Fotografie und Hörkunst – Zwei Ausdrucksmittel im Vergleich. Ansprache zur Eröffnung einer Retrospektive von Arbeiten des Fotografen Wolfgang Schreier in Vok Dams ATELIERHAUS, Wuppertal (30. Juni 2019).
Wir beide, lieber Wolfgang, sind die Vertreter „armer“ Medien – der Fotograf und der Hörfunkautor. Dort, wo wir uns seit 50 Jahren herumtreiben, fehlt es an allen Ecken und Enden. Arte povera – um einen Begriff aus der Bildenden Kunst zu verwenden.
Zunächst fehlt bei 70 der 80 ausgestellten Fototafeln die Farbe. Alles schwarz/weiß! Doch gerade solches „Fehlen“ macht den Reichtum unserer beiden Gattungen aus. Was mich betrifft, abstrahiert der Hör-Funk von der “Wirklichkeit”, indem er einen unserer Hauptsinne ausblendet. Der Medientheoretiker Rudolf Arnheim versah ein Kapitel seines wegweisenden Buchs “Rundfunk als Hörkunst“ (1933) mit der Überschrift „LOB DER BLINDHEIT“.
Er meinte: Jede ABSTRAKTION ist zugleich KONZENTRATION. Jeder Mangel kann ein Gewinn sein. Der historische Stummfilm musste auf Sprache und Farbe verzichten. Die instrumentale Musik verzichtet – üblicherweise – auf Wort und Bild, Tanz und Pantomime auf das gesprochene Wort, die Literatur auf Stimme, Bild und Bewegung, die bildende Kunst auf Bewegung und Geräusch.
Durch das „Fehlende“ entsteht – zumal bei der schwarz/weißen Fotografie – etwas Neues, allgemein Gültiges. Zum Beispiel stellen die Naturaufnahmen von Ansel Adams aus den US-Nationalparks immer auch „Landschaft an sich“ dar. Die Schwarz/weiß-Abbildung einer Stadt, von den nahen Hügeln aus gesehen, wird zur Idee dieser —- einer ––– Stadt. Womöglich vieler Städte unserer Welt.
Das Abbild wird Archetypus, Monument, Symbol; auch Wachruf, Aufschrei, Appell – so das apokalyptische Gewimmel der Menschenleiber in den Goldminen der Sierra Pelada, das Sebastião Salgado mit seinen Schwarz/weiß-Bildern auf unsere Netzhaut gebrannt hat. Auch die anrührende Unschuld der Gestalten Charly Chaplins ist nur in Schwarz/Weiß denkbar.
Der Film verlor viel von seiner Faszination, als er „bunt“ wurde. Plötzlich spielte die Farbe des Kleides der Protagonistin eine überproportionale Rolle. Immer mehr an Äußerlichkeiten musste hinzugetan werden, um die ursprüngliche Wirksamkeit des „Lichtspiels“ zu erreichen.
Ich erinnere mich an ein körperlich „ergreifendes“ Kino-Erlebnis während einer Zusammenkunft der Steering Group für die Internationale Feature Konferenz (IFC). Unter der Etage des Hotels in Bologna, in der wir wohnten, lief dreimal täglich der Katastrophenfilm „Alarme Rosso“. Bei einer Kernszene, die wir bald kannten und bang erwarteten, begann das Gebäude zu vibrieren und einmal löste sich dabei eine Diele neben meinem Bett.
Dass Bilder eigentlich im Kopf entstehen beziehungsweise dort vollendet werden, war dem Regisseur fremd. Unser Sohn hingegen, gerade Sechs geworden, befand, nachdem wir in Berlin den Schwarz/weiß-Fernseher gegen unsere erste Farbglotze eingetauscht hatten, die Farben seien früher „so viel schöner gewesen“.
Inmitten unserer quietsch-bunten Realwelt hat die stille Kunst der Fotografie noch einen anderen Reiz: Diese störrische Alte mit ihren beinah 200 Jahren auf dem Buckel ist WIDERSTÄNDIG. Sie entzieht sich allen Präferenzen der Jetztzeit: Dauertempo, steter Wechsel, Atemlosigkeit, Real Time, Live Stream, 5 G, Augmented Reality…
Seit der vermutlich ersten fotografischen Aufnahme, dem „Blick aus dem Arbeitszimmer“ von Joseph Nicéphore Niépce 1826, gab es immer wieder Versuche, das „arme Medium“ um etwas „Fehlendes“ zu „bereichern“, zum Beispiel das gleichsam greifbare – wenn auch illusionäre – Wirklichkeitserlebnis.
Mitte des vorletzten Jahrhunderts kam die Stereoskopie in Mode – die Abbildung der Welt in 3D durch zwei leicht gegen einander versetzte Objektive (unserer Augenstellung abgeschaut). Die Betrachter sahen mit ihrem Betrachtungsgerät, in das man Pappkarten mit den Fotoprints der stereoskopischen Doppelaufnahme schob, Kamele vor den Pyramiden von Gizeh drei Schritt vom heimischen Sofa entfernt.
Dass die Wirkung der Stereophonie auf der technischen Nachahmung unseres Hörsinns basiert – zwei Ohren nehmen ein Schallereignis um Millisekunden versetzt und dadurch unterschiedlich wahr – steht auf einem anderen Blatt.
Übrigens plädierten zwei internationale Foto-Koryphäen in ihren Vorträgen bei einer Rundfunk-Fachtagung vor nicht allzu langer Zeit für die – wörtlich – „Bebilderung des Radios“.
Hier, an diesen Wänden, bewegt sich nichts. Nichts vibriert katastrophisch. Nichts überfällt die Ohren als Zusatzreizung in Dolby Surround. Nichts rast, wie die zeit-gerafften Wolken im Fernseh-Dokfilm oder lässt als „Cinemagram“ (GIF) im starren Reklamefoto ein einzelnes Fähnlein mit irgend einem Firmenlogo flattern. Kein Zoom, kein Schwenk. Hier herrscht in großer Selbstverständlichkeit tradierte Fotokunst, die sich mit allen Entwicklerflüssigkeiten, Unterbrecherbädern und Fixierlösungen gewaschen hat. Ehrbares Handwerk.
Und dennoch war der Klick des Fotografen, der jedem der hier ausgestellten Bilder voranging, in seiner Finalität ein RADIKALER VORGANG. Wie der Schütze das Projektil nicht mehr zurückrufen kann, ist das „geschossene“ Bild endgültig – der für immer vergangene „Augenblick“, Erinnerung. Gewesenes.
Auf den Originalton im Radio übertragen: Gesprochene Wörter sind flüchtig. Schon eine Stunde nach dem Interview möchte ein Gesprächspartner vielleicht Nuancen anders setzen, Wertungen zurücknehmen. Er fühlt sich – im Terminus der Dunkelkammer – auf dem Tonträger „fixiert“.
Tonaufnahmen und Fotografien sind eingefrorenes Leben, während der dazu gehörende Mensch weiterlebt und seine Meinung – vielleicht sogar sein Aussehen – immer wieder ändert. Wie kann ich meinem Gesprächspartner am Tag, an dem er meine fertig-produzierte Feature-Sendung gehört hat, noch „ins Auge schauen“ ? Er ist nicht mehr der Selbe! Nicht mehr „der von Gestern“ oder Vorgestern – ebenso wenig wie „er“ oder „sie“ auf dem einmal geschossenen Bild „Heutige“ sind.
Nun bleibt dies alles – Praise the Lord! – in der Regel ein künstlerischer also lustvoller Vorgang. Sonst hätten wir beide – Wolfgang als Fotograf, ich als Radioautor – nicht jahrzehntelang so begeistert und meist ohne schlechtes Gewissen den Auslöser bzw. die Starttaste gedrückt.
Ja, wir sind – bei aller Mühe – privilegiert. Glückliche Menschen !
In dem gewöhnlich rechteckigen Ausschnitt der Welt, den er sich absteckt wie einen Claim, ist der Fotograf König, Gott. Er bannt die Zeit. Er lenkt unseren Blick und hält ihn an seinem Ort des Sehens, Erkennens, Nachdenkens, der Erkenntnis eisern fest. Der Blick des Fotografen ist – sagen wir’s ruhig – im besten Sinn autoritativ. Wir sind ihm ausgeliefert. Und wir, zurückschauend, liefern uns ihm aus.
Dass Fotografie „objektiv“ sei, ist ein Missverständnis und wird uns schreibenden und funkenden Autoren gern vor die Nase gehalten. Einer, der es wissen muss – der zeit seines Lebens gesellschaftlich engagierte Fotograf Günter Zint – sagte bei einer anderen Ausstellungs-Eröffnung auf meine Fangfrage:
„Ob ich objektiv bin ? Na klar! Ich trage mein Objektiv vorn auf dem Bauch!“
Und so erkläre ich, ohne dabei rot zu werden:
Die Aufnahmen des ernsthaften Fotografen sind immer Selbstporträts, „Selfies“ im weitesten Sinn – wie die Texte des Radioautors (selbst die kürzesten!) immer autobiografisch sind. Schon die junge Frau auf dem Plakat dieser Ausstellung ist für mich der gespiegelte Blick des jungen Wolfgang Schreier auf „seine“, „unsere“ Epoche, die wir beide – ähnlich und doch jeder anders – in Erinnerung haben.
Allein die freche Berliner Nase, die ich zu erkennen glaube, erzählt von den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – von Jugend, Trotz, Selbstbewusstsein, künstlerischem Ernst. Vom Klima einer vergangenen, nicht zurückholbaren Zeit (…)
Das Unwiederholbare
Zwei Fundstücke
„Der Kollege hat vor mehr als zehn Jahren mal im Halteverbot geparkt (…) Die Hinterräder ragten weit auf den Gehweg. Kunden, die (…) aus der ‚Schlecker‘-Filiale am Eck kamen, mussten sich an seinem dunkelblauen Opel Astra vorbeiquetschen. Eine Frechheit, die für alle Zeiten als Bild dokumentiert ist, im Internet, für jeden einsehbar bei GOOGLE STREET VIEW (…) Der Astra ist längst verkauft, der Kollege parkt heute bestimmt vorbildlich. Was aus den ‚Schlecker‘-Frauen wurde, weiß leider niemand so genau (…)
(„Der Tagesspiegel“, 25. 7. 2019)
„…Und eilig hatte ich es, weil mir bewusst war, dass ich das, was ich jetzt nicht hörte, nie mehr hören würde, es würde keine Wiederholung geben (…) jedes nicht wahrgenommene und nicht verstandene Murmeln wäre für immer verloren (…) An dem Tag, an dem wir nicht zusammen waren, werden wir für alle Zeit nicht zusammen gewesen sein, was man uns am Telefon sagen wollte, als man uns anrief und wir nicht abnahmen, wird niemals gesagt werden (…) und wenn wir vorbereitet sind und sie (die „unauslöschlichen Dinge“ – H. K.) notieren oder aufnehmen oder filmen und uns mit Erinnerungshilfen umgeben (…) selbst bei dieser endlosen Perfektionierung der Wiederholung werden wir die Zeit verloren haben, in der die Dinge wirklich geschahen (…)
(Javier Marías, „Mein Herz so weiß“, Barcelona 1992 / Stuttgart 1996)