Was wir von Sergej Michailowitsch & Kollegen lernen können.
Lose Gedanken zur Feature-Dramaturgie.
Erschienen in CUT-Magazin (Feature-Workshop, 2000).
Wenn wir sie beim Wort nehmen, kann Sprache verräterisch sein. Mein derzeitiges Reizwort heißt „COLLAGE“. „Kólla“ (griechisch) bedeutet „Leim“. „Collage“ (französisch) ist der Vorgang — und das Ergebnis — des Zusammenleimens. Mein CD-Rom-Lexikon vermerkt zum Stichwort „Collage“: „Kunstobjekt des 20. Jahrhunderts, aus Papier und/ oder anderem Material geklebtes Bild. Die ersten C. waren kubistische Zeichnungen mit eingeklebten Zeitungsaus- schnitten von J. Gris, Braque und Picasso“.
„Wir collagieren das einfach“, sagt auch der Feature-Autor, der sich mit einem Wust an O‑Ton-Material herumquält. Klingt gut, und irgendwas wird schon dabei herauskommen. Er (oder sie) vergisst dabei aber Folgendes:
Ein Feature hängt man nicht an die Wand. Es läuft gewöhnlich im Radio. Und „Laufen“ ist ein Prozess — kein Zustand. Das Feature rollt vor unseren Ohren ab, es bewegt sich von A nach B, und zwar von — sagen wir — 19.05 bis 20.00 Uhr. Collage dagegen ist das gestaltete Nebeneinander, ist Fläche. Erst das Auge des Betrachters erzeugt ein (scheinbarer) Moment der Bewegung. Die Klebewerke eines Kurt Schwitters oder John Heartfield waren — formal betrachtet — eine statische Kunst. Radio ist temporal. Es lebt, es wirkt, es entfaltet sich in der Zeit.
„In der Epik, im Drama, im Film“ — und natürlich auch im Hörmedium — „ist die Zeit genau so Thema und Stoff des künstlerischen Schaffens wie die Handlung, der Inhalt“, schrieb der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs 1949. Feature ist Abfolge, Entwicklung, ein stetes Fortschreiten „wie im richtigen Leben“ (auch das können wir nicht zurückspulen).
Deshalb ärgert mich das Wort „Collage“, diese begriffliche Mogelpackung. Denn sie gibt vor, der Zuhörer einer Radiosendung habe auch nur annähernd die Freiheit eines flanierenden Museumsbesuchers. Beileibe nicht ! Was immer wir tun in unserem Metier: Wir erzählen — wie die Märchentanten und Großmütter, diese Erzählprofis aller Breiten und Zeiten: „Und dann … und dann … und dann…“
Ein Feature hängt nicht
an der Wand
Wir bestimmen das Tempo, beschleunigen, verlangsamen, setzten zur Stretta, zur effektvollen Schlusssteigerung, an. Wir machen Pausen zum Luftholen. Für die Spanne unserer Sendung sind wir die Herrscher der Zeit. Wir beherrschen auch die Zeit unserer Zuhörer. Sie sind uns ausgeliefert ! (Schlimmer noch: Sie sitzen uns auf dem Knie und wollen immerzu etwas erzählt haben).
Zu keiner Zeit, an keinem anderen Ort ist hingebungsvoller über Medienwirkung theoretisiert worden, als in der Sowjetunion der 20er und frühen 30er Jahre. Filmkünstler wie Pudowkin, Wertow, Dowschenko und vor allem Eisenstein entwickelten einen ausgefeilten Kanon dramaturgischer Gesetze. Im Zentrum: die MONTAGE.
Laut Sergej Michailowitsch Eisenstein (1898 — 1948) ist Montage „die Syntax des folgerichtigen Aufbaus aller Einzelfragmente eines künstlerischen Films“, eine „elementare Regel filmischer Orthographie“ (Eisenstein war Ingenieurstudent und Architekt, im Pionierkorps der Roten Armee baute er Brücken). Vor allem aber ist Montage „filmisches Erzählen“, die Technik des gestalteten Nacheinander — nicht zu verwechseln mit Chronologie. Ein Zeitablauf, über den berichtet wird, kann z. B. durch andere Perioden und Schauplätze unterbrochen werden (Rückblenden etc.), ohne dass wir Hörer aus dem Tritt geraten. Bereitwillig überspringen wir Jahre und Jahrzehnte.
Wir alle nehmen die Welt ja „montagehaft“ wahr. Nie als Ganzes. Wir rekonstruieren sie für uns und andere aus einer Fülle subjektiver „Einstellungen“. Während ich dies in das Keyboard meines Computers hacke, montiere ich meine Gedankensplitter nach einem individuellen Bauplan. Jeder geschriebene Satz, jeder Gedanke entsteht durch Montage, ist Kombination — das wissen wir aus dem Computerlehrgang für Anfänger: Fast alles lässt sich auf Plus oder Minus, 0 oder 1 reduzieren. Worauf es ankommt, ist der Zusammenprall, der Konflikt zwischen zwei aufeinander stoßenden Elementen. Nur so entsteht „Inhalt“: „Als Montage bezeichnen wir die Anordnung von Teilen eines Filmstreifens, die in ihrer Wechselbeziehung einen bestimmten Gedanken des Regisseurs zum Ausdruck bringen“ (Viktor Sklovskij).
Der sowjetische Filmtheoretiker nennt „eine gute Zeitung, die in den verschiedenen Lokalmitteilungen, den Nachrichten, den Feuilletons, den Jubiläen und in den Mitteilungen über Todesfälle einen Tag der Menschheit festhält“, das Produkt gelungener Montage. Und der deutsche Feature-Pionier Peter von Zahn, um 1950 nach einem Beispiel für den damals noch ungewohnten Begriff „Feature“ gefragt, legte Bachs Matthäus-Passion auf den Plattenteller — Voilà: eine Montage aus dem dokumentarischen Bericht des Evangelisten, den Stimmen der biblischen Hauptakteure und eingeblendeten Arien und Chören, die das Geschehen kommentieren! Ein Feature!
Hollywood, die zweite Kino-Großmacht, erfand die „continuity“. Mein Lexikon übersetzt den Begriff als „natürliche Folge, Zusammenhang, Film-Drehbuch“ — und (siehe da !) auch als „Sende-Manuskript“. Durch continuity, könnten wir sagen, unterscheidet sich „Montage“ im Eisensteinschen Sinn (dynamisch-erzählend und argumentierend) von „Collage“ (bildhaft-statisch).
Im Gegensatz zur Filmkunst hat das Radio selbst nach 80 Jahren noch keine verbindliche „Sprache“ und nicht einmal brauchbare dramaturgische Termini entwickelt, die mehrheitsfähig (und damit „lehrbar“) wären. Wie die „Collage“, ein Wort aus der Bildenden Kunst, ist aber auch der Film-Begriff „Montage“ nicht ohne Einschränkung auf das Hör-Medium zu übertragen.
In der berühmten Treppenszene seines „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) fügt Eisenstein kürzeste Einstellungen kontrastierend an einander: „Die Stufen der Treppe hinab schreitet die Soldatenreihe / Die junge Mutter stürzt zu Boden und / stößt dabei gegen den Wagen mit dem Kind / Ein Kosak schlägt einen Arbeiter mit der Peitsche / Mit ihren Pferden jagen die Kosaken in die fliehenden Menschen (…) Der Wagen mit dem Kind / springt / über die Stufen der Treppe / Auf dem Treppenabsatz liegt die getötete junge Mutter (…) Die Treppe hinunter / holpert / über Leichen / der Wagen mit dem Kind / Die Reihe der Soldaten schießt in die Menge…“ (Filmprotokoll).
Erinnern und Vergleichen _
Wenn das Hirn abschaltet
Millionen Zuschauer haben das Stakkato dieser aufwühlenden Szene mühelos entziffert. Denn Bilder sind rascher lesbar als Wörter, Wörter rascher als natürliche Geräusche. Was das Auge in Sekundenbruchteilen liest, muss unser Ohren-Hirn-Komplex erst analysieren und interpretieren, das heißt wohl auch: in „Bilder“ umsetzen. Und obwohl das mit unglaublicher Geschwindigkeit geschieht, verläuft dieser Identifizierungs-Prozess immer noch weit langsamer ab als das Erkennen und Erfassen von optischen Bildeindrücken.
Hinzu kommt ein subjektiver Faktor (Wir hören, was wir erinnern — siehe Feature-Workshop in CUT 8/2000). Ein Propellerflugzeug, das über meiner Sonntagsruhe kreist, bedeutet „Lärm“ und „Störung“. Zugleich aber ist „Propellerflugzeug“ in meinem Erinnerungsspeicher unter dem Zugriffswort „Sommerglück“ registriert. „Wiese“, sagt mein Gehirn. Und „Heu“. Vielleicht auch „jung“, „verliebt“, „Radtour“, „Straßenrand“, „Sonne-auf-den-Bauch“.
Schon diese Besonderheiten des Hörens erlauben keine „montage rapide“, keine Flut stetig wechselnder Geräusche analog zur Eisensteinschen Bilderflut. Wird eine nicht zu Ende aufbereitete akustische Information von nachfolgenden überrollt, produziert unser Hirn (der Prozessor, der alle akustischen Signale verarbeitet) Gedankensalat. Notabschaltung ist die Folge. Der Mensch hört nicht mehr zu.
Was raten wir also unserem Feature-Autor, der mit seinem Wust an O‑Ton-Material nicht zurande kommt ? Zunächst einmal Geduld. Featurearbeit ist mühsames, langwieriges Graben — auch im eigenen Material. Welche Fische sind mir da ins Netz gegangen ? Reicht der Fang ? Also: Protokoll, nüchterne Bestandaufnahme.
Dann Hineinhören. Gutes Material kann reden ! Es sagt, wie es behandelt werden will. Es verlangt nach der passenden Form, dem angemessenen Tempo und Rhythmus. Es will Krimi werden, blutiges Drama, lehrreiche Fabel, große Oper oder zarte Lovestory. Form verbirgt sich im Material.
Wir Featuremacher sind ja auch Bildhauer. Unsere dramaturgische Arbeit ist Wegschlagen, Heraushauen, ist Vereinfachung. Nicht jeder aufgenommene O‑Ton muss im Endprodukt enthalten sein. Leider ist es „schwieriger, ein einfaches Drehbuch zu schreiben (…) als ein kompliziertes“ (Sklovskij, „Eisenstein“).
Und noch eine Binsenweisheit — in den Worten des sowjetischen Schriftstellers und Eisenstein-Freundes Iwan Axjonow: „Alle Anstrengungen der Montage (…) sind jedoch absolut ohnmächtig und gegenstandslos, wenn ihre Zielrichtung unklar bleibt“.
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