Faktensammlung und Erlebnisbericht. Erschienen in CUT-Magazin (“Feature-Workshop” 2000) –
Manchmal kommt es mir vor, als schäme sich das Feature seiner Herkunft. Dann setzt es den Federhut auf und nennt sich „Radiokunst“ — und kann doch seine journalistische Herkunft nie ganz verleugnen. Versucht das Feature nämlich auf das Faktische, die „Wirklichkeit“ als Bau- und Nährstoff zu verzichten, tendiert es zum Kunsthandwerk.
Schon das Wort stammt aus der Zeitungssprache: Ein Thema „featuren“ hieß — und heißt -, ihm eine Form geben, es „aufmachen“. Ursprünglich war „Feature“ also nichts als die Verpackung eines journalistischen Inhalts. Das Titelblatt repräsentierte das „Feature“ einer Zeitung, ihre spezifische Art und Gestalt. Es sollte — attraktiv und wiedererkennbar — die Käufer verführen.
Das englische “documentary” verweist auf die klassische Aufgabe des Journalisten, Ereignisse und Erscheinungen der Zeit zu dokumentieren. In Polen, einem durchaus bedeutenden Feature-Land, benutzt man lieber das Wort reportaz. „Ohne zu reportieren, das heißt, das (…) für die Behandlung des Stoffes wichtige Material herbeizuschaffen“, gibt es laut Egon Erwin Kisch, keine geistige Behandlung eines Themas“. Die Linie der dokumentarischen Darstellung — der „Erzählstrang“ — müsse eine „größtmögliche Zahl“ faktischer „Durchlaufpunkte“ berühren..
Kisch war der klassische Reporter, der die Neuigkeiten aus einer fernen, dem Durchschnittsleser unerreichbaren Welt von seinen Expeditionen zurück brachte (lateinisch “re-portare”). Die Reportage war Fakten-sammlung und Erlebnisbericht in einem. Ein beträchtlicher Teil der Fakten aber ist in der vernetzten Welt des Jahres 2000 jedermann zugänglich.
Lang ist’s her, dass die Berichte des „rasenden Reporters“, reißerisch aufgemacht, in Buchform zu Bestellern wurden: „Wagnisse in aller Welt“, „Hetzjagd durch die Zeit“, „China geheim“, „Abenteuer in fünf Kontinenten“.
Die „Neugierde aufs Faktische“ (Kisch) wird heute aus vielen Quellen befriedigt. Um zu enthüllen, dass der angeblich nördlichste Punkt Europas ein Parkplatz ist, reist kein Reporter zum Nordkap. Das Sensationelle à la Kisch („Nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt“), ist alltäglich geworden. Selbst die Fernseh-„Reporter der Windrose“ mit ihrem Vormann Peter von Zahn gehören ein Vierteljahrhundert später schon einer verblassenden Medienepoche an.
Andererseits: Der Glaube, mehr Bits und Bytes — mehr blanke Informationen — würden auch mehr Offenheit und Gerechtigkeit in die Welt bringen, ist längst ad absurdum geführt. „Niemals wurde in deutscher Sprache so viel gelogen“, schrieb Joseph Roth schon 1930. „Aber über jeder zweiten Lüge steht die Bezeichnung Photographie, vor der jeder Einwand verstummt“. Tatsachen lügen auch.
Die Kriegsbilder des Fernsehens, oft unter Lebensgefahr aufgenommen, sind authentisch und — austauschbar. Der Urheber verschwindet hinter seinem „Material“, kaum anders als die Kameramänner der NS-Propaganda-Kompanien des Zweiten Weltkriegs. Verwertungsprofis an weit entfernten Plätzen („in der Heimat“) wählen aus den Bildern, was medial am stärksten kommt. Auch vor den Suchmaschinen des World Wide Web sind alle „Informationen“ gleich. Nach Eingabe des Suchworts „Holocaust“, zum Beispiel, belegen die Websites der Ausschwitz-Leugner in der Liste der Suchergebnisse vordere Plätze.
Zugegeben: Das World Wide Web hat dem Publikum die Emanzipation vom journalistisch Vorgekauten beschert. Der Mensch des 21. Jahr-hunderts informiert sich „on demand“. Es gibt immer weniger Herr-schaftswissen dank Internet. Und das ist gut. In der Flut scheinbar gleichwertiger Text- und Bildnachrichten droht der emanzipierte Netsurfer allerdings zu ertrinken.
An dieser Stelle (Blitz & Donner !) tritt der seit Jahren verschollene Reporter auf, das Individuum, der Mensch hinter den Bildern und Tönen — Leuchtturm für Netsurfer. Er könnte den Dingen ein kenntliches und menschliches Gesicht zurückgeben. Er könnte das Unfassbare des weltweiten Informations-Netzes an die überschaubare Alltags-Welt anzukoppeln — an eine Welt mit Morgen und Abend, Regen und Sonnenschein, Herbst und Winter, Freude und Frust.
Neugier und der Drang, zu ent-hüllen, sind die Haupt-Tugenden des Reporters, der diesen Namen noch verdient; der nicht nur draufhält, wo es knallt und brennt und wo gestorben wird. Stellvertretend für uns alle sieht und horcht er hin, aus nächster Nähe, ohne Scheuklappen. Er vereint den kindlich-neugierigen und den analytischen Blick. Er „hat eine Nase“ und steckt sie überall hinein — ein Ent-Decker, ein Sir Stanley oder David Livingstone oder Neil Armstrong des Alltags; einer, der durch jede Tür geht, in jeden Topf guckt.
Als mitdenkendes und ‑leidendes Wesen taucht der Reporter ein in die Wirklichkeiten anderer, ein Fisch unter Fischen in fremden Gewässern (aber nur selten anzutreffen in den Hotel-Swimmingpools). Seine Unabhängigkeit — nicht zu verwechseln mit dem buchhalterischen, zu Indifferenz oder Missbrauch einladenden Begriff „Objektivität“ — erlaubt ihm, versuchsweise die Position der anderen Seite einzunehmen — und sei es die von Jack the Ripper.
Entmystifizierung heißt seine Leidenschaft. Unbekanntes, Unerklärliches ängstigt — den einzelnen wie die Gesellschaft. Der Reporter erklärt, indem er beschreibt. Er kann Monster in Menschen zurückverwandeln und Horrorszenarien in vorstellbare Orte. Er macht die Welt wieder kenntlich.
Die Welt ist,
was wir über sie
erzählen
Ausgangspunkt des Reportagefeatures ist immer die erlebte Wirklichkeit. Der Reporter muss ERLEBEN. Wie viel er an Mut, Überzeugungskraft und ökonomischer Unsicherheit dafür investiert, ist seine persönliche Sache. Keine Standesvertretung nimmt ihm die Entscheidung ab. Erlebnisse sind individuell, nicht mehrheitsfähig und nicht beliebig reproduzierbar.
Als typische Einzelgänger, besessen von „ihrem“ Thema, sind Reporter immer in Gefahr, sich zu verrennen. Sie verlieren leicht die Bodenhaftung. Erfahrene Fluglotsen müssen sie dann behutsam zur Erde zurück- dirigieren. Die professionelle Arbeitsteilung Reporter/ Redaktion ist Voraussetzung für ein gelungenes Reportage-Feature.
Auch die Fakten, die der Reporter (zugleich der Reportage-Feature-AUTOR) zusammenträgt, sind anderer Natur als die Stoffsammlung des Internet. Er sammelt Fahrkarten und Prospekte, er notiert Farben, Gerüche, Wetterphänomene, er steckt alles ein, was am „Tatort“ herumliegt. Stoff aus erster Hand, „aus dem Leben“, ist immer eine persönlichen Wahl. „Nothing’s true for everybody“ formulierte Orson Welles in einem Interview. Der Untertitel seiner Radio-Show The Mercury Theatre on the Air hieß programmatisch „First Person singular“.
ANMERKUNG: „First person singular“ bedeutet nicht notwendigerweise die „Ich“-Form der Radio-Erzählung. Auch die subjektive Montage, der von einer fremden Stimme gesprochene Text kann Persönlichkeit ausdrücken — wiedererkennbar weil einzigartig, wie die unverwechselbare „Schreibe“.
Das Reportagefeature leistet den Sprung vom unmittelbaren Eindruck zum „Zeitlos-Allgemeingültigen“. „In jedem Einzelschicksal“, so Egon Erwin Kisch, müsse sich „das große Schicksal der Menschheit“ widerspiegeln. Persönlich gesprochen: Im Prozess der Herstellung wechsele ich, der Feature-Macher, meinen Rock — vom Reporter zum Autor, zum Publizisten.
„Vor Ort“ bin ich vor allem professioneller Augen- und Ohrenzeuge, beobachte, registriere und erlebe; ich lasse mich beeindrucken; ich genieße die Erregung des Augenblicks, des Zusammentreffens mit einer mir fremden Person u.s.w. („Coole Typen“ sind in unserem durchaus emotionalen Gewerbe nur zweite Wahl). An Schreibtisch und Computer und dann im Studio aber, beim Sichten der Beute, dominieren analytischer Verstand und gestalterische Phantasie. Nun nur noch Autor, ordne ich ein, lote aus, decke verborgene Schichten auf, schaffe Zusammenhänge.
Nicht objektiv ?
Mein Objektiv hab’ ich
vor dem Bauch
(Günter Zint, Fotograf)
Das Reportage-Feature im Rundfunk ist natürlich „akustisch“. Der Autor/ Reporter (diese Regel gilt seit der Erfindung der Stereophonie und ihrer ersten Erkundung im Dokumentar-Radio durch Peter Leonhard Braun in den 60er Jahren) schreibt seinen Text „in die Akustik hinein“. Was der am Ort aufgenommene O‑Ton (Wort, Musik, Geräusch) hinreichend ausdrücken, muss der Autor kein zweites Mal sagen. Das Reportage-Feature will gehört und nicht gelesen werden.
ANMERKUNG 2: Natürlich vermischen sich die theoretisch so plausibel zu trennenden Funktionen in der Praxis: Glaubwürdiges Interesse und intelligentes Fragen machen den Erzähler oder “host” einer Sendung zum kommunizierenden “Nahebringer”: Herz und Verstand — um es auf diesen einfachen Nenner zu bringen — kritisieren und korrigieren einander.
Zu alledem braucht der Feature-Autor einen „Standpunkt“. Er muss aus seiner Deckung kommen, wenn er wahrgenommen werden soll. Er muss Stellung nehmen, Reibungsflächen bieten, zuspitzen und auf den Punkt bringen (der immer auch ein subjektiver Stand-Punkt sein wird). Axel Eggebrecht, Feature-Autorität der frühen Nachkriegsjahre, verlangte — in den Worten seiner Zeit — den „Druck einer lebendigen Gesinnung“.
Die Wirklichkeit im Radio ist, was WIR über sie erzählen.
Aus einer verworfenen Einleitung für das Werkbuch “Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten”:
Und es begab sich …
… dass der Autor im Namen einer höheren Macht — nennen wir sie „ Radioanstalt“, „ Redaktion“ oder einfach „Zeit-Geist“ — aus freien Stücken verkümmerte. Nach und nach vergaß, verdrängte, unterdrückte er alles, was in seinem Inneren vorging. Die Reichtümer dieses Menschen, vielleicht die einzigen, die er besaß (seine Gefühle, Gedanken, Erfahrungen), blieben ungenutzt zurück. Er verwandelte sich in einen Recherche- und Formulierungs-Automaten, den man auf jedes beliebige Thema ansetzen konnte — “vorurteilslos”, “nüchtern”, „neutral“, “effektiv“, mit einem Wort „professionell“.
Er, der einmal unverwechselbare Texte geschrieben und mutige Sendungen produziert hatte, wurde Content-Spezialist — einer unter zehntausenden. Seine Persönlichkeit zerfloss in den Datenclouds des World Wide Web. Vom Autor blieben nur noch Algorithmen übrig.
Natürlich ist der Mensch, der sich einmal „Autor“ nannte, in seiner Komplexität noch vorhanden. Wir hoffen, dass er eines Tages an sein abgewracktes ICH zurückdenkt und mit seinesgleichen, die noch nicht verflüssigt sind wie in schlechten Science-Fiction-Filmen, aufrecht aus der Cloud zurückkehrt.
Nein, nicht in die Vergangenheit! Der auktoriale Erzähler mit der knödeligen Radiosstimme und dem Abzeichen für „Objektivität“ an der Mütze soll in den Archivschachteln vermodern ! Gestern war gestern ! Der „neue Autor“ steht mit beiden Beinen in der multimedialen Gegenwart. Auf der Brust drei Buchstaben:
I C H
“All has been said – but not by me!” (Gilles Vigneault, kanadischer Folksinger)
© Alle Rechte beim Verfasser