Zwei Beiträge über die Kohärenz von technischer Entwicklung und individuellem Anspruch.
Ran an den Speck!
Unter anderem Titel erschienen in CUT-Magazin (Feature-Workshop, 2000).
ANFRAGE: Ich arbeite an einem Feature über südbadische Geburtstags-Riten der 50er Jahre und möchte Zeitzeugen befragen. Allerdings widerstrebt es mir außerordentlich, dieselben durch meine Tonaufnahmen zu belästigen. Alles sollte so natürlich wie möglich ablaufen. Bitte, raten Sie mir, wie ich die Aufnahmeapparatur unauffällig platzieren kann, ohne daß der Ton leidet.
RATSCHLAG: Vom Thema einmal abgesehen … Am besten, Sie lassen die Technik im Sender und benutzen weiter ihren guten alten Stenoblock. Wer das Handwerk nicht schätzt, sollte sich damit nicht quälen. Ach, wir alle möchten manchmal unsere Ausrüstung unsichtbar machen — und uns selbst dazu. Von wegen Diskretion, Schonung der Intimsphäre. Aber in neun von zehn Fällen versuchen wir doch nur, unsere eigene Befangenheit oder ein Gefühl der Inkompetenz auf den Menschen, der uns beim Interview gegenüber sitzt, zu projizieren.
Das Mikrophon, physikalisch betrachtet, verlangt Nähe zum Objekt. Je größer der Abstand, um so höher auch der Anteil der meist unerwünschten Nebengeräusche. Da sich Schallwellen geradlinig fortpflanzen und Hindernisse (siehe die Schallschutzmauern an Autobahnen) ihre Wirksamkeit deutlich herabsetzen, verbietet sich jede Camouflage: Das Mikro hinter aufgetürmten Zierkissen ist unsichtbar — aber leider auch überflüssig.
Noch ein paar Gratistips ? (…)
Das Radio überlebt
mit den Autoren
Debattenbeitrag für den Evangelischen Pressedienst 2014
Ich schreibe als Autor und Regisseur, der 40 Jahre lang für den Hörfunk produziert hat. Ich schreibe aus der Nische „Feature“ in der Nische „Kulturradio“. Lieber wäre mir, meine Angebote würden auf dem Marktplatz der Ersten Programme gehandelt (…) Ja, wir schreiben und denken und produzieren nicht für ein Massenpublikum. Die Zeit, da sich „die Menschen draußen im Land“ zur selben Stunde um den traulichen „Apparat“ wie um ein Lagerfeuer versammelten, liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Allerdings sagte damals schon Ernst Schnabel, Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg, ihm sei unklar, warum die „Hörfunkseite sich nicht erleichtert gefühlt hat durch die Tatsache, dass sie durch das Fernsehen von der Verpflichtung, das Massenmedium comme il faut zu spielen, entbunden wurde. Es ist ja doch eine ungeheuere Erleichterung und eine riesige neue Aufgabe, kein Massenmedium mehr zu sein !“ – eine Äußerung, mit der sich noch heute jeder Rundfunk-Manager um Kopf und Kragen reden würde.
Wir schreiben und wir senden nicht für alle. Das klingt überheblich, aber nur für den, der real-existierende Interessen-Unterschiede nicht gelten lässt. Wir möchten für alle da sein und erreichen doch bestenfalls zwei bis fünf Prozent.
„Man kann den Zerfall vormals homogener Sinnwelten in ermüdenden Schleifen beklagen, bejammern, beweinen – oder aus den Bergwerken der Vergangenheit das bergen, was man in Zukunft noch gebrauchen kann. Denn auch was wir aufheben, schützen, bewahren wollen, hängt mehr als früher davon ab, wo wir hinwollen“, bemerkte der Schriftsteller und Journalist Mathias Greffrath in Folge 10 der epd-Kulturradio-Debatte.
Ja, wohin ?
Die Panik, die in manchen Diskussions-Beiträgen anklingt, hat auch Autoren erfasst. Ende Januar 2012 versammelte der fast 83jährige Peter Leonhard Braun rund 50 Radio-Professionals auf dem Leipziger Mediencampus zu einem internationalen Think Tank „The Radio Feature in the Digital Age“, um der dringenden Debatte über die Zukunft des Mediums neuen Schwung zu verleihen.
„I can record audio, edit it and make it available directly from my mobile phone“ (…) „A remarkable tool for getting the audiences’ voice on air is a mobile app that lets people record and hand in their recordings with a single tap“, schwärmten Teilnehmer in dem begleitenden Blog.
Bedeutet: Zur netzweiten Verbreitung der eigenen akustischen Notdurft genügt ein einfacher Klick. Begeisterung über die digitalen Werk- und Spielzeuge sprach aus solchen Zeilen. Von „Radio“ und „Feature“ war schon gar nicht mehr die Rede.
„A single tap“ – und ab in die Cloud.
Wenn ich könnte, würde ich das „recorded audio“ und die darin verflüssigten Radiomenschen schleunigst aus der Cloud zurückholen. Wir Autoren (so würde ich sagen) sind mehr als Bits- und Bytes-Agenten. Die Abbildung der komplexen Wirklichkeit durch Komplexität = Datenmenge relativiert den Wert der oft gepriesenen Allverfügbarkeit unseres gesammelten Weltwissens.
Zu dem, „was eben nicht von den neuen medialen Diensten geleistet werden kann“, zählt der Medienwissenschaftler und Publizist Dietrich Leder in epd 34/12 folglich „die Kategorie des Zusammenhangs, also das Herstellen von Kontext etwa von individueller Erfahrung und allgemeiner Entwicklung“.
Die Schere zwischen dem atemraubenden Tempo der kommunikations-technischen Entwicklung und der nachhinkenden Denk- und Begriffswelt, in der wir aufgewachsen sind, öffnet sich immer weiter. Ein solcher Spalt klafft in uns selbst. Wir hören und fühlen in real time und linear, denken zugleich aber auch in den rasenden Bocksprüngen des search & click, copy & paste. „Denken“, schreibt der frühere HR-Hörspielleiter Christoph Buggert in einem Aufsatz, „ist heute eine Form des Surfens geworden. Mit Daten übersättigte Hirne produzieren keine Eigeninhalte mehr“.
„User generated contents“aus dem Daten-Magazin des World Wide Web mangelt die Ebene der eigenen Erfahrung. Technische Verlinkungen täuschen Denkzusammenhänge vor und bleiben doch nur Rechen-Operationen. Operativ-zielgerichtetes Denken streift allenfalls die Oberfläche. Effektivität und Kreativität sind keine geschwisterlichen Begriffe. Unser traditionelles Denken schloss — und schließt — Umwege ein.
Welche „Platzvorteile“ das Radio (oder wie unser Erzählmedium in nicht so ferner Zukunft anders heißen wird) durch Verheiratung mit anderen Medien, zum Beispiel Internet und Video, aufs Spiel setzt, kann hier nur angedeutet werden. Radio abstrahiert von der Wirklichkeit, indem es einen unserer Hauptsinne – den Sehsinn – nicht in Anspruch nimmt. Abstraktion bedeutet auch Konzentration. In unserem Fall schafft diese Raum für die Fantasie und gedankliche Mitarbeit der Zuhörer. Die Krawatte des Sprechers interessiert eben nicht.
Unser „armes“ Medium möge weiter auf seine Reichtümer bauen: Klang, Wort, Gedanke. Das erhöht seine Lebenserwartung.
Ich und mein Bildschirm –
Vom angstfreien Zusammenleben mit den Tools
Um ein Missverständnis auszuräumen: Auch ich nutze „das Netz“ als Zweitgehirn und Kommunikationsplattform. Doch wir sollten Werkzeuge und Inhalt nicht durcheinanderbringen. Als einer der ersten „Freien“ mit eigenem Studio wechselte ich 1995 nach 15 Jahren von der Analog-Produktion ins Digitale. Früher hatten wir für eine Stunden-Sendung 40 bis 60 Spulen Aufnahme-Tonband und 30 große Studio-Bandkuchen zu bearbeiten — ein Gewicht von schätzungsweise einem Zentner. Bald reichten vier Flash-Cards in Briefmarkengröße, das Vielfache meiner Aufnahmen passte auf eine Festplatte, und für das Studio genügte ein Schreibtisch.
Analog denken, digital arbeiten – dabei ist es vorläufig geblieben.
Erste Person Singular –
Subjektivität im dokumentarischen Fach ?
Ein Mensch sein, schreibt Jean-Paul Sartre sinngemäß, bedeute, auf die Bedingtheiten und Zufälle des Lebens, auf die geschichtliche Welt mit ihren unvorhersehbaren Winkelzügen eine eigene Antwort zu finden.
Wieder zu entdecken ist das „biographische Ich“ – der Autor/die Autorin als Person. Der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft (1911–1990), Lehrmeister und Vorbild für zweieinhalb Generationen von Kulturjournalisten, stellte sich zu Beginn der ersten Ausgabe seiner wöchentlichen RIAS-Sendung “Die Stimme der Kritik” am 7. Februar 1946 folgendermaßen vor:
„Luft ist mein Name. Friedrich Luft. Ich bin 1,86 groß, dunkelblond, wiege 122 Pfund, habe Deutsch, Englisch, Geschichte und Kunst studiert, bin geboren im Jahr 1911, bin theaterbesessen und kinofreudig und beziehe die Lebensmittel der Stufe II. Zu allem trage ich zum letzten Anzug, den ich aus dem Krieg gerettet habe, eine Hornbrille auf der Nase …“
Sicher zaubert die Erwähnung der Jahreszahl 1946 auf die Gesichter mancher Medien-Nerds das zu erwartende breite Grinsen: „Alles klar … Opas Radio – ist das nicht schon lange tot ?“
Gegenfrage: Geht und ging es nicht immer darum, dass Menschen Menschen etwas mitteilen, gleich in welchem Medium, auf welcher Plattform –„dire quelque chose à quelqu‘un“, wie Matthias Greffrath einen früheren Radio-Kollegen zitiert ? Auch in unserer Mitmachwelt bleibt Radio „the best storyteller that is“ (Orson Welles vor vielen Jahren), nicht zu verwechseln mit Märchenstunden auf Omas Knie. Radio-Erzählen kann Diskurse auslösen, Zustimmung und Widerspruch, und auch im einzelnen Zuhörer „innere Debatten“ anzetteln – vorausgesetzt, der Erzähler lebt in dieser unserer Welt und versteht sein Handwerk.
In dem Feature, das ich meine, spricht nicht „das Radio“. Feature ist ein Autoren-Format und unterscheidet sich dadurch von anderen, nicht minder wichtigen Funkformen (…) Vom Inhaltlichen abgesehen: Was mich betrifft, höre ich viel lieber Menschen statt „Sendungen“ zu – Autoren, die mich meinen; Stimmen, denen ich bereitwillig „mein Ohr leihe“.
Ich selbst benutze die wohltätigen drei Buchstaben I‑C-H als vorbeugendes Hausmittel gegen den digitalen Herdentrieb. Mit der Inflation des kommunikations-technisch Möglichen erscheint mir die einzelne Stimme, ihr Klang und ihre Überzeugungskraft, in unserem zerfasernden Medium immer kostbarer – wobei formal betrachtet „Erste Person, singular“ ja nicht notwendigerweise die semantische Ich-Form bedeutet. Auch die subjektive Montage oder der von fremder Stimme gesprochene Text kann Persönlichkeit transportieren, wiedererkennbar weil einzigartig.
Der vorsätzlich provokante Titel meines Buchs „Objektive Lügen — subjektive Wahrheiten“ enthält bereits eine These: Alles, was wir Feature-Autoren von uns geben, ist und bleibt biographisch unterfüttert – so sehr wir uns um eine „objektive“ Sicht bemühen.
(Einschränkung: Von Reportern und Nachrichtenprofis, die „das Aktuelle“ bedienen, erwarte ich hingegen die kurze, nützliche, im Zweifel nachprüfbare Information ohne die Aura komplexer Persönlichkeiten. Jeder an seinem Platz !)
Meine Nischenexistenz gibt mir Freiheiten, die sonst eher für Fiction-Autoren reserviert sind, und die zum Beispiel von den Vertretern des „New Journalism“ in den 60er und 70er Jahren (Norman Mailer, Hunter S. Thompson, Truman Capote oder den Autoren des deutschen Magazins „TransAtlantik“) weidlich genutzt wurden.
Die „Neugierde aufs Faktische“ (Egon Erwin Kisch) wird heute aus vielen Quellen befriedigt. Was ich gegen die Verfechter einer verlogenen weil unerreichbaren „Objektivität“ verteidigen will, ist ein „Radio der Autoren“, ähnlich dem „Autorenfilm“. Ich setze auf vernehmbare Einzelstimmen – auch im Globalen Mediendorf der Zukunft.
Von jüngeren Kollegen erfahre ich immer wieder, dass die verschleiernde Schein-Neutralität im dokumentarischen Rundfunk und Fernsehen erneut zum Kanon des „guten Journalismus“ gehört. Autoren sollen sich als Interviewer selbst entleiben (“herausschneiden”); alles vergessen, verdrängen, unterdrücken, was in ihnen vorgeht; die wahren, oft einzigen Reichtümer eines Menschen (Gefühle und Erfahrungen) ungenutzt lassen. Sie sollen sich anonymisieren, in Neutra verwandeln, in Recherche- und Formulierungs-Automaten, die man auf jedes beliebige Thema ansetzen kann – “vorurteilslos”, “nüchtern”, “professionell” – eine bequeme Selbstsuspendierung von unserer eigentlichen Aufgabe, Autoren, also „Urheber“ zu sein. Urteile und Befindlichkeiten werden an die Vox pop delegiert (deren Zustandekommen, wie wir alle wissen, ebenso subjektiv ist, wie die Wahl und Anordnung unserer Wörter im noch so „objektiven“ Text).
Behauptete Objektivität ist — objektiv betrachtet — eine Lüge. Der dokumentarische Autor bewegt sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Verdichtung und Fiktionalisierung. Gradmesser für das Gelingen kann keine nachprüfbare „Authentizität“ sein, sondern einzig und allein die aus dem Gehörten ableitbare Glaubwürdigkeit.
Ernest Hemingway: „A writer‘s job is to tell the truth. His standard of fidelity to the truth must be so high that his invention out of his experience should produce a truer account than anything factual can be“.
Orson Welles: „When I look through the camera, I need to look with my own innocent eye (…) Nothing ’s true for everybody“.
Die „wahrere Wahrheit“
Die Wirklichkeit im Radio ist, was wir von ihr mitteilen. Wir, die Einzelnen, die Subjekte mit Namen und Geburtsdatum. Wir — die Autoren ! Ich war dort – nicht “das Radio”. Ich habe mich kundig gemacht. Ich kann nur mitteilen, was ich als professioneller Wahrnehmer erlebt, gesehen, gehört, mir gedacht habe. Ich bin ich — kein mediales Neutrum.
Ein Joker, mit dem sich das öffentlich-rechtliche Radio für die Zukunft positionieren könne, sei „die persönliche Verbürgung“ dessen, was gesendet wird, schrieb Dietrich Leder in epd 34/12. Gerade weil dieses Angebot „durch das besondere Subjekt verbürgt“ sei, könne es nicht „durch einen Algorithmus ersetzt“ werden.
Die große Hörform, davon bin ich überzeugt, wird mit den Autoren, ihren Eigenheiten, ihrer Kompetenz, auch mit ihren kleinen Schwächen überleben – auf anderen Bühnen unterschiedlicher Größe wahrscheinlich und in schwer voraussagbaren Rollen und Identitäten.
Das „Kulturradio“ überlebt nicht durch die Autoren allein, doch auf keinen Fall ohne sie.