Felsendom und Klagemauer — Wem gehört Jerusalem ?
(NDR 2000)
AUS DEM ERZÄHLER-TEXT: Ausgraben. Sich in die Vergangenheit hineinwühlen … Eine kollektive Leidenschaft in dieser Stadt. Man sucht Beweise, gräbt nach steinernen Besitzurkunden — hier die Juden, dort die Moslems. Zwei Nachbarn streiten um das selbe Grundstück.
Erzähler: Hans Rainer Lange – 54:11 – PREMIO ONDAS 2000
AUS DEM MANUSKRIPT:
AUTOR SCHALTET DEN PC EIN — PC FÄHRT HOCH
Denn siehe: Es steht geschrieben …
KEYBOARD- UND MAUS
… im World Wide Web. Im neuen Buch der Bücher. Suchwort: „Jerusalem, Tempelberg“…
COMPUTERSTIMME: „WILLKOMMEN !“ / KEYBOARD- UND MAUS-GERÄUSCHE
… www.thewall.org … Alle 60 Sekunden ein Foto. Fast live. Ich kann das Foto vergrößern — die Mauer, die Menschlein — klick ! … Noch ein Mausklick: Real Audio — der Ton zum Bild — 15, 1 Kilobyte pro Sekunde.
STIMME AUS DEM COMPUTER, SUGGESTIV: „The Western Wall ten feet in front of us … Nur drei Meter entfernt … The area fills one with awe … Der Ort erfüllt uns mit Ehrfurcht … They just tell us, that the schina, the divine presence, never left the Western Wall. Man sagt, das Göttliche hat diesen Ort nie verlassen …You can almost feel it here in front of us, around us, surrounding us ! Es ist überall!
WÄHREND DER LETZTEN SÄTZE HAT SICH DAS SOUNDFILE AUS DEM COMPUTER (MONO) IN DIE REALE SZENE VOR DER KLAGEMAUER (STEREO) VERWANDELT: BAR MITZVAH — EIN KLANGGEWIRR AUS VIELEN STIMMEN, GEBETEN, GESÄNGEN.
In den Mauerspalten nisten Schwalben, flitzen kleine Eidechsen. Der Kotel ist die Stützmauer des Tempelbergs — nicht die Wand des Tempels, wo Rabbi Jesus gelehrt hat. Dreißig Jahre nach dessen Tod trieben die Zeloten, eine ultraorthodoxe militante Gruppe, Israel in einen aussichtslosen Krieg. Die Römer unter Titus Flavius vernichteten die Stadt. Und den Tempel.
DIE BAR-MITZVAH-FEIER
Viel los heute morgen ! Zweimal die Woche Bar Mitzvah. Das Fest der Knaben. Mit 13 dürfen sie zum ersten Mal aus der Thora lesen. Mann unter Männern. Einer von zehn, laut Gesetz.
Da kommen sie geritten, im Triumphzug auf den Schultern ihrer Väter, Onkel, Brüder. In kleinen flatternden Gebetsmänteln, die Teffilin um Arm und Stirn geschnürt.
Junge und ganz alte Männer singen, tanzen, klatschen vor Begeisterung, verzückt — wie David vor der Bundeslade, damals. Wiegen goldverzierte Schriftrollen im Arm.
STIMME AUS DEM COMPUTER (REAL AUDIO) UND REALE TUNNEL-TOUR:
We will now walk inside from the Western Wall plaza. We’re entering the entry way to the tunnels. O.k. … Jetzt geht’s in den Tunnel ! … The lighting is quite dramatic now … Dramatisches Licht ! … The secret passage…
Ausgraben … Sich in die Vergangenheit hineinwühlen … Eine kollektive Leidenschaft in dieser Stadt. Man sucht Beweise, gräbt nach steinernen Besitzurkunden — hier die Juden, dort hinten irgendwo die Moslems.
Zwei Nachbarn streiten um das selbe Grundstück. Die Immobilie ist nicht groß — ein Hügelchen — zernagt, durchlöchert, angebohrt von allen Seiten. Fuchsbau, Schweizer Käse. Hätte auf drei Fußballfeldern Platz.
STIMME (DEUTSCH) Das ist ein Gefühl … Man kann das … Wir treten auf die Steine und auf die Straßen, die unsere Eltern und Großeltern in den letzten 3000 Jahren getreten haben. Und hier in diesem Ort hat der Tempel gestanden … und König David und König Salomon … Und eine zweite Sache ist ein ganz einfaches Gefühl, dass wir sind jetzt zu Hause. Das ist der Ort für jeden Menschen. Jerusalem war, ist und immer wird sein die Hauptstadt von den Juden. Und jeder Jud hat eine besondere Verbundenheit mit Jerusalem. Dort ist jeder Mensch, jeder Jud zu Hause!
FREMDENFÜHRER It’s moving … It’s a miracle that we are back here — after all these years ! Here we are ! Ein Wunder, wieder hier zu sein — nach all den Jahren!
Und da oben, ein paar Meter über uns: das Moslem-Viertel … Menschen, Karren, Teestuben, Bazar. Und der Felsendom mit seiner Goldkuppel. Und die Al-Aqsa Moschee, nach Mekka und Medina der heiligste Ort des Islam.
BAZAR / GEBETSRUF / FERNSEH-ÜBERTRAGUNG DES FREITAGS-GEBETS
Hier schallt die Freitagspredigt aus den Fernsehern: „Lasst die Flagge wehen ! Das Land wird frei sein ! Und der Ruf ‘Allah ist größer !’ wird am Himmel Palästinas und in jeder Straße unseres heiligen Jerusalem ertönen. Denn Jerusalem, die Hauptstadt, gehört uns…!“
Fünfmal täglich der Gebetsruf — „Es gibt keinen Gott außer Gott …“ — Und er mischt sich mit den Psalmen und Gesängen an der Klagemauer. Und mit der Litanei der Freitagsprozession, die durch die Via Dolorosa zieht zur Grabeskirche, wo man lebensgroße Kreuze mieten und wie Jesus durch die Altstadt wanken kann — „Rent a cross“.
FRANZISKANER The Thirteenth Station. Here Jesus is taken down from the cross(…)
EINE GLOCKE / GESANG DER PILGER, ENTFERNT SICH
Die Bibel hat recht !
Der Koran hat recht !
Der Talmud …
Amen !
Und Amen !
Und Amen !
Uri Avneri, Journalist und Friedenskämpfer, sagt:
AVNERI Frieden hat hier nie geherrscht, nicht einen einzigen Tag. Jedenfalls nicht in den letzten 60 Jahren, in denen ich hier lebe. Nicht einen einzigen Tag Frieden ! Friede war hier nie — es war immer Kriegszustand zwischen — es ist keine Sache von ein paar Extremisten. Es ist die Sache der beiden Völker — zwei großer nationaler Bewegungen. Im Grunde haben Sie hier ein kleines Land, das beide der Völker als ihr exklusives Vaterland betrachten. Beide Völker bestreiten nicht nur die Rechte des anderen Volkes auf das Land sondern praktisch sogar die Existenz des anderen Volkes seit Generationen. Beide Seiten haben ihren Schädel voll von Mythen, Sagen, Ängsten, Traumas, Vorurteilen — Stereotypen, die mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben. Und das zu beseitigen, ist eine historische Aufgabe und nicht so leicht.
EHRENBERG Kein Zweifel, dass die Juden waren dort zuerst!
Der Berliner Rabbi Yitzhak Ehrenberg.
EHRENBERG Wir fangen an mit unserem Stammvater Abraham. Das ist etwa so 3800 Jahre zurück — bevor der Islam überhaupt auf der Welt gewesen. Und auch als die Juden später, 3000 Jahre zurück, nach Israel gekommen und später in Jerusalem den Tempel gebaut haben — das ist doch klar, daß das war ein jüdischer Tempel und kein muslimischer Tempel. Das ist ein jüdisches Patent, eine jüdische Erfindung ! Das ist doch nicht zu diskutieren!
Und Mustafa Abu Sway, der Philosophie-Professor aus Ost-Jerusalem, sagt:
ABU SWAY History tells us that you might loose what you have … Die Geschichte sagt uns: Man kann alles schnell wieder loswerden, was man hat … I really don’t care how you call the political system. I’m not a big fan of names. I really care less, whether it is a Moslem or a Jew or a Christian who’s giving orders…
Mir ist es gleich, ob ein Moslem, ein Jude oder ein Christ regiert, sagt Professor Abu Sway. Aber ich möchte als Mensch behandelt werden — ob in Israel oder Palästina !
Und ein Teppichhändler in der Altstadt:
HÄNDLER It’s only conflict between official parts from Christians, Jews and Moslems, because of their own business and interests, which is leading the poor people into desasters…
Egal ob Christen, Juden oder Moslems — Es sind immer die da oben, die uns arme Leute ins Unglück stürzen!
TASTATUR / MAUS
Ein Online-Seminar aus Brooklyn. Genesis — Kapitel 1, Vers 1. — 15, 1 Kilobyte, Real Audio:
STIMME DES RABBI (ERZÄHLER ÜBERSETZT) The day will come, when the Jews will be going to enter the land of Israel, and they will claim the land from the Cananites living here … Und die Juden nahmen den Kanaanitern das Land weg … And they will say: Why are you taking our land ? Like the Arabs say: Why are you taking our land ? … Und so fragen heute auch die Araber: Warum nehmt ihr uns das Land ? … And the answer we say — which is the only answer that Ben Gurion could say to the Arabs who claimed: Why are you taking our land ?: “The Bible ! The Bible is the word of God !“… Schon Ben Gurion hatte nur eine Antwort: Die Bibel ! Das Wort Gottes ! … God created it ! And he took it from heaven and he gave it as the promised land to us, the Jewish people ! … Gott gab uns das gelobte Land — uns, den Juden!
STIMME DES FREMDENFÜHRERS IM TUNNEL (ERZÄHLER ÜBERSETZT)
We are right now standing directly across from where the Holy of Holyest was in the temple … Hier war das Allerheiligste … The holyest place on earth for the Jewish people. For mankind …
Der heiligste Ort für die Juden, für die Menschheit … This is as close that we can come … Hier sind wir ihm am nächsten … Just take time … few moments … if you have a prayer … if you have anything to ask … if you want to speak to the Creator. This is the place to do it ! … Wenn Sie mit Ihrem Schöpfer sprechen möchten — dann jetzt!
(…)
EIN KNABE LIEST AUS DER THORA. DIE LEIDENSCHAFTLICHE ANSPRACHE EINES RABBI:
“Senores e senoras — por favor ! Please listen to me ! Today is the biggest day of Maurice Sasson ! El complo trece annos e un dia…”
Maurice Sasson aus Mexiko ist heute 13 und einen Tag. Kein Kind mehr — sagt der Onkel aus Amerika.
“De hoy Maurice Sasson no mas a child — no more baby ! Maurice Sasson is a man ! (…) Keep on going on the same line…!”
TÖNE EINER SCHOFAR.
Einer bläst das Widderhorn, die Schofar. Und jetzt alle vor die Video-Kamera!
MUSIKANTEN. RHYTHMISCHES KLATSCHEN.
Was am Morgen des 7. Juni 1967 an dieser Stelle geschah, nennen die einen „Befreiung“, die anderen aber „Nakhbah“, die Katastrophe. Israel hatte die Jordanier vertrieben. Der Sechstagekrieg, von arabischen Nachbarn begonnen, war so gut wie zu Ende. Olivgrüne Soldaten beteten und weinten da vorn an der Mauer. „Unsere Fallschirmjäger standen vor der Mauer wie ins Trance“, erinnerte sich später General Uzi Sarkiss.
Immer mehr Israelis drängten in den nächsten Stunden Richtung Tempelberg. Hier, vor der Mauer, im Magrebi-Viertel, wo die Nordafrikaner wohnten, war nur eine schmale, stinkende Gasse, fünf Meter breit. Tage später gab es das Viertel nicht mehr. Über Nacht hatten Bulldozer die 136 Häuser eingeebnet. 600 Familien waren obdachlos. Nach einigen Monaten verschwand auch die Abu-Saud-Straße, in der Jassir Arafat als Kind gespielt hatte.
KEYBOARD / COMPUTERGERÄUSCH
Denn siehe, es steht geschrieben …
ERZÄHLER (ZITIERT) „Jewish fundamentalists plan to demoslish the noble Al-Aqsa Mosque and build their Jewish temple in its place. More than thousand people will attend an annual meeting of the ‘Builders of the Third Temple’…
Vor jüdischen Fundamentalisten warnt diese Homepage in den Farben Palästinas. Zum Jahrestreffen der ‘Erbauer des Dritten Tempels’, der den Platz der Al-Aqsa Moschee einnehmen soll, haben sich über 1000 Radikale angemeldet…
(GERSHON SALOMON LIEST JESAJA, KAPITEL 2, VERSE 2 UND 4 — HEBRÄISCH)
Das ist Gershon Salomon, Gründer und Führer der „Getreuen des Tempelbergs“, früher Offizier. In einem Grenzgefecht mit Syrien, 1958, überrollte ihn ein Panzer und er verlor ein Bein. Der größte Augenblick in seinem Leben, sagt er, war die Befreiung Jerusalems. Auf Krücken stand er vor der Klagemauer. Seit damals kennt er nur ein Ziel: den Bau des Dritten Tempels. Es gibt auch schon reichlich Tempelgerät.
SALOMON (ERZÄHLER ÜBERSETZT) Now here I want to show you the incense (ÖFFNET EINEN SCHRANK) … In the Bible God is speaking about eleven kinds of incense… Elf Sorten Weihrauch, streng nach biblischen Rezepten … It smells very good … This is for instance the cinnamon … Zimt ! … You can smell it (AUTOR SCHNÜFFELT)…
Salomons Hauptquartier ! Eine skurrile, etwas ärmliche und enge Welt in einem Hinterhaus der Neustadt, gleich neben der belebten Jaffa Road. Auf durchgebo-genen Regalen stapelweise Flugblätter, Plakate, Autoaufkleber: „DER TEMPEL-BERG MUSS BEFREIT WERDEN!“
Er selbst: entwaffnend sanft für einen Aufrührer, der immer wieder so beängstigende Schlagzeilen macht. Ein fröhlicher Schnurrbart. Und die freundlichsten Kinderaugen der Welt. Sie leuchten, wenn er ins Erzählen kommt — besonders von den letzten Dingen.
SALOMON / ERZÄHLER Salomon God, when he speaks about the end times, he’s speaking about a war which the Prophet calls it Gog-and-Magog-war … Gott spricht vom apokalyp-tischen Krieg gegen Gog und Magog — das Böse schlechthin … We are living now in time of redemption of the Jewish — the Israeli nation. The prophets call it the end times. The last days … Die jüdische Nation wird wiederauferstehen … I believe, when you will come for your next visit in Israel, this you will see on the Temple Mount and in Jerusalem ! (LACHT)
Wenn Sie nächstes Mal nach Jerusalem kommen, sagt Herr Salomon heiter und zeigt auf eine Computermontage, die den neuen Tempel an Stelle der Al-Aqsa Moschee zeigt — dann werden Sie das hier sehen!
Macht er Scherze ?
SALOMON / ERZÄHLER Very real, very pragmatic ! … Von wegen. Das ist alles blutig ernst gemeint … The Arab occupation of this land, the land of Israel … Jerusalem … and the Temple Mount especially should be finished ! Höchste Zeit, dass wir die arabische Besetzung ein für alle mal beenden ! The Arabs are here foreigners…
Das sind Fremde hier … They robbed this place from the Israeli nation … Sie haben diesen Ort geraubt. Machen wir uns doch nichts vor, sagt Gershon Salomon, und seine blauen Kinderaugen leuchten: Der Krieg steht vor der Tür…
MAGEN BROSHI The tragic thing about Solomon and his fellows is, that the man does not believe in God … Das Tragische an Salomon, meint Magen Broshi, der frühere Kurator der Qumran-Rollen im Israel-Museum: Dieser Mann glaubt nicht an Gott … It’s all neat nationalism … Alles blanker Nationalismus!
BEN DOV / ERZÄHLER Those are no Jews ! … Das sind gar keine richtigen Juden, sagt der Schriftsteller und Archäologe Ben Dov … They want something to feel, to touch, to see …Die brauchen immer was zum Fühlen, zum Anfassen, zum Sehen…
MAGEN BROSHI / ERZÄHLER We live still in a madhouse … I don’t have to tell you how dangerous things like this (are), when you are mingling politics and religion and nationalism … Muß ich Ihnen sagen, wie gefährlich es ist, Politik und Religion zu vermengen ? … This is real dynamite ! … Das reinste Dynamit ! … One man can set fire … Es reicht, wenn einer mit dem Feuer spielt!
KEYBOARD / COMPUTERGERÄUSCHE
Und siehe, es steht geschrieben … Gershon Salomon schickt eine Blitzmeldung:
„Terrible Destruction on the Temple Mount … Schreckliche Zerstörung auf dem Tempelberg … Arabs have dug 10 meters — 33 feet — deep over a large area next to the so called Solomon’s Stables …Für einen weiteren Eingang zur neuen Moschee in den sogenannten ‘Ställen Salomons’, der größten Moschee des Mittleren Ostens, haben Araber den Tempelberg 10 Meter tief auf einer großen Fläche abgetragen…
Ein erneuter Versuch, jüdische Identität und 2000 Jahre alte Spuren auszulöschen … Heute abend demonstrieren wir gegen diese Barbarei …Wenn ich Dein vergesse, oh Jerusalem, verdorre meine rechte Hand!“
UNTER DEN LETZTEN SÄTZEN: KIDRON-VALLEY-DEMO EINBLENDEN
Und da marschieren sie durch Ost-Jerusalem — die radikalen „Frauen in Grün“, martialische Gruppen wie „Hüter der Stadt“ und „Zhot arzenu“ („Das ist unser Land“) und „Jeruschalayim Schelanu“ („Jerusalem gehört uns“). Und die Studenten aus der Jeshiwa „Ateret Cohanim“, „Krone der Priester“ — eine Art Trainings-Camp für den Dienst im Dritten Tempel. Und natürlich die „Getreuen des Tempelbergs“. Fackeln und Fahnen. Sie nennen es „Alya“ wie die ersten Zionisten — „Landnahme“, „Besiedelung“.
Ein Stoßtrupp, vorderste Linie. Hier im palästinensisch besiedelten Kidron-Tal wohnt der Feind. Aufreizendes Frontgefühl. Junge kräftige Männer mit Brooklyn-Akzent tragen Cowboy-Stiefel und Gebetsriemen. Eine Frau hält das Computer-Bild des Dritten Tempels wie eine Ikone. Die Teenager des Stadtteils drängen sich in Gruppen hinter Sperrketten aus gleichaltrigen israelischen Soldaten. Coole Sprüche fliegen hin und her. Signallaternen blinken Nachrichten von einem Hang des Tals zum andern.
BETENDE MÄNNER, STIMMENGEWIRR, GERÖLL
Hinter einem Gitter gegen Steinwürfe geschützt, drehen Aktivisten jeden Brocken voller Andacht hin und her.
BEGEISTERTER APPLAUS / LAUTSPRECHER-STIMME (NADIA MATAR, HEBRÄISCH)
Das ist Nadia Matar, die Jean d’Arc der Siedlerbewegung … “Tausende sind hergekommen, das beweist unsere Schlagkraft“, schreit sie in das Mikrophon. Sie verflucht Moshe Dajan, der die Fahne Israels vom Tempelberg entfernt hat. Sie zerreist „die schändliche Vereinbarung von Oslo“. Schießt auf den Premier. Giftet gegen all die Weichlinge in der Regierung, die der Welt die Stiefel lecken. „Schluss damit ! Der Tempelberg muss wieder unser sein!“
… Dieser strahlende Berg da drüben — durch die nächtliche Effekt-Beleuchtung wie das Märchenschloss in einem Disney-Film. Ein magischer Ort. Und immer ein Ort der Gewalt. Wie 1970: Salomons „Getreue“ provozierten eine Keilerei mit duzenden Verletzten. Oder 20 Jahre später — an jenem 8. Oktober 1990.
Ein Montag. Erster Tag des Laubhüttenfestes Sukkot — das jüdische Erntedankfest. Heute sei der Tag der Grundsteinlegung für den Dritten Tempel, oben auf der Plattform, hat Gershon Salomon auf Flugblättern verbreitet. Der Versuch war mehrfach fehlgeschlagen. Diesmal aber handle man mit Zustimmung des Obersten Gerichts.
M. Z. (ARABISCH)
Dieser frühere Lehrer aus einem Dorf am Stadtrand Jerusalems, der nicht genannt werden will, erinnert sich noch an die Worte des örtlichen Sheikh: „Wir müssen die Moschee beschützen !“ … Wir wussten, dass etwas geplant war, sagt er. Und viele machten sich auf den Weg — auch meine Schwester, Mutter von neun Kindern, und ihr 20jähriger Sohn.
3000 Moslems gelangen trotz strenger Kontrollen auf den Haram. 18 Meter tiefer, vor der Klagemauer, beten 20 000 Juden.
Nach arabischer Darstellung bewegt sich ein Stoßtrupp der „Getreuen des Tempelbergs“ direkt auf das Tor des Haram zu, scheinbar unbehindert durch die Polizei.
M. Z. (ARABISCH)
Die orthodoxen Juden kamen durch das Tor von Westen, sagt der alte Mann. Sie drängten Richtung Moschee. Die Moslems fingen an, zu beten: „Alah u akbar ! Gott ist größer — größer als alles !“ Eine verirrte Tränengasgranate explodiert mitten in einer Gruppe moslemischer Frauen.
M. Z. (ARABISCH)
Die Moslems verteidigten sich nur mit Steinen, sagt der alte Mann. Mein Neffe sah einen Soldaten, der auf meine Schwester anlegte. Er rief noch: “Nicht schießen !” Aber der schoss ihr genau ins Gesicht, mehrere Kugeln. Vier oder fünf trafen ihn selbst — ihren Sohn. Meine Schwester war gleich tot. Nach der offiziellen israelischen Version werden an diesem Montag 17 Moslems erschossen und mehr als 100 verletzt. Die Palästinenser zählen 22 Tote und 400 Verwundete..
An mehreren Orten der besetzen Gebiete kommt es nach dem „schwarzen Montag“ zu Massendemonstrationen. Arabische Extremisten schlachten rund ein Dutzend Israelis ab.Die gerichtliche Untersuchung des Massakers bestätigt das eindeutige Versagen der Polizei und der eingesetzten Grenztruppe. Dennoch wird nie jemand angeklagt. Jahre später überweist der Staat den Hinterbliebenen jeweils 10 000 Schekel, 5000 Deutsche Mark.
ABENDSTIMMUNG IN DER ALTSTADT: POLIZEISIRENEN / DIE GLOCKEN DER EVANGE-LISCH-LUTHERISCHEN ERLÖSERKIRCHE / GERÄUSCHE EINES REISIGBESENS
Biblische Ruhe sinkt über das „Jüdische“ und das „Moslemische“ und das „Christliche Viertel“ der Altstadt. Zeit die Kerzen anzuzünden. Zeit für das Abendgebet.
EINE FRAU SPRICHT DIE BRACHA, EIN MANN SINGT DEN ANFANG EINER KORANSURE. INNERES EINER JERUSALEMER REFORM-SYNAGOGE: GEMEINDEGEBET UND GESANG.
DER GOTTESDIENST GEHT ZU ENDE / STIMMEN: „SHABBAT SHALOM !“ — „SHABBAT SHALOM !“ — „SHABBAT SHALOM!“
Jericho
Hauptstadt der Ungeduld
(SFB / NDR / SR 1994) DAS GOLDENE KABEL (1995)
Erzähler/in: Carmen-Maja Antoni, Peter Simonischek – Dauer 57:04
Ein kurzer Manuskriptauszug:
ANSAGE Das Wunder geschah am 13. September 1993 vor dem Weißen Haus in Washington. Zögernd und jede Gemütsregung verbergend, reichte Jizhak Rabin, Ministerpräsident Israels, dem Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation, Jassir Arafat, die Hand. An diesem Tag entstand der Plan zu einer Sendung mit dem Titel „Jericho – Hauptstadt des Wunders“. Denn jener kleine Ort im Jordantal soll Sitz einer Art Übergangsregierung werden, des palästinensischen Rats. Monate vergingen, Monate des Schreckens. Blutige Monate im Gazastreifen und in Westjordanien. Auch in Jericho. Die Begeisterung des 13. November wurde schal. Nun endlich hat die israelische Besatzung ihren Wachtposten in Jericho geräumt.
Aber ist das schon der Friede?“
ERZÄHLER Die 30-Kilometer-Fahrt im Sammel-Taxi von Jerusalem nach Jericho kostet fünf Neue Shekel. Das Taxi ist arabisch. Es hat blaue Nummernschilder. Zu den Siedlungen der Westbank mietet man ein israelisches mit gelben Nummernschildern. Kostenpunkt 100 Shekel. Kein Araber fährt dich dorthin.
DER WAGEN HÄLT AN. UNTERHALTUNG DES FAHRERS MIT EINEM WACHPOSTEN: DANN LEBHAFTER DIALOG ÜBERSPRECHFUNK.
Mizpeh Jericho – die jüdische Siedlung auf der “Höhe über Jericho” – reckt ihren schlanken, hohen Wasserturm wie einen Drohfinger zum Himmel: “Dieser Hügel ist besetzt !”
(…)
STIMME DES IMAM
“In jener Nacht vor über tausend Jahren” – so erläutert der Imam die Absicht Gottes – “schuf Allah die Klammer zwischen Mekka und Jerusalem (…) Und seit damals ist uns Palästina heilig. Und am kostbarsten ist uns Jerusalem. In Ewigkeit“.
Die Moschee von Jericho riecht neu, nach Kalk und Mörtel und jordanischen Dinar.
Drei Millionen hat der Prachtbau angeblich gekostet. Das Minarett ragt an die 40 Meter hoch, kalkweiß. Landmarke und Drohfinger. Wie der Wasserturm da oben in der Siedlung… …
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