Letzte Reise des Tönefängers Matthias von Spallart nach Amazonien.
Herbst 1980. In Basel packt ein Mann behutsam das Nagra-IV-Aufnahmegerät mit den blitzenden Knöpfen und Schaltern und 120 Spulen Magnetband reisefertig zusammen, dazu ein Paar der gerade erst erfundenen Dummy Head Mikrophone für Kunstkopf-Aufnahmen, die – in den eigenen Ohren getragen – den Klang so räumlich wiedergeben sollen, wie keine andere Technik zuvor…
NDR Kultur / DLF 2018 –– Erzähler: Tom Vogt –– Dauer: 54:26 (NDR) / 49:30 (DLF) –– Produktion: 11. bis 15. September 2017 im NDR-Studio –– Erstausstrahlung: Am Welttag des Radios 2018 (13. Februar) –– Öffentliche Vorführungen: „Lange Nacht der Kunst und Musik“ (Kunsthalle Pfaffenhofen a. d. Ilm 2018), Bremer Hörkino (2019) –– Wanderausstellung „Radiophonic Spaces“ (Basel, Berlin, Weimar 2018/19).

AUS DEM MANUSKRIPT:
ZWEI GITARREN-AKKORDE > KETTENSÄGEN / STÜRZENDER BAUMRIESE
(aus dem nach Spallarts Tod fertiggestellten Hörstück „Brasil“, 1982)
DARAUF:
Ansage
ZWEITER und DRITTER BAUMRIESE FÄLLT / AKUSTIK ZÜGIG WEG
Erzähler Es war … gegen Ende der Magnetbandzeit. Das analoge Zeitalter klang aus und wechselte zum digitalen – ein gleitender Übergang. Wie eine lange und kaum wahrnehmbare Blende.
Ein Radiostück blieb mir im Gedächtnis – „Brasil“. Halb Feature, halb Hörspiel, zum ersten Mal gesendet 1982. Autor: Matthias von Spallart.
Ich hatte ihn nie gesehen, seine Stimme nie gehört. Kein Foto. Kein Video.
Das Internet kam erst Jahre später.
Ich kannte seine Story nur vom bitteren Ende her. 35 Jahre hab ich sie mit mir herumgetragen. Bis ich Diesen da begegnete. Radiomenschen wie er.
STIMMEN:
–– Die Bilder sind alle da. Man sieht ihn, man spürt ihn auch noch.
–– Er hat sich gerne in gepflegten Bars bewegt. Er hat gern gute Zigarren geraucht.
–– Man hat einen Kamelhaarmantel, den man nachlässig über die erstbeste Stuhllehne wirft… (GELÄCHTER).
–– Er war ein hervorragender Koch.
–– „Wart’, ich muss noch den Fond fertig machen!“ Und dann stand er an einem alten Kochherd und hat Sachen „reduziert“… Hat eingekocht, bis nur eine braune dicke Soße war, die ganz wunderbar geschmeckt hat. Ich stand vis-à-vis und hab nur gestaunt und dachte: Dies Freudige, an dieser Soße zu arbeiten – wie er im Studio an seinen Stücken gearbeitet hat.
–– Die Nuancen waren wichtig. Auch seine Handbewegungen, wenn er darüber gesprochen hat, wie er ein Huhn in Salz zubereitet. Das hatte eine ähnliche Gestik, wie ein Fade-out oder wie ein dramatischer Bogen zu sein hat.
–– Er hat nicht Rösti und Leberli gemacht … (GELÄCHTER).
–– Ich glaube eben, dass der Matthias nicht auf der Erde stand, sondern der war in der Luft. Ab und zu wirklich nicht ganz auf dem Boden.
–– Er war irgendwo ein Traumtänzer, aber ein großartiger Regisseur und Schauspieler. Und er hat den Schauspielern immer vorgespielt, wie die Rolle eigentlich angelegt sein müsste.
PASSAGE AUS DER ARBEIT AN EINER RADIOFASSUNG VON GEORG BÜCHNERS „DANTONS TOD“ MIT v. SPALLART ALS REGISSEUR UND DEM SCHAUSPIELER WOLFGANG REICHMANN IN DER ROLLE DES ST. JUST
(1981 KURZ VOR SPALLARTS TOD MITGESCHNITTEN)
SPALLART / REICHMANN IN RASCHEM WECHSEL: Was ist das Resultat? ––– Was ist das Resultat? ––– Meine Damen und Herren: Was ist das Resultat? –––
Rhetorische Frage: Was ist das Resultat? Ja? ––– Ja! –––
(MIT GRÖSSEREM DRUCK) Was ist das Resultat? ––– Was ist das Resultat? Sagen Sie ’s mir, Monsieur Le Gergues: Was ist das Resultat??
Erzähler Die von Spallarts: Eine Künstlerfamilie – Maler, Musiker, Bühnenbildner, Schauspieler seit dem frühen 19. Jahrhundert.
Die Eltern von Matthias stehen bis zum Kriegsjahr 1944 auf der Bühne in Berlin. Dann wird der Vater zwangsverpflichtet.
O‑Ton Mareile Grieder Der sollte Nazipropaganda mitmachen, und das wollte er nicht.
Erzähler Mareile, Spallarts Halbschwester.
O‑Ton Grieder Am 6. Dezember 1944 sind wir über die Grenze in Riehen bei Basel in die Schweiz geflohen. Matthias war da ein Baby und ich drei Jahre alt.
Erzähler Milena von Eckardt, die Mutter, wird schnell zum Liebling des Basler Publikums. Zwei Jahre nach der Flucht spielt sie wieder Hauptrollen, etwa die „Jüdische Frau“ in Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“.
Wenn der berühmte Fritz Kortner zu Spallarts eingeladen ist, muss der Sohn jedes Mal „den Hahn machen“. Er kann so entzückend krähen!
Auch der Flüchtlingsjunge wird Schauspieler. Und später Hörspielregisseur.
STIMMEN:
–– Matthias von Spallart kam mir vom ersten Kennenlernen an eigentlich vor wie eine Figur aus dem Neunzehnten Jahrhundert. Möglicherweise hing das zusammen mit der aristokratischen Herkunft seines Vaters und auch seiner Mutter. Er schien mir wie kopfschüttelnd in die Welt zu blicken. Ein seltsames Erstaunen: „Ist denn das überhaupt möglich?“
–– Es hieß mal, er würde unter dem Ruhm seiner Eltern leiden – weil die so bekannt waren. Ob das nun stimmt ?
–– Kann schon sein! Zwei so starke Figuren: Der strenge Vater und die Mutter, die ihn vergöttert hat.
–– Unter so einem Vater hätte ich gelitten.
–– Matthias ist irgendwo an seinen eigenen Ansprüchen zerbrochen, gescheitert … Dass er dann irgendwann sein Bergseil in seinen Citroen gepackt hat und losgefahren ist…
–– Macht der ’ne erfolgreiche Sache und hängt sich uff!
GESCHÄFTIGES UMHERGEHEN / EINPACK-GERÄUSCHE: DRUCKKNÖPFE, REISSVERSCHLÜSSE, SCHNALLEN, SCHACHTELN, BÜCHSEN
DARAUF:
Erzähler Oktober 1980. Mathias von Spallart ist jetzt 36 Jahre alt.
An diesem Herbsttag packt er seinen Rucksack, den Koffer und eine Metallkiste – 120 Spulen Tonband sind darin. Auch Batterien. Er prüft die silbernen Regler und Schalter des Aufnahmegeräts. Und die Kopfmikrophone.
Reiseziel: Brasilien.
Von Spallart hat Blut geleckt: Eine Landschaft – ein Land–– dreidimensional –– im Radio! Und keine Zeile Text.
Die neue Technik macht es möglich.
Eine Demo-Schallplatte:
DEMO
MANN Hallo Ivonne! … FRAU I can see you … MANN Ich bin ungefähr 10 Meter von dem Tonbandgerät entfernt … (KOMMT NÄHER) … Wie geht ’s Dir? Herzlich willkommen, liebe Freunde der Kopfstereophonie !
DARAUF:
Erzähler Die erste Kunstkopfsendung in deutscher Sprache liegt ein Jahrzehnt zurück. Sie hieß „Demolition“ nach einem nordamerikanischen Science-Fiction-Roman: „The Demolished Man“, etwa „Der dekonstruierte Mann“. Aber auch: „Der zerstörte Mann“. Das Hörspiel war die Sensation der Berliner Funkausstellung 1973.
Was von Spallart sieben Jahre später in den Schalenkoffer legt, ist nicht die Urform jenes„Dummy Head“ aus Hartgummi; nicht diese gruselige Nachbildung eines menschlichen Kopfes mit Kunstohren und heraushängenden Kabelenden.
Es gibt eine Reiseversion, gerade erst erfunden. Sie heißt MKE 2002. Die beiden Mikrophone trägt man dort, wo unsere eigenen Mikros wachsen: Ohrmuschel und Trommelfell.
So wird der Träger selbst ein Kunstkopf-Mensch.
DEMO HOCH

MANN Ich stehe halb links, Sie rechts … Ich bin jetzt nur noch ungefähr 10 Zentimeter von Ihrer Kopfhaut entfernt … Und nun komme ich noch näher … noch näher … an Ihr linkes Ohr heran. Und anschließend … ebenso nah an Ihr rechtes Ohr …
ÜBERGEHEND IN FLUGHAFEN-ATMO. DARAUF:
Erzähler Als er sich in Genf zum Flug nach Rio de Janeiro von seiner Freundin Christine verabschiedet, ist Spallart bereit. Etwas wird geschehen. Eine mediale Pioniertat. Paukenschlag.
Er hat die Stelle im Sender gekündigt. Er hat ein Testament gemacht.
Alles auf Anfang!
DIE FLUGZEUGGERÄUSCHE VERKLINGEN
O‑Ton Christoph Buggert Ich hab in Erinnerung, dass da jemand bei uns in der Redaktion auftauchte und dem man anmerkte: Der fordert sich etwas ab. Gab diesem Projekt in seinem Leben eine ganz große Bedeutung. Und dieser herausfordernde Aspekt hat uns interessiert.
Erzähler Christoph Buggert, der federführende Programmmacher in Frankfurt am Main. Funkanstalten in vier Ländern unterstützen Spallarts Abenteuer.
O‑Ton Buggert Man muss träumen dürfen … Es ging um eine große existentielle Bewährung. Und das sind Voraussetzungen, wo was ganz Großes entstehen kann. Wo auch Scheitern möglich ist. Aber wir haben schon dieses Risiko, das er persönlich einzugehen bereit war, brutal ausgenutzt.
Erzähler Natürlich gab es auch ein Exposé:
„Als roter Faden dient das akustische Eindringen in einen fremden Kontinent
von den Rändern her durch verschiedene Zwischenzonen bis ins mythische Herz dieses Erdteils. Am Ende die Entdeckung von Industrieanlagen inmitten einer noch urweltlich zugeschnittenen Natur“.
O‑Ton Buggert Man merkte ihm von Anfang an an: Junge, das ist ein gigantisches Projekt. Also hoffentlich überforderst Du Dich nicht selber! Wir schaffen die Voraussetzungen – Reisekosten, technische Ausrüstung und so weiter. Aber dann hing alles an ihm.
ANFANGSSZENE VON „BRASIL“ > IM FAHRENDEN BUS
DARAUF:
Erzähler Brasilien. Oktober 1980. Von Spallart notiert:
„Die Transamazonica: ein Staubtunnel im Urwald. Der Bus überfüllt. Dunkelhäutige Männer mit Flinten und Leinensäcken. Tag und Nacht auf dieser Straße…“
Ich stelle mir vor:
Der Mann mit dem South American Handbook im Koffer – geistreicher Träumer, Hobby-Koch – der Joyce- und Herman-Melville- und Joseph-Conrad-Kenner – sensibler Hörspielregisseur, sitzt schwitzend, ungewaschen, eingeklemmt zwischen Männern, die seit Tagen unterwegs sind. Arme Teufel, Abenteurer aus Not. Er lässt kein Auge von der Kiste mit den Kunstkopf-Mikrophonen.
Nur ein Wort versteht er: Marabá. Das ist der Sammelpunkt einer Elends-Prozession zu den Dammbauten im Eisenerzgebiet Grande Carajás. Oder zur Hölle der Sierra Pellada. Dort, im Malaria-Fieber, wühlen Hunderttausende nach Gold.
Die Anderen schließlich werden weiterreisen zum Jarí, einem von hunderten Nebenflüssen des Amazonas, mächtiger als Rhein und Donau.
Am Jarí liegt der Privatbesitz des Daniel Keith Ludwig, Multimillionär aus Nordamerika. Die Parzelle, groß wie Belgien, hat der reiche Mann gekauft – 16 000 Quadratkilometer … Wald.
SZENE AUS „BRASIL“: REGENWALD-RODUNG – MOTORSÄGEN, FALLENDE BÄUME, WALKIE-TALKIES. DARAUF:
Inmitten der Rodung die Hauptstadt: „Monte Dourado“ – „Goldberg“.
Alles Made in USA: Häuser, Maschinen, Supermarkt, Wassertürme, sogar die Feuerhydranten und Briefkästen. Und die Privatpolizei. Mittlerer Westen am Amazonas.
Dreißigtausend Einwohner.
In weitem Umkreis ließ der Unternehmer mit dem deutschen Namen Eukalyptusbäume pflanzen: schnell wachsendes Holz als Rohstoff. Aus Japan kam eine Papierfabrik samt Kraftwerk. Die schwamm schlüsselfertig hinter einem Schleppschiff 25 000 Kilometer um den Globus.
VERKLINGENDE RODUNGSGERÄUSCHE / WEG
Doch … als Spallart an sein Ziel kommt, steht die Produktion schon wieder still. Nach drei Eukalyptus-Ernten ist der Urwaldboden ausgelaugt, verkarstet. Schädlinge erledigen die letzten Bäume !
O‑Ton Aldo Gardini Er wollte eigentlich den Herrn Ludwig treffen. Und mit dem Mann wollte er reden.
Erzähler Ihn herausfordern.
O‑Ton Gardini Das war eigentlich die Idee: Ein politisch engagiertes Stück zu machen.
O‑Ton Gardini Und am Schluss war ’s ganz was anderes.
Erzähler Vier Sender in Europa warten auf das große Ding. Den Scoop, „Zivilisationsschock“: Hier die Indios-wie-Gott-sie-schuf – dort der blasshäutige Bösewicht mit Namen und Adresse.
Einer hat das alles vorgemacht: Henry Ford, 40 Jahre früher. Auch in Amazonien. Der Autokönig brauchte Latex für die Reifenproduktion, und der Rohstoff quoll aus zweieinhalb Millionen Morgen Kautschukwald am Tapajós. Doch „Fordlandia“ war ein Verlustgeschäft. Nach 25 Jahren zogen die Yankees weiter. Teile der Ruinenstadt sind heute noch zu sehen.
O‑Ton Buggert Das war die Zeit des beginnenden politisch-ökologischen Kampfes – Club of Rome und alles, was damals die politische Szene bewegte. Und es war auch eine gewisse biographisch und persönlich geprägte Empörung eines empörten Europäers mit einer quasi angelesenen Empörung. Und da hat er uns auf einer Karte gezeigt: Ich gehe gradewegs auf einer richtig mit dem Lineal gezogenen Linie durch den brasilianischen Urwald. Und am Ende stoße ich auf den Einbruch des modernen Industriezeitalters. Und da werde ich mich damit auseinandersetzen.
Erzähler Doch Mister Goldfinger, den der Reisende aus der kleinen, fernen Schweiz zur Rede stellen will, ist nicht zu Hause. Er lebt 83jährig abgeschirmt in New York City und betätigt sich als Kunstmäzen.
O‑Ton Gardini Völlig unmöglich, an diesen Menschen heranzukommen. Völlig unmöglich.
Erzähler Den dummen Fehler in Brasilien hat der Landkäufer längst abgeschrieben. Eine Milliarde Dollar Verlust. Den Brasilianern wird er die verrostete Papierfabrik, die Häuser und die Wassertürme und die nagelneue Eisenbahn am Ende … “schenken”. Auch das ruinierte Grundstück.
Und von Spallart? War er angemeldet? Hat man ihm ein Interview verwehrt? Wollte niemand mit ihm reden? Das Stück Radio, das von alldem übrig bleiben wird, gibt keine Auskunft.
ZWEI GITARREN-AKKORDE >< SZENE AUS „BRASIL“ MIT RUDERGERÄUSCHEN UND STIMMEN
DARAUF:
Erzähler Endlich, nach Wochen und im letzten Augenblick, der Bescheid aus Brasilia: Die Indianerbehörde FUNAI genehmigt Tonaufnahmen im Ipitinga-Reservat.
A Fundação Nacional do Índio dient dem “Schutz unkontaktierter Völker vor Eindringlingen“.
Als Berichterstatter muss man lange warten.
Reisenotizen:
„Auf der Suche nach den Bewohnern des Urwalds. Im Boot sind außer mir der Bootsmann und einige Jäger.”
INDIO-SIEDLUNG > ANNÄHERUNG UND ERSTER KONTAKT
“Nach sechs Stunden erreichen wir eine Insel, mitten im Fluss gelegen. Sie wird von einem Indianer und seinen drei Kindern bewohnt. Auf dem höchsten Punkt der Insel stehen seine beiden strohgedeckten Bambushütten. Die Jäger sind unten am Fluss geblieben.
Eigentlich sollte hier ein Dorf stehen, aber die Indianer sind vor einigen Wochen in ein anderes Reservat umgesiedelt worden. Nur er, Sohn eines Häuptlings, wollte seine Heimat nicht verlassen.
Er ist scheu und meidet meinen Blick. Fühle mich gehemmt“.
Vier Taschenmesser als Gastgeschenk.
Ich stelle mir vor:
Von Spallart mit den Kunstkopf-Ohren und dem umgeschnallten Bandgerät – befangen wie der Indio vor ihm, dem man aus der Hauptstadt wieder einen stummen Gast geschickt hat.
INDIO SPRICHT MIT SEINER TOCHTER
DARAUF:
Erzähler Der Kunstkopf-Mann steuert behutsam die Aufnahme aus. Achtet auf jede Bewegung. Die Mikrophone in den Ohren sind empfindlich gegen „Körperschall“. Selbst eigene Schluckgeräusche muss er unterdrücken. Hier entstehen die schönsten Aufnahmen der Reise.
DIE STIMMEN LANGE FREI STEHEN LASSEN
„In der Hütte sitzt der Indianer und erzählt. Die Kinder schaukeln sacht in ihren Hängematten. Sie legen ihren Kopf auf den Rand, lassen ein Bein heraushängen“.
„So sparsam müsste mein Erzähltext sein“, schreibt von Spallart an den Rand der spärlichen Notizen. „Kein Wort zu viel“. Er streicht die letzte Zeile durch. „Am besten gar kein Text. Mein Hörstück muss klingen – nicht schwatzen“.
WIEDERHOLTE TÖNE EINER KNOCHENFLÖTE.
KULISSE WEG
O‑Ton Salmony Durch all diese wilden und abenteuerlichen Zonen hindurch ist er da vorgedrungen in diese zarte Kommunikation.
O‑Ton Gardini So etwas nimmt man nur einmal im Leben auf. Ich hab’ Jahre später mal eine Sendung gemacht in einem Berggebiet in der Schweiz. Und da war ich in einem Stall, und da hat der Bauer mit seinem Enkel gesprochen. Und als ich das geschnitten habe, dachte ich: Der spricht genau wie der Indianer am Amazonas…
O‑Ton Sass Ach!
O‑TonGardini Ohne jeden Druck, ganz fein. Mit ganz wenig Stimme. Ganz entspannt.
O‑TonSass Das ist schön!
O‑TonGardini Kritiker später haben immer gesagt: Warum wird dieser Indianer nicht beim Namen benannt, sondern einfach: „Der Indianer“? Und niemand ist auf die Idee gekommen, dass die sich gar nicht verständigen konnten. Matthias wusste gar nicht, wie der heißt. Der wurde da hin gebracht, abgeladen, die sind weggegangen und haben ihn am anderen Tag wieder geholt … Hat einfach zugehört.
AUS „BRASIL“ > DER RITT
DARAUF:
O‑Ton Gardini Er hat viele gute Aufnahmen mitgebracht … Das Reiten in den Wald, wo der Sattel knarrt, und in der Ferne hört man Affen schreien. Ich kann minutenlang zuhören!
O‑TonBuggert Solche Geräuschpanoramen gibt es in der Radiogeschichte nicht viele. Das war damals sensationell, weil wir Kunstkopf-Aufnahmen, dreidimensionale authentische Tonaufnahmen aus dieser Welt, noch nicht kannten.
O‑Ton Baumgartner Da hast du wirklich das Gefühl, du bist mitten im Urwald. Und du hörst ringsrum alles – von vorne, von hinten, von links, von rechts…
O‑Ton Buggert Wir gingen ja damals davon aus: Das wird überhaupt die Zukunft sein!
KULISSE ETWAS STEHEN LASSEN / DANN WEG
Erzähler Anderntags. Nach den stummen Zwiegesprächen mit dem Indio ohne Namen, steigt der Tönefänger wieder in das Kanu der FUNAI. Wie verabredet.
Der Culture Clash – hier die Ureinwohner, dort der Ausbeuter des Regenwalds – hat vor dem Mikrophon nicht stattgefunden. Plan und Wirklichkeit wollen nicht zusammenpassen. Die Wirklichkeit sagt „Nein“.
GLEICHMÄSSIGE SCHRITTE IM DSCHUNGEL LANGSAM EINBLENDEN
Von Spallart driftet ab.
Ich denke: Der Rock des Reporters war ihm zu eng. Was hätte ein Mister Ludwig zu sagen gehabt ? „Sorry – tut mir leid“?
Spallart ist Künstler. Die Dinge sprechen zu ihm. Kettensägen, gemarterte Bäume. Und der noch unberührte Wald.
SCHRITTE / NATURSTIMMEN
Erzähler Nun ist er frei, umspült von Sound. Ist nur noch Ohrenmensch – wehrlos in der großen amazonischen Umarmung.
„Noch nie so etwas erlebt ––– Wie vor dem Sündenfall“, schreibt Spallart auf.
Lichtjahre entfernt: Europa – und das Funkhaus – und der Studio-Belegplan Woche 43 – und das Grab der Mutter (neun Jahre ist sie tot – an Krebs gestorben).
Kaum noch erkennbar: Der Schatten des Vaters.
DIE KULISSE WIRD UNTER DEM LETZTEN SATZ DES ERZÄHLERS ZÜGIG AUSGEBLENDET
Erzähler Johannes von Spallart. 80 Jahre ist er alt. Seit 60 Jahren Schauspieler. Ein ultrastrenger Christ mit Sympathien für die radikale Bruderschaft der Rosenkreuzer.
O‑TonGrieder Er war so ein asketischer Typ.
Erzähler Sagt die Schwester. Die Ehe der Eltern ging in den Fünfziger Jahren zu Bruch.
O‑Ton Grieder Unsere Mutter war eine Vollblutschauspielerin, eine Lebenskämpferin. Sie musste sich von ganz unten wieder hocharbeiten. Aber sie war überfordert mit uns Kindern. Sie hat mich ins Internat verfrachtet mit Fünfzehn. Und Manti dann auch nach Sarnen zu den Benediktinern. Er war nicht glücklich da.
Erzähler Der 12jährige Matthias, genannt „Manti“, schreibt dem fernen Vater aus dem Knabeninternat.
O‑Ton Grieder Da sind Briefe von Manti, als Kind, wo man sieht, dass er es seinen Eltern möglichst recht machen wollte. Da musste ich wirklich fast weinen, wie ich das gelesen hab! Mir ist der Eindruck geblieben, dass er sehr unter Druck stand unter seinen Eltern … Ja … (SIE SEUFZT)
Erzähler Viele Briefe schreibt der Sohn. Und bekommt zu Weihnachten nur eine Autogrammpostkarte.
Später, als Regisseur, hat er seinen Vater selten engagiert – zuletzt als Beichtvater in einer Szene von James Joyce.
Nur eine kleine Radiorolle.
AUS „STEPHEN DAEDALUS“, HÖRSPIEL, DRS 1976
FUNKBEARBEITUNG UND REGIE: MATTHIAS VON SPALLART
PRIESTER (JOHANNES VON SPALLART) Sonst noch etwas, mein Kind ?
STEPHEN DAEDALUS Ich war neidisch gegen andere, eitel, ungehorsam.
PRIESTER Sonst noch etwas, mein Kind ?
STEPHEN DAEDALUS Ich habe die Sünde der Unkeuschheit begangen, Vater.
PRIESTER An dir selbst, mein Kind ?
STEPHEN DAEDALUS Und mit anderen.
PRIESTER Mit Frauen, mein Kind ?
STEPHEN DAEDALUS Ja, Vater.
PRIESTER Wie alt bist du ?
STEPHEN DAEDALUS Sechzehn, Vater.
PRIESTER Du bist sehr jung, mein Kind! Ich flehe dich an: Lass ab von dieser Sünde! Es ist eine schreckliche Sünde! Sie tötet den Körper. Sie tötet die Seele… Lass ab davon. Um Gottes Willen …
DER HÖRSPIEL-TON WIRD VON DER REGENWALD-KULISSE ABGELÖST / DARAUF:
Erzähler Der Tönefänger jetzt allein mit seiner Ausrüstung. Ein kahles Zimmer in der Urwald-Lodge. Für Hängematte und Moskitonetz und für die Kleider ein paar Haken.
Einzelheiten hat er später kaum erzählt.
Ich sehe ihn im Halbdunkel des Regenwalds: Mit seinen Kunstkopf-Ohren sammelt er: Vogelschreie – Zikaden, Moskitos – Gewitter und leisen Regen – entfernte Stimmen und Arbeitsgeräusche.
Es ruft von überall: Hör zu ! Nimm auf ! Da musst Du hin!
In den Mangroven bis zum Bauch im Wasser. Jagdfieber.
Hör’ nur – Kunstkopf-Mann!
WEITER AUF DER KULISSE:
O‑Ton Gardini Ich hab’ ihm das nicht zugetraut, dieses Stereo-Nagra, was sehr schwer ist, acht Kilo, plus etwa 20, 30, 40 Spulen Tonbänder immer mitzutragen, und dann in den Urwald zu gehen, wo man von Moskitos umschwirrt wird. Er war zerstochen von oben bis unten, durfte sich aber nicht bewegen, um die Aufnahme nicht kaputt zu machen. Eine unglaubliche Strapaze!
Erzähler Wenn er Töne aufnimmt, muss er starr sein wie ein Denkmal.
Sobald er den Kopf dreht, kreist der Urwald um ihn. Den Radiohörern würde schwindelig.
O‑Ton Gardini Und er hat sich nicht bewegt und hat sich stechen lassen! Und dann alle Viertelstunde das Band wechseln! Da waren so Schräubchen drauf, wo man die Spule befestigt. Und wenn man das vergisst oder es runterfällt, im Urwald – dann ist Feierabend – oder? Das findest du nicht mehr im Laub.
Erzähler Schweißtreibende Luft … Der seifige Glanz, der sich auf der Haut und auch auf den Geräten zeigt … Sorge, dass die Tonbänder verderben … Bandsalat … Manchmal kleben sie an seinen Händen.
Einmal täglich Sintflut. Dann wickelt er die teueren Geräte in sein Regencape.
Die längste Zeit des Tages schweigt der Wald.
Oft pirscht der Tönefänger nachts.
Ich stelle mir vor:
Der Lichtkegel seiner Taschenlampe streift die gelblichen Pupillen der Kaimane in den Sumpftümpeln ringsum. Die Nacht so schwarz. Die Sterne riesig. Glühwürmchen wie Schneegestöber.
Es atmet –– seufzt –– es schnarrt und schnarcht –– es stöhnt.
Fische platschen irgendwo.
Das „Mythische Herz dieses Erdteils“. So steht es im Entwurf.
„Es soll angestrebt werden, diese Welt in einem Hörspiel zu vergegenwärtigen mit den spezifischen Mitteln des Radios. In Geräuschen also…“
Und nun … mittendrin!
Es zieht ihn in die Urwald-Lodge zurück, voller Neugier. Draußen in der Wildnis ist der Kunstkopf-Mann wie taub. Er kann nicht hören, was die beiden Mikrophone in den Kunstohren, die er über seine eigenen stülpt, tatsächlich aufnehmen. Die Technik lauscht für ihn. Nur das Zucken eines Zeigers zeigt die Stromimpulse an, die als Töne auf den Tonbandspulen des Recorders landen.
Von Spallert setzt seine Kopfhörer auf und schaltet auf Playback.
EINSCHALTGERÄUSCH / DAS FROSCHKONZERT
Fährt vor …
VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE
Und noch ein Stück …
VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE
Das Klangbild, das er „live“ im Wald erlebt hat, klingt in seiner Aufnahme noch tiefer, schärfer, plastischer … Surround.
Eine Super-Totale, die ihn einsaugt. Umschlingt.
In der vollständigen Dunkelheit des primitiven Zimmers produziert sein Hirnspeicher beim Zuhören Gräser, Tiere, Urwaldriesen, Eingeborene auf alten Stichen … Bücher – Joseph Conrad, Humboldt – was er so „im Kopf hat“. Erlebtes und Erinnertes.
Der Tönefänger hört nun seinen Urwald. Und das werden später auch die Radiohörer so erleben. Und jeder anders!
Glücklich schläft er ein.
FROSCHKONZERT UND ANDERE NATURGERÄUSCHE NOCH EINE WEILE STEHEN LASSEN UND WEG
Erzähler Natürlich – es kann auch anders gewesen sein.
O‑Ton Heilmann Ich krieg das nicht zusammen. Wir haben ihn immer abgehoben in seiner Gedankenwelt erlebt.
O‑Ton Sass Man kommt ja hinter das Geheimnis eines Menschen gar nicht. Das bleibt immer ein Rätsel.
Erzähler Die aufbewahrten Flug- und Schiffs- und Bustickets zeigen für die neunte Reisewoche wieder stärkere Bewegung: Der Tönefänger kreuz und quer im Amazonas-Delta.
ZWEI GITARREN-AKKORDE > STADT-ATMO (BELÉM) ABRUPT HOCHZIEHEN:
VERKEHR, REKLAME-LAUTSPRECHER, „INDIO“-SPEKTAKEL
DARAUF:
Erzähler In der zehnten Woche kommt er in die große Stadt. Die Stadt erbebt von Werbebotschaften. Fazendeiros mit den breitkrempigen Hüten stellen ihren Reichtum aus.
Auf der Avenida Presidente Vargas tanzt und trommelt „Urbevölkerung“. Studenten der Ethnologie demonstrieren, Ara-Federn auf dem Kopf.
SCENE AUS „BRASIL“ (HOTELGARTEN)
Erzähler Außerhalb der Stadt das Luxushotel. Im Garten ein Stück präparierter Urwald. Tiere in Käfigen: Panther, Tapire, Wollaffen, Papageien.
Er: plötzlich Tourist unter Touristen. Noch in Brasilien und schon wieder in Europa.
FREMDENFÜHRER IM VORÜBERGEHEN ÜBER LATEX-GEWINNUNG (ITALIENISCH) / STIMMENGEWIRR
Das Indiodorf ist Pflichtprogramm. Wie auf Knopfdruck zapft der Gummizapfer Gummi. Grässliche Piranhas, luftgetrocknet – hundertfach als Souvenir. Kriegstanz im 20-Minuten-Takt.
Abends ein kleines Lokal.
SZENE AUS „BRASIL“ / DARAUF
Erzähler Von Spallart notiert:
„Dann beginnt eine schwarze Schönheit zu singen. Der junge Mann wendet sich ihr zu. Verschlingt sie mit den Blicken“.
Und:
„Hier könnte ich bleiben“.
DAS LIED, LÄNGER FREI STEHEND / ÜBERGEHEND IN
FLUGZEUG-ATMO > LANDEANFLUG, INNEN
DARAUF:
Erzähler Drei Tage später ist er wieder Passagier. Rio-Casablanca-Genf. Vom tropischen Dampfbad – Leidenschaft und Trägheit – in das kalte, ungeduldige Europa.
Kälteschock.
„Der Vater wartet mit einem Erdnüsschen auf das Erscheinen des Vogels aus der Kuckucksuhr. Die Mutter stickt an einer Autonummer auf dem Kissen.
Der Sohn steht vor der großen Weltkarte.
Draußen, vor dem Schrebergartenhäuschen, weht die Schweizer Fahne, die der Vater morgens aufgezogen hat. Der neue Wagen wird bewundert…“
Seltsame Kritzelei von einem Zwischen-Stop in Salvador/Bahia … Da ist er wieder: Vaters Schatten. Und der Sohn so klein, in kurzen Hosen.
Als das Flugzeug auf der Schweizer Piste aufsetzt, hat von Spallart noch acht Monate, drei Wochen und zwei Tage lang zu leben.
GERÄUSCH UNTER DEM LETZTEN SATZ WEG
O‑Ton Gardini Es ist etwas sehr Entscheidendes passiert mit ihm da drüben – wo er eine andere Qualität des Lebens erlebt hat, die es hier nicht gibt.
O‑Ton Mareile Grieder Er hatte immer wunderschöne Freundinnen (LACHT).
Erzähler Die Schwester.
O‑Ton Christine Riva Als er zurück kam, war er traurig. Er war depressiv. Und ich denke, das hat sehr viel damit zu tun, dass er sich dort in Brasilien verliebt hat.
Erzähler Christine, die Freundin.
O‑Ton Riva Mathias war ein Mensch, der hat sich immer wieder mal verliebt. Und dann ist er nach Hause gekommen und hat geweint, war traurig. Ich wusste dann einfach: Das ist jetzt so!
Er hat sich ja dann ’ne kleine Wohnung genommen. Und dann kam er wieder zurück. Manchmal nachts ist er durch das Haus gegeistert. Und dann ist er wieder verschwunden. Und dann ist er wieder gekommen und gegangen. Also – das war …
Ich denke, er hat mir auch nichts gesagt, um mich nicht zu verletzen. Ich wusste das nicht, bis dann die Briefe kamen. Ja – dann war das klar für mich.
Erzähler Sie wohnen im Elsass, gleich hinter der Schweizer Grenze auf einem alten bescheidenen Bauernhof. Kein Bad, Plumpsklo in der Scheune. Im Winter ist es kalt.
O‑Ton Riva Es war ein einfaches Leben, aber es war interessant.
Erzähler Zehn Jahre lang – bis zu der verfluchten Reise.
O‑Ton Riva Es gab einen Moment, da hab ich mir überlegt, ob ich so weiterleben möchte … Wie soll ich sagen? Ich habe diesen Menschen geliebt. Es gab mir aber auch neue Blickwinkel für mein Leben. Ich kann zum Beispiel nicht mehr sagen: „Mein Mann“ – das ist für mich so Besitz ergreifend. Ich bin im Grunde genommen sehr dankbar.
ZWEI GITARREN-AKKORDE
Erzähler Frühjahr 1981. Jeden Tag fährt Matthias von Spallart in seinem Citroen zum Sender Basel, wo er noch vor kurzem angestellt war. Wenn die Alltagspflichten erledigt sind, teilt er mit dem Tonregisseur Aldo Gardini das leerstehende Studio.
O‑Ton Gardini Er kam mit den Bändern zu mir und hat gesagt: Was hältst du davon. Ich hab’ nie auf die Uhr geguckt. Wenn sechs Uhr war, haben wir weiter gemacht, bis Zehn oder Elf. Weil ich fand das so spannend. Ich hab immer gestaunt, dass man in der Zusammenarbeit so tiefe Emotionen erleben kann. Dass man sich näher kommt als mit jemandem, mit dem man zusammenlebt. Ist ganz verrückt!
AUS “BRASIL”-MATERIAL > VON SPALLART MIT SCHWEREN SCHRITTEN IM REGENWALD
DARAUF:
Erzähler Ein paar Wochen dieser Rausch. Hören, auswählen, blenden und montieren. In den Kopfhörern der Regenwald, klar und transparent. Das Studio bläht sich zur Welt.
Im Bauch, im Kopf, im ganzen Mann ist das Stück schon fertig. Nun muss es noch gemacht werden.
STOP- UND RÜCKSPULGERÄUSCHE
Die Erlebnisse, wie im Traum aufgezeichnet, stehen jetzt in Maschinenschrift auf Karteikarten:
Band 33: Ipitinga, Urwald, Affe … Band 45: Marajo-Insel, Ritt –
1. Reiten, später Nachmittag, 2. Reiten durch Wasser, 3. Dämmerung, Zikaden, entfernte Brüllaffen.
Band 37 – Indianer mit Knochenflöte 1–5 / Vögel antworten –
Take 6: Zwiesprache mit Vogel / abgebrochen – Sieben wie Take 1
Band 38: Stürzende Bäume.
RODUNG WIE ZUVOR: BAUM FÄLLT – UND WEG
Register, Tabellen, Berichte. Die Stoppuhr. Das Radio hat feste „Slots“ – Sendezeiten von bestimmter Länge. Man muss kürzen. Kill Your Darlings!
Viele Meter Tonband rieseln auf den Fußboden. Oder in die Tonne.
Sie nannten das „Blutiger Schnitt”!
O‑Ton Buggert Eine ganze Aura nimmt plötzlich konkrete Formen an. Und die Aura verstummt langsam. Es muss eine große Enttäuschung für ihn gewesen sein, als er nun zurück kam, dass er festgestellt hat: Ganz ohne Worte komme ich nicht aus. Das muss ihn sehr, sehr bewegt haben. Das war fast eine Niederlage.
Erzähler Die Leere danach. Kein Paukenschlag. Die Medienwelt dreht sich ungerührt weiter.
O‑Ton Riva Er hätte gern mehr Resonanz gehabt. Und die hat er nicht bekommen.
O‑Ton Palm Er war ja auch eitel!
O‑Ton Gardini Offensichtlich hat es ihn nicht mehr interessiert, wie es dann zum Schluss wird. Dass er gesagt hat: Es hat alles keinen Sinn mehr.
Erzähler So düster beginnt das letzte halbe Jahr. Alles wieder auf Null. Er versucht es mit Fernsehregie.
O‑Ton Gardini Da waren natürlich zwanzig, dreißig Leute engagiert. Und um Sechs hatten die alle Feierabend. Das konnte er nicht begreifen, dass man nicht so begeistert bei der Sache war, dass man jetzt weiter arbeitet. Und mit dem konnte er nicht umgehen.
Da war er allein dann.
O‑Ton Heilmann Er hat dann keine Konzessionen gemacht.
Erzähler Nach wenigen Tagen ein Krach mit dem Hauptdarsteller. Und aus.
O‑Ton Heilmann Und dass das so total in die Binsen ging — das war für ihn ziemlich schlimm.
O‑Ton Gardini Und dann ging er zum freien Theater. Und da hat er gesagt: Weißt du, Aldo, das geht ja eigentlich nur noch um ’s Geld, das ganze. Und das ist so frustrierend! Das ist furchtbar!
Das ganze führt nirgends mehr hin.
Erzähler In der düsteren St. Martinskirche mit dem Sensen-Tod an der Stirnwand spielt von Spallart den Engel in Hugo von Hofmannsthals „Großem Welttheater“.
Der Freund besucht ihn in der Sakristei, die den Schauspielern als Garderobe dient.
O‑Ton Gardini Und dann hat er sich splitternackt ausgezogen und hat dann das Engelskostüm angezogen. (BEWEGT) Und dann ist er durch einen Gang weggegangen. Als Engel. Guckt zurück. Sagt „Ciao Aldo!“
So hab ich ihn das letzte Mal gesehen.
Als Engel im Nachthemd. Mit Flügeln.
O‑Ton Christine Riva Am letzten Tag waren wir zusammen. Er hat mir noch vorgelesen – „Der Tor und der Tod“ …
Erzähler (EHER BEILÄUFIG):
„Es scheint mein ganzes so versäumtes Leben / Verlorne Lust und nie geweinte Tränen / Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“
Hugo von Hofmannsthal, 1894.
O‑Ton Riva Ich bin eingeschlafen, und als ich erwacht bin, war ich alleine.
O‑Ton Mareile Grieder Also – da haben sie ihn gefunden. Im Wald auf der Scharteslohe, nicht allzu weit weg von Dornach auf der Höhe. Und er hat sich da erhängt. Sein Auto stand da. Und anschließend hat er noch ’ne Zigarette geraucht. Und dann ist er halt runtergesprungen am Seil. Genickbruch.
Das waren Wildhüter, die ihn gefunden haben, also Bauern. Ich hab dann mit denen noch telefoniert. Dann haben sie gesagt, sie hätten den Baum gefällt, an dem das passiert ist.
O‑Ton Gardini Beim Matthias war ’s ja auch so, dass er sich auf einem Berg in der Nähe von Basel auf einem hohen Baum aufgehängt hat – an der Stelle, wo man Blick hat zu diesem Bauernhaus. Fünf, sechs, sieben Kilometer. Wahnsinnig!
Und da fuhr ich gleich auf diesen Bauernhof. Und beim Hingehen sah ich das abgedunkelte Zimmer. Eine Lampe. Und da drunter saß weinend Christine. Und da hat sie Probearbeit gehört von Matthias, wie er mit Wolfgang Reichmann, dem bekannten Schauspieler, einen Text eingeübt hat.
So intensiv!
O‑Ton Riva (AUF BASELDEUTSCH) Ja, der Wolfgang Reichmann. Die haben sich sehr gut verstanden
O‑Ton Gardini (AUF BASELDEUTSCH) Ganz wunderbar, wie die zusammen den Text erarbeitet haben!
DIE AUFNAHME :
SPALLART / REICHMANN Ich frage nun –– rhetorisch: Soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische –– ––
SPALLART Ich würde überlogisch sein! –– –– Ich frage: Soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische ?
REICHMANN Was liegt daran, ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben ? –– ––
SPALLART Er sagt: Schauen Sie, was ist denn schon Sterben, was ist schon Blut, was sind Leichen ? Nichts. Das ist ja der gemeine Trick, was alle faschistoiden Typen haben, was der Adolf hatte und was der Goebbels hatte.
SPALLART / REICHMANN Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt ? Soll überhaupt ein Ereignis, das die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt, der Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen?
Erzähler Georg Büchner, „Dantons Tod“. Gerade erst aufgenommen.
O‑Ton Riva Und –– ja, das war dann das Ende. Die Frau hat dann noch ein paar Mal geschrieben. Und ich hab ihr dann eine Todesanzeige geschickt.
Erzähler (ZITIERT EHER BEILÄUFIG):
„Wir zeigen an den Tod unseres Matthias von Spallart, der in die ersehnte Ruhe und Ewigkeit heimkehren durfte. Besichtigung bis Donnerstag, den 22. September 1981, auf dem Friedhof am Hörnli, Basel“.
O‑Ton Salmony Dieses Thema hat ihn schon lange beschäftigt. Er hat Jean Amery gelesen, „Hand an sich legen“.
Erzähler (ZITIERT)
„Muss man leben, muss man da sein – nur weil man einmal da ist ?“
STIMMEN
Salmony / Riva / Palm / Heilmann / Sass / Gardini / Baumgartner (MONTIERT)
–– Ob wir nun wirklich dahinter kommen, warum er sich aufgehängt hat…?
–– Es ist nicht das erste Mal, dass er versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Das hat er schon einmal versucht, als er im Militär war. Es ist sein gutes Recht, und man hat das so hinzunehmen.
–– In dieser Welt, wie sie geworden ist, hätte er sich gar nicht halten können.
–– Das hat er irgendwo gespürt, dass der Raum immer enger wird.
–– Der hatte so hohe Ansprüche an sich. War ja auch Bergsteiger. Weißt du: die Viertausender! Das ist hoch hinauf! Hoch hinauf! (SIE LACHEN) Da braucht es nur noch etwas kleines … und …
–– Ich denke, er hatte kein einfaches Leben – mit sich selber. Wirklich nicht!
Erzähler Und der Kunstkopf ?
O‑Ton Buggert Diese Technik war nicht ausgereift. Es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass wir lebenden, durch die Welt gehenden Menschen teilweise mit unseren Augen hören. Unsere anderen Sinne unterstützen das Hören. Und wahrscheinlich ist es auch, dass wir mit den Ohren ein bisschen sehen.
Vieles, was wir hören, ist eigentlich gar nicht zu hören, sondern das hören wir hinein.
O‑Ton Baumgartner Schade, dass sich die Technik nicht durchgesetzt hat.
In „Brasil“ war sie genau richtig.
Erzähler Der Autor tot, das Radiostück „Brasil“ nicht fertig. Im Funkhaus des koproduzierenden HR in Frankfurt sind Kollegen mit den letzten Handgriffen beschäftigt. Sprechertexte werden aufgenommen und noch einmontiert.
Von Spallarts Asche im Familiengrab auf dem nahen Hauptfriedhof.
O‑Ton Riva Er hat zu mir gesagt: Wenn mir mal etwas passiert – ich will nur an einem Ort liegen, und das ist bei meiner Mutter im Grab.
O‑Ton Gardini Und da liegt er in Frankfurt wenige Meter vom Studio weg. Und ich bin da am Abend nach den Aufnahmen über den Friedhof gegangen und dachte: Ich muss den Matthias noch sehen – ich will das Grab noch sehen.
Und es war alles zugeschneit. Und da ging ich an die Pforte und hab nach der Nummer gefragt – wo er etwa liegt. Und da hat er mir eine Nummer gegeben und gesagt: “Dritter Cran (franz.) C” und so.
Meine Schritte waren die einzigen in diesem weißen Schnee. Und alle Gräber zugedeckt. Und ich bin da hin und her gegangen und hab das Grab nicht gefunden. War völlig verzweifelt. Ich wusste: Das muss ganz in der Nähe sein. Ich finde es nicht. Und ich arbeite seit drei Tagen an seinem Projekt. Und er weiß nicht, wie toll das geworden ist, das Ganze.
Erzähler „Brasil“ erringt den Schweizer Radiopreis „Prix Suisse“. Beim Prix-Italia-Wettbewerb in Venedig trifft das Hörstück knapp daneben. „Könnte vielleicht etwas fröhlicher sein“, sagt ein Jury-Mitglied in der Mittagspause.
(GELÄCHTER) Gardini That’s life !
***
Info: Ekkehard Sass war Mitarbeiter am Manuskript von „Brasil“.
Aldo Gardini ––> Mitgestalter der Klang-Dramaturgie, Tontechniker und Featureautor bei Radio Basel.
Stefan Heilmann und Claude Pierre Salmony ––> Funkregisseure, Kollegen von Matthias von Spallart.
Mareile Grieder ––> Halbschwester von Matthias von Spallart. IhrVater, Günther Rittau, war Kameramann bedeutender Filme: „Metropolis“, „Der blaue Engel“, „Kinder, Mütter und ein General“.
Verena Palm ––> Tontechnikerin in Basel.
Dr. Christoph Buggert ––> Leiter der Hörspiel-Abteilung des Hessischen Rundfunks von 1976 bis 2002.
Der Dramaturg Nikolaus Klocke hat die Produktion von „Brasil“ im hr betreut und mit hr-Regisseur Ferdinand Ludwig und Aldo Gardini nach Spallarts Tod zu Ende gebracht.
Walter Baumgartner ––> Schweizer Schauspieler, Autor und Hörspieldramaturg. Christine Riva ––> lebte zehn Jahre mit Matthias von Spallart zusammen.
Alles oder nichts
Eine Mail über die Entstehung des Radiostücks „Der Kunstkopf-Mann“
Juli 2018 – Lieber neugieriger N. N.
Die Recherchen und Aufnahmen für das gedachte „allerletzte“ Projekt, das mich hinterrücks angefallen hat – ein Feature ? Hörspiel ? Eine Hybridform oder „nur“ ein langer Text in Romanform ? – habe ich nun größtenteils hinter mir. Der viertägige Aufenthalt in Basel (Heidi mit separatem Lady’s program) war eine reine Freude und der olle Autor wieder mal echt glücklich. Viermal fuhren wir morgens mit der S‑Bahn aus Lörrach uff Arbeet, weil ein Schweizer Hotelzimmer zweieinhalb mal so teuer gewesen wäre. Dafür waren die dortigen KollegInnen mit ihren Erinnerungen, ihren Analysen, der Offenheit und Gastfreundschaft geradezu verschwenderisch.
Hier noch mal die Kürzestfassung meiner akustischen Träumerei (hab’ noch keinen Sender kontaktiert, weil ich erst den größten Teil der Recherchen hinter mich bringen wollte):
Das Stück – nennen wir ’s mal so – handelt von dem Schweizer Kollegen Matthias von Spallart, der vor 35 Jahren mit Nagra und Kunstkopf-Equipment (Sennheiser-Bügel) in den amazonischen Regenwald aufbrach, auf ganzer Linie scheiterte und, noch ehe das Klanghörspiel fertig produziert war, in einem Wald bei Basel erhängt gefunden wurde. Für die Rekonstruktion gibt es eine Menge Interviews und alle nur denkbaren akustischen Dokumente einschließlich der Sendefassung, die beim HR nach dem Tod des Autors entstand.
Die Story ist vielschichtig und reicht weit über das “private” Schicksal hinaus. Sie berührt auch die Radiogeschichte. Als einer der Ersten wollte Sp. mit dem gerade in Mode kommenden Kunstkopf einen halben Kontinent in Tönen und nur in Tönen “einfangen” und dieses Klanbild mit einer ökologischen Warnung vor der Vernichtung des Regenwalds verknüpfen.
Diese Tendenz stammte ursprünglich von Ekkehard Sass, einem der meistbeschäftigten SFB-Featurianer, den ich in der Nähe von Basel 84jährig aufgespürt und befragt habe. Dann gab ’s noch neben Aldo Gardini andere Kollegen und Ex-Kollegen aus dem Baseler Funkhaus, die Schwester und eine ehemalige Geliebte von Sp., in Deutschland u. a. Ursula Ruppel (die als HR-Hörspielchefin mit Unterlagen aus dem Archiv geholfen hat) und Christoph Buggert, der seinerzeit federführend war.
Das Projekt musste scheitern, zumal sich Sp. vom Subkontinent Amazonia und letztlich auch von einer brasilianischen Sängerin überwältigen ließ, die ihm wie eine Göttin des Ursprünglichen erschienen sein muss. Leicht zu erkennen, dass ich mir – eigentlich zum ersten Mal – eine STORY und eine Art Romanfigur als Protagonisten angelacht habe.
Fast alle erzählten mir, dass “Brasil” – so hieß die Sendung schließlich – zu Spallarts Opus Magnum werden sollte. Welcher unserer heutigen Kollegen verbindet sich noch so existentiell mit einem einzelnen Projekt?
Nun weißt Du alles und darfst mich ruhig bedauern. Aber wenn ’s geling ?
Und wenn nicht ?
➤Features (deutsch/Info-Texte)