Feature passt in keine Schublade – Eine Polemik (2007).
Sehr geehrter Herr Redakteur,
wie ich Ihrer heutigen Mail entnehme, möchten sie mein Feature über vergleichende Beobachtungen bei der Erziehung von Hundewelpen und Kleinkindern nicht übernehmen. Das ist Ihr gutes Recht. Ich kenne die Grenzen der Programmgestaltung aus eigener Erfahrung und beneide Sie keineswegs um Ihren Job. Was mich ärgert, ist Ihre Begründung. “In unserer Anstalt”, schreiben Sie mir, “fällt das vorgeschlagene Thema in den Bereich der Wissenschaftsredaktion, es könnte sich u. U. auch für den Sonnabend-Termin ‘Erziehung heute’ (Frau Dr. Nüsslein-Hannslick) eignen…”
Da liegt, glaube ich, ein Missverständnis vor. Ich schätze die genannten Fach-Redaktionen und bewundere durchaus deren Kompetenz. Frau Dr. Nüssleins populär-pädagogische Samstag-Sendung ist zum Beispiel ein Programm mit klaren Konturen und beachtlichem Service-Wert, und ich plädiere keinesfalls für ein gemischtes Sortiment nach Art der Tankstellen, die auch Brötchen und Angora-Unterwäsche verkaufen. Andererseits können – und sollen (sofern sie können) – Fachredaktionen gelegentlich “Feature machen”, was einem öffentlich-rechtlichen Radiosender allemal besser zu Gesicht steht, als zweistimmig verlesene Funk-Vorträge.
Nun schreibe ich Ihnen aber als Feature-Autor, geehrter Herr Redakteur – das heißt: Ich versuche ein komplexes Thema in seiner Komplexität, mit möglichst vielen Facetten und aus verschiedenen Blickwinkeln darzustellen, und erlebe nun zum wiederholten Mal, dass Sie mich in eine Schublade (ab)schieben möchten, in die wir beide – mein Projekt und ich — beim besten Willen nicht hineinpassen.
Jedes “gute Feature” (verstehen Sie dies bitte nicht als Schulmeisterei) behandelt nun einmal das GANZE LEBEN. Selbst ein kleines und scheinbar banales Thema sollte sich durch verschiedene inhaltliche und formale Ebenen auszeichnen — historische, politische, wissenschaftliche, polemische, humoristische, menschlich-anrührende und so weiter -, Bedeutungsschichten, in die ich mich als Autor im Lauf meiner Recherchen hineingrabe, die ich freilege, ans Tageslicht befördere und als erkennbar subjektive Entdeckungen präsentiere: “Hört nur, was ich da gefunden habe!”
Das Feature ist der Universalist, der Libero, unter den Gattungen. Vom Autor – aber auch von Ihnen, sehr geehrter Herr Redakteur – verlangt es “Denken ohne Geländer” (Hannah Arendt). Der in Ihrer Mail angedeutete Zwang zur Schubladisierung aber lähmt freies Denken und erwürgt die Phantasie. Noch nie habe ich die freiwillige Selbstzerlegung, die Fraktionierung unseres schönen Fachs in Unterabteilungen wie “Politisches”, “Künstlerisches” oder “Wissenschafts-Feature” wirklich verstanden. Wer sollte mich als Autor, der keinem Fraktionszwang unterworfen ist, daran hindern, politisch zu denken, wissenschaftliche Fragen wichtig und aufregend zu finden und dies alles mit “künstlerischen” (dem Medium entsprechenden) Mitteln vorzutragen ?
Die große Idee – und Chance – des Features ist doch die Zusammenfassung aller Aspekte unseres Lebens, zumindest aber von Teilbereichen. Dass Sie diesen Versuch einer Synopsis, verehrter Herr Redakteur, nicht bereits im Ansatz kannibalisieren – das wünscht sich im Namen vieler Autoren Ihr
Helmut Kopetzky
“SCHUBLADEN SIND NUR FÜR SOCKEN GUT”
(Die 2019 verstorbene Sängerin Jessye Norman)