den Rand, las­sen ein Bein heraushängen“.

So spar­sam müss­te mein Erzähl­text sein“, schreibt von Spall­art an den Rand der spär­li­chen Noti­zen. „Kein Wort zu viel“. Er streicht die letz­te Zei­le durch. „Am bes­ten gar kein Text. Mein Hör­stück muss klin­gen – nicht schwatzen“. 


WIEDERHOLTE TÖNE EINER KNOCHENFLÖTE

KULISSE WEG
 

O‑Ton Salm­o­ny  Durch all die­se wil­den und aben­teu­er­li­chen Zonen hin­durch ist er da vor­ge­drun­gen in die­se zar­te Kommunikation. 

O‑Ton Gar­di­ni  So etwas nimmt man nur ein­mal im Leben auf. Ich hab’ Jah­re spä­ter mal eine Sen­dung gemacht in einem Berg­ge­biet in der Schweiz. Und da war ich in einem Stall, und da hat der Bau­er mit sei­nem Enkel gespro­chen. Und als ich das geschnit­ten habe, dach­te ich: Der spricht genau wie der India­ner am Amazonas…


O‑Ton Sass  Ach!


O‑TonGardini Ohne jeden Druck, ganz fein. Mit ganz wenig Stim­me. Ganz entspannt. 


O‑TonSass Das ist schön!


O‑TonGar­di­ni  Kri­ti­ker spä­ter haben immer gesagt: War­um wird die­ser India­ner nicht beim Namen benannt, son­dern ein­fach: „Der India­ner“? Und nie­mand ist auf die Idee gekom­men, dass die sich gar nicht ver­stän­di­gen konn­ten. Mat­thi­as wuss­te gar nicht, wie der heißt. Der wur­de da hin gebracht, abge­la­den, die sind weg­ge­gan­gen und haben ihn am ande­ren Tag wie­der geholt … Hat ein­fach zugehört. 


AUSBRASIL“ > DER RITT
  
DARAUF:

O‑Ton Gar­di­ni Er hat vie­le gute Auf­nah­men mit­ge­bracht … Das Rei­ten in den Wald, wo der Sat­tel knarrt, und in der Fer­ne hört man Affen schrei­en. Ich kann minu­ten­lang zuhören! 


O‑TonBuggert  Sol­che Geräusch­pan­ora­men gibt es in der Radio­ge­schich­te nicht vie­le. Das war damals sen­sa­tio­nell, weil wir Kunst­kopf-Auf­nah­men, drei­di­men­sio­na­le authen­ti­sche Ton­auf­nah­men aus die­ser Welt, noch nicht kannten. 

O‑Ton Baum­gart­ner  Da hast du wirk­lich das Gefühl, du bist mit­ten im Urwald. Und du hörst rings­rum alles – von vor­ne, von hin­ten, von links, von rechts…

O‑Ton Bug­gert  Wir gin­gen ja damals davon aus: Das wird über­haupt die Zukunft sein! 


KULISSE ETWAS STEHEN LASSEN / DANN WEG

Erzäh­ler Andern­tags. Nach den stum­men Zwie­ge­sprä­chen mit dem Indio ohne Namen, steigt der Töne­fän­ger wie­der in das Kanu der FUNAI. Wie verabredet. 


Der Cul­tu­re Clash – hier die Urein­woh­ner, dort der Aus­beu­ter des Regen­walds – hat vor dem Mikro­phon nicht statt­ge­fun­den. Plan und Wirk­lich­keit wol­len nicht zusam­men­pas­sen. Die Wirk­lich­keit sagt „Nein“.


GLEICHMÄSSIGE SCHRITTE IM DSCHUNGEL LANGSAM EINBLENDEN


Von Spall­art drif­tet ab. 

Ich den­ke: Der Rock des Repor­ters war ihm zu eng. Was hät­te ein Mis­ter Lud­wig zu sagen gehabt ? „Sor­ry – tut mir leid“?

Spall­art ist Künst­ler. Die Din­ge spre­chen zu ihm. Ket­ten­sä­gen, gemar­ter­te Bäu­me. Und der noch unbe­rühr­te Wald.


SCHRITTE / NATURSTIMMEN

Erzäh­ler  Nun ist er frei, umspült von Sound. Ist nur noch Ohren­mensch – wehr­los in der gro­ßen ama­zo­ni­schen Umarmung. 

Noch nie so etwas erlebt ––– Wie vor dem Sün­den­fall“, schreibt Spall­art auf.

Licht­jah­re ent­fernt: Euro­pa – und das Funk­haus – und der Stu­dio-Beleg­plan Woche 43 – und das Grab der Mut­ter (neun Jah­re ist sie tot – an Krebs gestorben). 

Kaum noch erkenn­bar: Der Schat­ten des Vaters.

DIE KULISSE WIRD UNTER DEM LETZTEN SATZ DES ERZÄHLERS ZÜGIG AUSGEBLENDET 

Erzäh­ler  Johan­nes von Spall­art. 80 Jah­re ist er alt. Seit 60 Jah­ren Schau­spie­ler. Ein ultras­t­ren­ger Christ mit Sym­pa­thien für die radi­ka­le Bru­der­schaft der Rosenkreuzer.


O‑TonGrie­der  Er war so ein aske­ti­scher Typ.

Erzäh­ler  Sagt die Schwes­ter. Die Ehe der Eltern ging in den Fünf­zi­ger Jah­ren zu Bruch.

O‑Ton Grie­der  Unse­re Mut­ter war eine Voll­blut­schau­spie­le­rin, eine Lebens­kämp­fe­rin. Sie muss­te sich von ganz unten wie­der hoch­ar­bei­ten. Aber sie war über­for­dert mit uns Kin­dern. Sie hat mich ins Inter­nat ver­frach­tet mit Fünf­zehn. Und Man­ti dann auch nach Sar­nen zu den Bene­dik­ti­nern. Er war nicht glück­lich da.


Erzäh­ler Der 12jährige Mat­thi­as, genannt „Man­ti“, schreibt dem fer­nen Vater aus dem Knabeninternat. 

O‑Ton Grie­der  Da sind Brie­fe von Man­ti, als Kind, wo man sieht, dass er es sei­nen Eltern mög­lichst recht machen woll­te. Da muss­te ich wirk­lich fast wei­nen, wie ich das gele­sen hab! Mir ist der Ein­druck geblie­ben, dass er sehr unter Druck stand unter sei­nen Eltern … Ja … (SIE SEUFZT)


Erzäh­ler Vie­le Brie­fe schreibt der Sohn. Und bekommt zu Weih­nach­ten nur eine Autogrammpostkarte. 

Spä­ter, als Regis­seur, hat er sei­nen Vater sel­ten enga­giert – zuletzt als Beicht­va­ter in einer Sze­ne von James Joy­ce.

Nur eine klei­ne Radiorolle.

AUSSTEPHEN DAEDALUS“, HÖRSPIEL, DRS 1976  
FUNKBEARBEITUNG UND REGIE: MATTHIAS VON SPALLART

PRIESTER (JOHANNES VON SPALLART)  Sonst noch etwas, mein Kind ?

STEPHEN DAEDALUS Ich war nei­disch gegen ande­re, eitel, ungehorsam.

PRIESTER  Sonst noch etwas, mein Kind ?

STEPHEN DAEDALUS Ich habe die Sün­de der Unkeusch­heit began­gen, Vater.

PRIESTER  An dir selbst, mein Kind ?

STEPHEN DAEDALUS Und mit anderen.

PRIESTER  Mit Frau­en, mein Kind ?

STEPHEN DAEDALUS Ja, Vater.

PRIESTER  Wie alt bist du ?

STEPHEN DAEDALUS Sech­zehn, Vater.

PRIESTER  Du bist sehr jung, mein Kind! Ich fle­he dich an: Lass ab von die­ser Sün­de! Es ist eine schreck­li­che Sün­de! Sie tötet den Kör­per. Sie tötet die See­le… Lass ab davon. Um Got­tes Wil­len …

DER HÖRSPIEL-TON WIRD VON DER REGENWALD-KULISSE ABGELÖST / DARAUF:



Erzäh­ler  Der Töne­fän­ger jetzt allein mit sei­ner Aus­rüs­tung. Ein kah­les Zim­mer in der Urwald-Lodge. Für Hän­ge­mat­te und Mos­ki­to­netz und für die Klei­der ein paar Haken. 

Ein­zel­hei­ten hat er spä­ter kaum erzählt.

Ich sehe ihn im Halb­dun­kel des Regen­walds: Mit sei­nen Kunst­kopf-Ohren sam­melt er: Vogel­schreie  –  Zika­den, Mos­ki­tos – Gewit­ter und lei­sen Regen – ent­fern­te Stim­men und Arbeitsgeräusche. 

Es ruft von über­all: Hör zu ! Nimm auf ! Da musst Du hin! 

In den Man­gro­ven bis zum Bauch im Was­ser. Jagdfieber.

Hör’ nur – Kunstkopf-Mann!

WEITER AUF DER KULISSE:

O‑Ton Gar­di­ni  Ich hab’ ihm das nicht zuge­traut, die­ses Ste­reo-Nagra, was sehr schwer ist, acht Kilo, plus etwa 20, 30, 40 Spu­len Ton­bän­der immer mit­zu­tra­gen, und dann in den Urwald zu gehen, wo man von Mos­ki­tos umschwirrt wird. Er war zer­sto­chen von oben bis unten, durf­te sich aber nicht bewe­gen, um die Auf­nah­me nicht kaputt zu machen. Eine unglaub­li­che Strapaze! 


Erzäh­ler Wenn er Töne auf­nimmt, muss er starr sein wie ein Denk­mal. 
Sobald er den Kopf dreht, kreist der Urwald um ihn. Den Radio­hö­rern wür­de schwindelig.

O‑Ton Gar­di­ni   Und er hat sich nicht bewegt und hat sich ste­chen las­sen!  Und dann alle Vier­tel­stun­de das Band wech­seln! Da waren so Schräub­chen drauf, wo man die Spu­le befes­tigt. Und wenn man das ver­gisst oder es run­ter­fällt, im Urwald – dann ist Fei­er­abend – oder? Das fin­dest du nicht mehr im Laub. 

Erzäh­ler  Schweiß­trei­ben­de Luft … Der sei­fi­ge Glanz, der sich auf der Haut und auch auf den Gerä­ten zeigt … Sor­ge, dass die Ton­bän­der ver­der­ben … Band­sa­lat … Manch­mal kle­ben sie an sei­nen Händen.

Ein­mal täg­lich Sint­flut. Dann wickelt er die teue­ren Gerä­te in sein Regencape.

Die längs­te Zeit des Tages schweigt der Wald. 

Oft pirscht der Töne­fän­ger nachts.

Ich stel­le mir vor: 
 

Der Licht­ke­gel sei­ner Taschen­lam­pe streift die gelb­li­chen Pupil­len der Kai­ma­ne in den Sumpf­tüm­peln rings­um. Die Nacht so schwarz. Die Ster­ne rie­sig. Glüh­würm­chen wie Schneegestöber. 

Es atmet –– seufzt –– es schnarrt und schnarcht –– es stöhnt. 

Fische plat­schen irgendwo. 

Das „Mythi­sche Herz die­ses Erd­teils“. So steht es im Entwurf.

Es soll ange­strebt wer­den, die­se Welt in einem Hör­spiel zu ver­ge­gen­wär­ti­gen mit den spe­zi­fi­schen Mit­teln des Radi­os. In Geräu­schen also…“

Und nun … mittendrin!

Es zieht ihn in die Urwald-Lodge zurück, vol­ler Neu­gier. Drau­ßen in der Wild­nis ist der Kunst­kopf-Mann wie taub. Er kann nicht hören, was die bei­den Mikro­pho­ne in den Kunst­oh­ren, die er über sei­ne eige­nen stülpt, tat­säch­lich auf­neh­men. Die Tech­nik lauscht für ihn. Nur das Zucken eines Zei­gers zeigt die Strom­im­pul­se an, die als Töne auf den Ton­band­spu­len des Recor­ders landen. 

Von Spal­lert setzt sei­ne Kopf­hö­rer auf und schal­tet auf Playback.

EINSCHALTGERÄUSCH / DAS FROSCHKONZERT 

Fährt vor … 

VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE

Und noch ein Stück …

VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE 

Das Klang­bild, das er „live“ im Wald erlebt hat, klingt in sei­ner Auf­nah­me noch tie­fer, schär­fer, plas­ti­scher … Surround.

Eine Super-Tota­le, die ihn ein­saugt. Umschlingt. 

In der voll­stän­di­gen Dun­kel­heit des pri­mi­ti­ven Zim­mers pro­du­ziert sein Hirn­spei­cher beim Zuhö­ren Grä­ser, Tie­re, Urwald­rie­sen, Ein­ge­bo­re­ne auf alten Sti­chen … Bücher – Joseph Con­rad, Hum­boldt – was er so „im Kopf hat“. Erleb­tes und Erinnertes.

Der Töne­fän­ger hört nun sei­nen Urwald. Und das wer­den spä­ter auch die Radio­hö­rer so erle­ben. Und jeder anders!

Glück­lich schläft er ein.

FROSCHKONZERT UND ANDERE NATURGERÄUSCHE NOCH EINE WEILE STEHEN LASSEN UND WEG

Erzäh­ler  Natür­lich – es kann auch anders gewe­sen sein.

O‑Ton Heil­mann  Ich krieg das nicht zusam­men. Wir haben ihn immer abge­ho­ben in sei­ner Gedan­ken­welt erlebt.

O‑Ton Sass  Man kommt ja hin­ter das Geheim­nis eines Men­schen gar nicht. Das bleibt immer ein Rätsel.


Erzäh­ler  Die auf­be­wahr­ten Flug- und Schiffs- und Bus­ti­ckets zei­gen für die neun­te Rei­se­wo­che wie­der stär­ke­re Bewe­gung: Der Töne­fän­ger kreuz und quer im Amazonas-Delta.

ZWEI GITARREN-AKKORDE  > STADT-ATMO (BELÉM) ABRUPT HOCHZIEHEN
VERKEHR, REKLAME-LAUTSPRECHER, „INDIO“-SPEKTAKEL

DARAUF:

Erzäh­ler In der zehn­ten Woche kommt er in die gro­ße Stadt. Die Stadt erbebt von Wer­be­bot­schaf­ten. Fazen­dei­ros mit den breit­krem­pi­gen Hüten stel­len ihren Reich­tum aus. 

Auf der Ave­ni­da Pre­si­den­te Var­gas tanzt und trom­melt „Urbe­völ­ke­rung“. Stu­den­ten der Eth­no­lo­gie demons­trie­ren, Ara-Federn auf dem Kopf. 

SCENE AUSBRASIL“ (HOTELGARTEN)

Erzäh­ler  Außer­halb der Stadt das Luxus­ho­tel. Im Gar­ten ein Stück prä­pa­rier­ter Urwald. Tie­re in Käfi­gen: Pan­ther, Tapi­re, Woll­af­fen, Papageien. 

Er: plötz­lich Tou­rist unter Tou­ris­ten. Noch in Bra­si­li­en und schon wie­der in Europa.


FREMDENFÜHRER IM VORÜBERGEHEN ÜBER LATEX-GEWINNUNG (ITALIENISCH) / STIMMENGEWIRR


Das Indio­dorf ist Pflicht­pro­gramm. Wie auf Knopf­druck zapft der Gum­miz­ap­fer Gum­mi. Gräss­li­che Piran­has, luft­ge­trock­net – hun­dert­fach als Sou­ve­nir. Kriegs­tanz im 20-Minuten-Takt.

Abends ein klei­nes Lokal.

SZENE AUSBRASIL“ / DARAUF

Erzäh­ler  Von Spall­art notiert:

Dann beginnt eine schwar­ze Schön­heit zu sin­gen. Der jun­ge Mann wen­det sich ihr zu. Ver­schlingt sie mit den Blicken“.

Und:

Hier könn­te ich bleiben“.


DAS LIED, LÄNGER FREI STEHEND / ÜBERGEHEND IN 
FLUGZEUG-ATMO > LANDEANFLUG, INNEN

DARAUF:

Erzäh­ler Drei Tage spä­ter ist er wie­der Pas­sa­gier. Rio-Casa­blan­ca-Genf. Vom tro­pi­schen Dampf­bad – Lei­den­schaft und Träg­heit – in das kal­te, unge­dul­di­ge Europa. 

Käl­te­schock.

Der Vater war­tet mit einem Erd­nüss­chen auf das Erschei­nen des Vogels aus der Kuckucks­uhr. Die Mut­ter stickt an einer Auto­num­mer auf dem Kis­sen. 
Der Sohn steht vor der gro­ßen Welt­kar­te. 
Drau­ßen, vor dem Schre­ber­gar­ten­häus­chen, weht die Schwei­zer Fah­ne, die der Vater mor­gens auf­ge­zo­gen hat. Der neue Wagen wird bewun­dert…“

Selt­sa­me Krit­ze­lei von einem Zwi­schen-Stop in Salvador/Bahia … Da ist er wie­der: Vaters Schat­ten. Und der Sohn so klein, in kur­zen Hosen.

Als das Flug­zeug auf der Schwei­zer Pis­te auf­setzt, hat von Spall­art noch acht Mona­te, drei Wochen und zwei Tage lang zu leben. 


GERÄUSCH UNTER DEM LETZTEN SATZ WEG

O‑Ton Gar­di­ni  Es ist etwas sehr Ent­schei­den­des pas­siert mit ihm da drü­ben – wo er eine ande­re Qua­li­tät des Lebens erlebt hat, die es hier nicht gibt.

O‑Ton Marei­le Grie­der  Er hat­te immer wun­der­schö­ne Freun­din­nen (LACHT).

Erzäh­ler  Die Schwester.

O‑Ton Chris­ti­ne Riva   Als er zurück kam, war er trau­rig. Er war depres­siv. Und ich den­ke, das hat sehr viel damit zu tun, dass er sich dort in Bra­si­li­en ver­liebt hat.

Erzäh­ler  Chris­ti­ne, die Freundin.

O‑Ton Riva  Mathi­as war ein Mensch, der hat sich immer wie­der mal ver­liebt. Und dann ist er nach Hau­se gekom­men und hat geweint, war trau­rig. Ich wuss­te dann ein­fach: Das ist jetzt so! 

Er hat sich ja dann ’ne klei­ne Woh­nung genom­men. Und dann kam er wie­der zurück. Manch­mal nachts ist er durch das Haus gegeis­tert. Und dann ist er wie­der ver­schwun­den. Und dann ist er wie­der gekom­men und gegan­gen. Also – das war … 

Ich den­ke, er hat mir auch nichts gesagt, um mich nicht zu ver­let­zen. Ich wuss­te das nicht, bis dann die Brie­fe kamen. Ja – dann war das klar für mich.

Erzäh­ler  Sie woh­nen im Elsass, gleich hin­ter der Schwei­zer Gren­ze auf einem alten beschei­de­nen Bau­ern­hof. Kein Bad, Plumps­klo in der Scheu­ne. Im Win­ter ist es kalt.

O‑Ton Riva  Es war ein ein­fa­ches Leben, aber es war interessant.

Erzäh­ler Zehn Jah­re lang – bis zu der ver­fluch­ten Reise.

O‑Ton Riva  Es gab einen Moment, da hab ich mir über­legt, ob ich so wei­ter­le­ben möch­te … Wie soll ich sagen? Ich habe  die­sen Men­schen geliebt. Es gab mir aber auch neue Blick­win­kel für mein Leben. Ich kann zum Bei­spiel nicht mehr sagen: „Mein Mann“ – das ist für mich so Besitz ergrei­fend. Ich bin im Grun­de genom­men sehr dankbar.


ZWEI GITARREN-AKKORDE

Erzäh­ler Früh­jahr 1981. Jeden Tag fährt Mat­thi­as von Spall­art in sei­nem Citro­en zum Sen­der Basel, wo er noch vor kur­zem ange­stellt war. Wenn die All­tags­pflich­ten erle­digt sind, teilt er mit dem Ton­re­gis­seur Aldo Gar­di­ni das leer­ste­hen­de Studio.

O‑Ton Gar­di­ni  Er kam mit den Bän­dern zu mir und hat gesagt: Was hältst du davon. Ich hab’ nie auf die Uhr geguckt. Wenn sechs Uhr war, haben wir wei­ter gemacht, bis Zehn oder Elf. Weil ich fand das so span­nend. Ich hab immer gestaunt, dass man in der Zusam­men­ar­beit so tie­fe Emo­tio­nen erle­ben kann. Dass man sich näher kommt als mit jeman­dem, mit dem man zusam­men­lebt. Ist ganz verrückt! 

AUSBRASIL”-MATERIAL > VON SPALLART MIT SCHWEREN SCHRITTEN IM REGENWALD

 DARAUF:

Erzäh­ler Ein paar Wochen die­ser Rausch. Hören, aus­wäh­len, blen­den und mon­tie­ren. In den Kopf­hö­rern der Regen­wald, klar und trans­pa­rent. Das Stu­dio bläht sich zur Welt.

Im Bauch, im Kopf, im gan­zen Mann ist das Stück schon fer­tig. Nun muss es noch gemacht werden. 

STOP- UND RÜCKSPULGERÄUSCHE

Die Erleb­nis­se, wie im Traum auf­ge­zeich­net, ste­hen jetzt in Maschi­nen­schrift auf Karteikarten: 

Band 33: Ipi­tin­ga, Urwald, Affe … Band 45: Mara­jo-Insel, Ritt – 
1. Rei­ten, spä­ter Nach­mit­tag, 2. Rei­ten durch Was­ser, 3. Däm­me­rung, Zika­den, ent­fern­te Brüll­af­fen.


Band 37 – India­ner mit Kno­chen­flö­te 1–5 /  Vögel ant­wor­ten – 
Take 6: Zwie­spra­che mit Vogel  / abge­bro­chen – Sie­ben wie Take 1

Band 38: Stür­zen­de Bäu­me.

 RODUNG WIE ZUVOR: BAUM FÄLLT – UND WEG

Regis­ter, Tabel­len, Berich­te. Die Stopp­uhr. Das Radio hat fes­te „Slots“ – Sen­de­zei­ten von bestimm­ter Län­ge. Man muss kür­zen. Kill Your Dar­lings! 
Vie­le Meter Ton­band rie­seln auf den Fuß­bo­den. Oder in die Ton­ne. 
Sie nann­ten das „Blu­ti­ger Schnitt”! 

O‑Ton Bug­gert Eine gan­ze Aura nimmt plötz­lich kon­kre­te For­men an. Und die Aura ver­stummt lang­sam. Es muss eine gro­ße Ent­täu­schung für ihn gewe­sen sein, als er nun zurück kam, dass er fest­ge­stellt hat: Ganz ohne Wor­te kom­me ich nicht aus. Das muss ihn sehr, sehr bewegt haben. Das war fast eine Niederlage.

Erzäh­ler Die Lee­re danach. Kein Pau­ken­schlag. Die Medi­en­welt dreht sich unge­rührt weiter. 

O‑Ton Riva  Er hät­te gern mehr Reso­nanz gehabt. Und die hat er nicht bekommen. 

O‑Ton Palm  Er war ja auch eitel!

O‑Ton Gar­di­ni  Offen­sicht­lich hat es ihn nicht mehr inter­es­siert, wie es dann zum Schluss wird. Dass er gesagt hat: Es hat alles kei­nen Sinn mehr. 

Erzäh­ler  So düs­ter beginnt das letz­te hal­be Jahr. Alles wie­der auf Null. Er ver­sucht es mit Fernsehregie. 

O‑Ton Gar­di­ni  Da waren natür­lich zwan­zig, drei­ßig Leu­te enga­giert. Und um Sechs hat­ten die alle Fei­er­abend. Das konn­te er nicht begrei­fen, dass man nicht so begeis­tert bei der Sache war, dass man jetzt wei­ter arbei­tet. Und mit dem konn­te er nicht umgehen. 


Da war er allein dann.

O‑Ton Heil­mann  Er hat dann kei­ne Kon­zes­sio­nen gemacht. 

Erzäh­ler  Nach weni­gen Tagen ein Krach mit dem Haupt­dar­stel­ler. Und aus.

O‑Ton Heil­mann  Und dass das so total in die Bin­sen ging — das war für ihn ziem­lich schlimm.

O‑Ton Gar­di­ni  Und dann ging er zum frei­en Thea­ter. Und da hat er gesagt: Weißt du, Aldo, das geht ja eigent­lich nur noch um ’s Geld, das gan­ze. Und das ist so frus­trie­rend! Das ist furchtbar! 

Das gan­ze führt nir­gends mehr hin.


Erzäh­ler
  In der düs­te­ren St. Mar­tins­kir­che mit dem Sen­sen-Tod an der Stirn­wand spielt von Spall­art den Engel in Hugo von Hof­mannst­hals „Gro­ßem Welttheater“.

Der Freund besucht ihn in der Sakris­tei, die den Schau­spie­lern als Gar­de­ro­be dient.

O‑Ton Gar­di­ni  Und dann hat er sich split­ter­nackt aus­ge­zo­gen und hat dann das Engels­kos­tüm ange­zo­gen. (BEWEGT) Und dann ist er durch einen Gang weg­ge­gan­gen. Als Engel. Guckt zurück. Sagt „Ciao Aldo!“ 

So hab ich ihn das letz­te Mal gesehen. 

Als Engel im Nacht­hemd. Mit Flügeln.

O‑Ton Chris­ti­ne Riva  Am letz­ten Tag waren wir zusam­men. Er hat mir noch vor­ge­le­sen – „Der Tor und der Tod“ …

Erzäh­ler (EHER BEILÄUFIG):

Es scheint mein gan­zes so ver­säum­tes Leben / Ver­lor­ne Lust und nie gewein­te Trä­nen / Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“

Hugo von Hof­manns­thal, 1894.

O‑Ton Riva  Ich bin ein­ge­schla­fen, und als ich erwacht bin, war ich alleine.

O‑Ton Marei­le Grie­der  Also – da haben sie ihn gefun­den. Im Wald auf der Schar­tes­lo­he, nicht all­zu weit weg von Dor­nach auf der Höhe. Und er hat sich da erhängt. Sein Auto stand da. Und anschlie­ßend hat er noch ’ne Ziga­ret­te geraucht. Und dann ist er halt run­ter­ge­sprun­gen am Seil. Genickbruch.

Das waren Wild­hü­ter, die ihn gefun­den haben, also Bau­ern. Ich hab dann mit denen noch tele­fo­niert. Dann haben sie gesagt, sie hät­ten den Baum gefällt, an dem das pas­siert ist.

O‑Ton Gar­di­ni  Beim Mat­thi­as war ’s ja auch so, dass er sich auf einem Berg in der Nähe von Basel auf einem hohen Baum auf­ge­hängt hat – an der Stel­le, wo man Blick hat zu die­sem Bau­ern­haus. Fünf, sechs, sie­ben Kilo­me­ter. Wahnsinnig!

Und da fuhr ich gleich auf die­sen Bau­ern­hof. Und beim Hin­ge­hen sah ich das abge­dun­kel­te Zim­mer. Eine Lam­pe. Und da drun­ter saß wei­nend Chris­ti­ne. Und da hat sie Pro­be­ar­beit gehört von Mat­thi­as, wie er mit Wolf­gang Reich­mann, dem bekann­ten Schau­spie­ler, einen Text ein­ge­übt hat. 

So inten­siv!

O‑Ton Riva (AUF BASELDEUTSCH)  Ja, der Wolf­gang Reich­mann. Die haben sich sehr gut ver­stan­den  

O‑Ton Gar­di­ni (AUF BASELDEUTSCH)  Ganz wun­der­bar, wie die zusam­men den Text erar­bei­tet haben!

 DIE AUFNAHME :

SPALLART / REICHMANN  Ich fra­ge nun –– rhe­to­risch: Soll  die geis­ti­ge Natur in ihren Revo­lu­tio­nen mehr Rück­sicht neh­men als die physische –– –– 

SPALLART Ich wür­de über­lo­gisch sein! –– –– Ich fra­ge: Soll die geis­ti­ge Natur in ihren Revo­lu­tio­nen mehr Rück­sicht neh­men als die physische ? 

REICHMANN Was liegt dar­an, ob sie nun an einer Seu­che oder an der Revo­lu­ti­on sterben ? –– –– 

SPALLART Er sagt: Schau­en Sie, was ist denn schon Ster­ben, was ist schon Blut, was sind Lei­chen ? Nichts. Das ist ja der gemei­ne Trick, was alle faschis­to­iden Typen haben, was der Adolf hat­te und was der Goeb­bels hatte. 

SPALLART / REICHMANN Soll eine Idee nicht eben­so gut wie ein Gesetz der Phy­sik ver­nich­ten dür­fen, was sich ihr wider­setzt ? Soll über­haupt ein Ereig­nis, das die gan­ze Gestal­tung der mora­li­schen Natur, das heißt, der Mensch­heit umän­dert, nicht durch Blut gehen dürfen?

Erzäh­ler Georg Büch­ner, „Dan­tons Tod“. Gera­de erst aufgenommen. 

O‑Ton Riva  Und –– ja, das war dann das Ende. Die Frau hat dann noch ein paar Mal geschrie­ben. Und ich hab ihr dann eine Todes­an­zei­ge geschickt.

Erzäh­ler (ZITIERT EHER BEILÄUFIG): 


Wir zei­gen an den Tod unse­res Mat­thi­as von Spall­art, der in die ersehn­te Ruhe und Ewig­keit heim­keh­ren durf­te. Besich­ti­gung bis Don­ners­tag, den 22. Sep­tem­ber 1981, auf dem Fried­hof am Hörn­li, Basel“.


O‑Ton Salm­o­ny  Die­ses The­ma hat ihn schon lan­ge beschäf­tigt. Er hat Jean Ame­ry gele­sen, „Hand an sich legen“.

Erzäh­ler (ZITIERT)  

Muss man leben, muss man da sein – nur weil man ein­mal da ist ?“


STIMMEN 

Salm­o­ny / Riva / Palm / Heil­mann / Sass / Gar­di­ni / Baum­gart­ner (MONTIERT

––  Ob wir nun wirk­lich dahin­ter kom­men, war­um er sich auf­ge­hängt hat…?

–– Es ist nicht das ers­te Mal, dass er ver­sucht hat, sich das Leben zu neh­men. Das hat er schon ein­mal ver­sucht, als er im Mili­tär war. Es ist sein gutes Recht, und man hat das so hinzunehmen.

 –– In die­ser Welt, wie sie gewor­den ist, hät­te er sich gar nicht hal­ten können.

––  Das hat er irgend­wo gespürt, dass der Raum immer enger wird.

 –– Der hat­te so hohe Ansprü­che an sich. War ja auch Berg­stei­ger. Weißt du: die Vier­tau­sen­der! Das ist hoch hin­auf! Hoch hin­auf! (SIE LACHEN) Da braucht es  nur noch etwas klei­nes … und …

––  Ich den­ke, er hat­te kein ein­fa­ches Leben – mit sich sel­ber. Wirk­lich nicht!

Erzäh­ler Und der Kunstkopf ?

O‑Ton Bug­gert  Die­se Tech­nik war nicht aus­ge­reift. Es hat sich sehr schnell her­aus­ge­stellt, dass wir leben­den, durch die Welt gehen­den Men­schen teil­wei­se mit unse­ren Augen hören. Unse­re ande­ren Sin­ne unter­stüt­zen das Hören. Und wahr­schein­lich ist es auch, dass wir mit den Ohren ein biss­chen sehen. 

Vie­les, was wir hören, ist eigent­lich gar nicht zu hören, son­dern das hören wir hinein.

O‑Ton Baum­gart­ner  Scha­de, dass sich die Tech­nik nicht durch­ge­setzt hat. 
In „Bra­sil“ war sie genau richtig.

Erzäh­ler Der Autor tot, das Radio­stück „Bra­sil“ nicht fer­tig. Im Funk­haus des kopro­du­zie­ren­den HR in Frank­furt sind Kol­le­gen mit den letz­ten Hand­grif­fen beschäf­tigt. Spre­cher­tex­te wer­den auf­ge­nom­men und noch einmontiert.

Von Spall­arts Asche im Fami­li­en­grab auf dem nahen Haupt­fried­hof. 

O‑Ton Riva  Er hat zu mir gesagt: Wenn mir mal etwas pas­siert – ich will nur an einem Ort lie­gen, und das ist bei mei­ner Mut­ter im Grab.

O‑Ton Gar­di­ni  Und da liegt er in Frank­furt weni­ge Meter vom Stu­dio weg. Und ich bin da am Abend nach den Auf­nah­men über den Fried­hof gegan­gen und dach­te: Ich muss den Mat­thi­as noch sehen – ich will das Grab noch sehen. 

Und es war alles zuge­schneit. Und da ging ich an die Pfor­te und hab nach der Num­mer gefragt – wo er etwa liegt. Und da hat er mir eine Num­mer gege­ben und gesagt: “Drit­ter Cran (franz.) C” und so. 

Mei­ne Schrit­te waren die ein­zi­gen in die­sem wei­ßen Schnee. Und alle Grä­ber zuge­deckt. Und ich bin da hin und her gegan­gen und hab das Grab nicht gefun­den. War völ­lig ver­zwei­felt. Ich wuss­te: Das muss ganz in der Nähe sein. Ich fin­de es nicht. Und ich arbei­te seit drei Tagen an sei­nem Pro­jekt. Und er weiß nicht, wie toll das gewor­den ist, das Ganze. 

Erzäh­ler  „Bra­sil“ erringt den Schwei­zer Radio­preis „Prix Suis­se“. Beim Prix-Ita­lia-Wett­be­werb in Vene­dig trifft das Hör­stück knapp dane­ben. „Könn­te  viel­leicht etwas fröh­li­cher sein“, sagt ein Jury-Mit­glied in der Mittagspause.

(GELÄCHTER)  Gar­di­ni That’s life ! 


***

Info: Ekke­hard Sass war Mit­ar­bei­ter am Manu­skript von „Bra­sil“. 
Aldo Gar­di­ni ––> Mit­ge­stal­ter der Klang-Dra­ma­tur­gie, Ton­tech­ni­ker und Fea­ture­au­tor bei Radio Basel. 
Ste­fan Heil­mann und Clau­de Pierre Salm­o­ny ––>  Funk­re­gis­seu­re, Kol­le­gen von Mat­thi­as von Spall­art. 
Marei­le Grie­der ––> Halb­schwes­ter von Mat­thi­as von Spall­art. Ihr­Va­ter, Gün­ther Ritt­au, war Kame­ra­mann bedeu­ten­der Fil­me: „Metro­po­lis“, „Der blaue Engel“, „Kin­der,  Müt­ter und ein Gene­ral“. 
Vere­na Palm ––> Ton­tech­ni­ke­rin in Basel. 
Dr. Chris­toph Bug­gert ––> Lei­ter der Hör­spiel-Abtei­lung des Hes­si­schen Rund­funks von 1976 bis 2002.

Der Dra­ma­turg Niko­laus Klo­cke hat die Pro­duk­ti­on von „Bra­sil“ im hr betreut und mit hr-Regis­seur Fer­di­nand Lud­wig und Aldo Gar­di­ni nach Spall­arts Tod zu Ende gebracht. 
Wal­ter Baum­gart­ner ––> Schwei­zer Schau­spie­ler, Autor und Hör­spiel­dra­ma­turg. Chris­ti­ne Riva ––> leb­te zehn Jah­re mit Mat­thi­as von Spall­art zusam­me
n.



Alles oder nichts

Eine Mail über die Ent­ste­hung des Radio­stücks „Der Kunstkopf-Mann“

Juli 2018 – Lie­ber neu­gie­ri­ger N. N.

Die Recher­chen und Auf­nah­men für das gedach­te „aller­letz­te“ Pro­jekt, das mich hin­ter­rücks ange­fal­len hat – ein Fea­ture ? Hör­spiel ? Eine Hybrid­form oder „nur“ ein lan­ger Text in Roman­form ? – habe ich nun größ­ten­teils hin­ter mir. Der vier­tä­gi­ge Auf­ent­halt in Basel (Hei­di mit sepa­ra­tem Lady’s pro­gram) war eine rei­ne Freu­de und der olle Autor wie­der mal echt glück­lich. Vier­mal fuh­ren wir mor­gens mit der S‑Bahn aus Lör­rach uff Arbeet, weil ein Schwei­zer Hotel­zim­mer zwei­ein­halb mal so teu­er gewe­sen wäre. Dafür waren die dor­ti­gen Kol­le­gIn­nen mit ihren Erin­ne­run­gen, ihren Ana­ly­sen, der Offen­heit und Gast­freund­schaft gera­de­zu verschwenderisch.

Hier noch mal die Kür­zest­fas­sung mei­ner akus­ti­schen Träu­me­rei (hab’ noch kei­nen Sen­der kon­tak­tiert, weil ich erst den größ­ten Teil der Recher­chen hin­ter mich brin­gen wollte): 


Das Stück – nen­nen wir ’s mal so – han­delt von dem Schwei­zer Kol­le­gen Mat­thi­as von Spall­art, der vor 35 Jah­ren mit Nagra und Kunst­kopf-Equip­ment (Senn­hei­ser-Bügel)  in den ama­zo­ni­schen Regen­wald auf­brach, auf gan­zer Linie schei­ter­te und, noch ehe das Klang­hör­spiel fer­tig pro­du­ziert war, in einem Wald bei Basel erhängt gefun­den wur­de. Für die Rekon­struk­ti­on gibt es eine Men­ge Inter­views und alle nur denk­ba­ren akus­ti­schen Doku­men­te ein­schließ­lich der Sen­de­fas­sung, die beim HR nach dem Tod des Autors ent­stand.

Die Sto­ry ist viel­schich­tig und reicht weit über das “pri­va­te” Schick­sal hin­aus. Sie berührt auch die Radio­ge­schich­te. Als einer der Ers­ten woll­te Sp. mit dem gera­de in Mode kom­men­den Kunst­kopf einen hal­ben Kon­ti­nent in Tönen und nur in Tönen “ein­fan­gen” und die­ses Klan­bild mit einer öko­lo­gi­schen War­nung vor der Ver­nich­tung des Regen­walds verknüpfen. 


Die­se Ten­denz stamm­te ursprüng­lich von Ekke­hard Sass, einem der meist­be­schäf­tig­ten SFB-Fea­turia­ner, den ich in der Nähe von Basel 84jährig auf­ge­spürt und befragt habe. Dann gab ’s noch neben Aldo Gar­di­ni ande­re Kol­le­gen und Ex-Kol­le­gen aus dem Base­ler Funk­haus, die Schwes­ter und eine ehe­ma­li­ge Gelieb­te von Sp., in Deutsch­land u. a. Ursu­la Rup­pel (die als HR-Hör­spiel­che­fin mit Unter­la­gen aus dem Archiv gehol­fen hat) und Chris­toph Bug­gert, der sei­ner­zeit feder­füh­rend war. 
 

 Das Pro­jekt muss­te schei­tern, zumal sich Sp. vom Sub­kon­ti­nent Ama­zo­nia und letzt­lich auch von einer bra­si­lia­ni­schen Sän­ge­rin über­wäl­ti­gen ließ, die ihm wie eine Göt­tin des Ursprüng­li­chen erschie­nen sein muss. Leicht zu erken­nen, dass ich mir – eigent­lich zum ers­ten Mal – eine STORY und eine Art Roman­fi­gur als Prot­ago­nis­ten ange­lacht habe. 


Fast alle erzähl­ten mir, dass “Bra­sil” – so hieß die Sen­dung schließ­lich – zu Spall­arts Opus Magnum wer­den  soll­te. Wel­cher unse­rer heu­ti­gen Kol­le­gen ver­bin­det sich noch so exis­ten­ti­ell mit einem ein­zel­nen Projekt? 


Nun weißt Du alles und darfst mich ruhig bedau­ern. Aber wenn ’s geling ?

Und wenn nicht ?


➤Fea­tures (deut­sch/­In­fo-Tex­te)