Gesendet im DLF, BR, HR, WDR und RBB (2005) – Drei Fassungen als Ergebnis verschieden langer Sendeplätze und unterschiedlicher Übereinkünfte mit den Redaktionen.
Sprecher: Der Autor.
AUS DEM PRESSETEXT: „In der Nacht zum 1. Mai 2004 betrieb eine internationale Gruppe junger europäischer Ethnologen im Berliner Stadtteil Feldforschung über „Demonstrations- und Gewaltrituale“. Auch der Autor war wie in früheren Jahren mit dem Mikrophon unterwegs. Aber schon in den Monaten vor der jüngsten rituellen Randale hat er „Feldforschung“ betrieben (…) Er hinterfragt die Utopie einer herrschaftsfreien Welt, aber auch Herrschafts-Strukturen innerhalb der Szene – die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit“.
A U T O N O M
Der gelebte Widerspruch. Tagebuch einer Recherche.
Für „DAS MAGAZIN“ (Mai 2005)
MOTTO
“Ich war stets auf der Seite derjenigen, die die Wahrheit suchen. Doch ich wende mich von ihnen ab, wenn sie glauben, sie gefunden zu haben”.
Luis Buñuel
“Was sind das eigentlich für Leute ?” hat mein Redakteur gefragt. “Finden Sie’s raus !” In meinem Hirnspeicher die eingebrannten Chiffren: Ketten, Nieten, große Hunde. Punkschlampen im malerisch zerfetztem Outfit und Kapuzenmänner. Tigern durch die Straßen wie verkleidet, in Rebellen-Pose … “Eine Bullenwanne abfackeln”, “Der Stein ist das Bewusstsein”, “Häuser brennen, Bullen sterben” … Parolen, eklig wie der Dreck unter ihren Fingernägeln. Ihre klammheimliche Freude, wenn es kracht und brennt und klirrt. Die platten Feindbilder, der primitive Hass …
Autonome stehen nicht im Telefonbuch unter “A”. Der Journalist braucht “Türöffner”, Vermittler. Mein Gewährsmann schreibt: “Würde sagen, dass die meisten Autonomen sich als anarchistisch bzw. libertär verstehen. Da Autonome allerdings seit jeher das Konzept ‘Gegenöffentlichkeit’ propagieren, gibt es an sich keinen Grund, dem bürgerlichen Publikum Informationen zu liefern. Hab’ mich lange genug in der Szene bewegt …” Vermintes Gelände.
KARL
“Café V” in Berlin-Kreuzberg. Ich bin mit „Karl“ verabredet. Er ist Mitautor der Chronik „Autonome in Bewegung“ — ein 400-Seiten-Wälzer. Das Buch kann man kaufen. 20 Euro, kein Sozialrabatt. “Am 6. Mai 1980”, habe ich beim Querlesen notiert, “mündete die öffentliche Rekrutenvereidigung im Bremer Weserstadion in heftige Krawalle – für viele das Geburtsdatum der Autonomen“.
Karl ist pünktlich — ein stiller, verbindlicher Mann in den Fünfzigern. Schmales Gesicht, runde Brillengläser. Könnte Sozialarbeiter sein, Drucker, Philosoph. Als Straßenkämpfer-Typ glatte Fehlbesetzung. Dennoch war er häufig bei Aktionen gegen die Atomtransporte aufgefallen. Sechs Jahre lang als Terrorist verdächtigt, abgehört und video-überwacht. Der kaufmännische Angestellte arbeitet in einem selbstverwalteten Betrieb. Sein Chef ist “jederzeit kündbar”.
Karl bestellt eine Tagessuppe. “Wenn wir in dieser Gesellschaft etwas skandalisieren wollen”, sagt er ins hastig ausgepackte Mikrophon, “dann
geht das leider nicht ohne Gewalt gegen Sachen” (Ich denke mir: Heiliger Strohsack, der kommt ja gleich auf den Punkt ! ) – “also auch mal Autos oder ’ne leere Bullenwanne abfackeln oder irgendwo Scheiben einschmeißen oder nicht bewohnte Häuser mit Mollis anzünden. Du machst dich dann allerdings zum Richter, das ist auch klar. Das ist eine Gratwanderung !”
Karl sagt “leider” und „Gratwanderung”. Die Szene-Chronik klingt weniger pingelig. “Bullen”, erklärt das Glossar, sind “Menschen, deren Moral so gering ist, dass sie im Staatsdienst für Geld auf Befehl andere Menschen zusammenschlagen oder töten”.
Karl: “Ich hab’ jede Menge konkrete Erfahrungen mit Bullen gemacht. Maschinenmäßige Befehlsempfänger waren das. Obwohl du sichtbar nichts in der Hand hast und dich überhaupt nicht wehren kannst, wirst du zusammengeprügelt … Es gibt aber auch Polizeikräfte, die sagen: ‘Völlig absurd, dass wir die NPD vor euch schützen!’ Wir Autonomen müssen ja ehrlich zugeben, dass wir uns freuen, wenn Nazis und faschistische Schläger vom Staat und den Gerichten verknackt und in den Knast gesteckt werden…”
Und privat ? Haben Autonome ein “Privatleben”? “Keine Familie, keine Kinder”, sagt Karl ohne Zögern. “Es gibt ein paar Bambinos in unserer Wohngemeinschaft, und ich mag Kinder gern. Aber ich möchte sie nicht in eigener Verantwortung großziehen müssen. Das zu leben, was du nach außen propagierst, ist manchmal schon sehr anstrengend. Kein dickes Auto, keine materielle Sicherheit. Mein Alltag ist dafür auch niemals grau und langweilig!”
Ein Gewährsmann schreibt: “Besonders in Berlin ist die Szene wahnsinnig zersplittert und oft auch zerstritten. Und die großen Felder, die die Autonomen stark gemacht haben – Anti-AKW, Häuserkampf – spielen heute quasi keine Rolle…”
Kurz: Die Autonomen gibt ’s nicht mehr. Aber viele Arten ihrer Gattung haben überlebt — ein Flohmarkt libertärer Subkulturen. Was sie offenbar verbindet, ist der Traum (die Illusion) vom herrschaftsfreien Leben — ohne Vorgesetzte, Anführer, Regierung, Staat.
MANFRED
Die “Bibliothek der Freien” im “Haus der Demokratie”, Berlin / Prenzlauer Berg, ist nach einem Debattier-Club aus dem frühen 19. Jahrhundert benannt. Der Rote Salon des Café Stehely am Gendarmenmarkt und die Hippelschen Weinstuben in der Friedrichstraße waren ganz in der Nähe. Zu den Gästen zählten Max Stirner, der Anarchist, Friedrich Engels, aber auch emanzipierte Frauen wie Karoline Sommerbrodt und Louise Aston.
1500 Bücher und 400 Zeitschriften: Bakunin, Kropotkin, Silvio Gesell, Clara Wichmann, Erich Mühsam, “Die schwarze Fahne” aus den Goldenen Zwanzigern … Alles da, in bester Ordnung.
“Wir Anarchisten rennen nicht aus Prinzip gegen irgendwelche Herrschafts-Formationen an”, sagt der „Manfred“, der sich als eine Art Gruppensprecher herausstellt. Er begreife den Anarchismus eher als zwischenmenschlichen Gewalt- und Herrschaftsverzicht: “Ich kenne viele Leute, die mit sich im Einklang sind und in völliger Ruhe das libertäre Geheimnis genießen”.
Also gar kein bisschen Umsturz, kein Hauch von Gesetzlosigkeit, nicht der klitzekleinste Aufruhr hie und da ? Sein Mitbruder, ein Veteran in den Sechzigern, der sich auf die Anarcho-Syndikalisten des Spanischen Bürgerkriegs spezialisiert hat, würde schon ganz gern den Staat abschaffen. Aber Manfred bleibt dabei: “Der Anarchismus lebt nicht bei vermummten Aktivisten aus der ersten Demo-Reihe weiter”, er sei ein “ganz aktuelles Phänomen in allen Gesellschaftsbereichen”.
Während wir den Abend in der Kantine ausklingen lassen (Zwei Lokalrunden als vereinbartes Honorar will ich demnächst bei der Steuer einreichen), versuche ich mir vorzustellen, wie Dr. Josef Ackermann in der Chefetage der Deutschen Bank über dem Konzept einer herrschaftsfreien Gesellschaft brütet.
MARK
Ja, ich will leben / will nicht nur atmen / Nein ich will brennen / Und es gibt nichts zu verlieren / Lieber drei Jahre Abenteuer / als 30 Jahre lang am Leben zu erfrieren…
„Mark“, Mitte 20, ist Sänger der Band “Zornige Kinder”. Emo im Szene-Jargon – von emotional. “Diese Lieder”, heißt es auf dem Cover ihrer CD, “entstehen beim täglichen Kämpfen; in den Tagen, an denen du jeden schütteln möchtest um ihn anzuschreien: Das ist kein Leben – das ist nur Luftholen…”
Treffpunkt Wohngemeinschaft. Poster als Tapeten, Fahrräder im Flur. Ein Kommen und gehen. Der Reporter wird nostalgisch. Vor 40 Jahren hat er so gelebt. Links-liberal. Scheißliberal. Mitläufer der 68er Bewegung. “Macht kaputt, was Euch kaputt macht !” – “Kreuzberg gehört uns !” Starke Sprüche an der Klowand. Ich war jung, wie sie. Musste mir “die Hörner abstoßen”. Und hier, 40 Jahre später:
“Wir bau’n das Schöne / aus den Trümmern dieser Welt…”
Na klar ist das naiv ! Ich denke einen Augenblick lang: Das verwächst sich, mit 30 ist alles vorbei. Und fühle mich dabei steinalt. Dass das anarchistische Projekt stets gescheitert ist (und wohl auch scheitern musste), ändert ja nichts daran, dass die Jungen diesen Traum immer wieder selber träumen wollen !
“Meine gesellschaftliche Utopie”, sagt Mark, “ist weit entfernt von dem real-existierenden Kapitalismus … Ich möchte in anderen Arbeitsverhältnissen leben. Drei Stunden Maloche am Tag, und alle würden satt ! Es könnte ’ne Welt geben, in der die Menschen direkten Einfluss und Kontrolle über ihr Leben hätten…”
Und praktisch ? – “Kein Staat, wir regeln das selbst !” – Wer sind wir ? – “Die Leute, das Volk !” – Auch ich, der alte Spießer, der noch brav zur Arbeit und zur Wahl geht ? Glaubt Ihr ernsthaft, dass dann keiner mehr der Häuptling sein will, der Bestimmer, Primus inter pares, Boss ? Nur noch Liebe, Harmonie, Konsens und Rücksicht ? Außerdem: Wer schützt mich vor Verbrechern in Utopia ? Wie funktioniert ein Krankenhaus ? Wer zahlt Euch die Sozialhilfe ? Und woher kommt der Strom für Eure Mp3-Player?
“Ich weiß nicht”, sagt Mark mit einem offenen Lächeln und sieht gar nicht wie ertappt aus, “ich kann das nicht so konkret benennen, wie dann die Häuser aussehen werden und wer die Post organisiert oder so. Aber das ist halt — Schritt für Schritt — der Weg in ein Zuhause, das es jetzt noch gar nicht gibt…”
Ich: “Die WG als Testlauf ?”
Er: “Eine Familie, die ich mir selbst aussuche”.
40 Euro spendiert seine Mutter im Monat. Den Rest gibt der Staat, Mark ist noch in Ausbildung zum Physiotherapeuten. Ann (bei den “Zornigen Kindern” spielt sie die Geige) findet es “völlig ok, dass meine Eltern mir Geld zahlen. Sie haben mich ja in die Welt gesetzt …” Die junge Frau ist 24 Jahre alt. Noch in diesem Jahr zieht sie aus der Wohngemeinschaft aus. Sie wird im Ausland studieren. Was danach kommt – wer weiß ? Für sie und viele andere ist Autonom-Sein eine Lebensphase: Teil der Jugend.
WOLF
An meinen Redakteur: “Heute saß ich drei Stunden lang mit einem Alt-Autonomen bei schönstem Frühlings-Sonnenschein auf einem Kreuzberger Friedhof, der Ruhe wegen. Wolf muss an die 60 sein oder schon darüber. Sein Stoppelbart ist grau. Der Mann – studierter Philosoph — lebt von Projekten, die am Ende immer scheitern. Sein letztes hieß Plan für direkte Demokratie…”
“Ich war erst bei den PROVOS in Frankfurt, Mitte der Sechziger”, sagt Wolf auf mein Tonband, und die Friedhofs-Vögel trillern dazu. In regelmäßigen Abständen fährt ein Pick-up der Totengräber vorbei und unterbricht die Aufnahme. “Wir hatten lange Haare, auf meiner Bergmannsjacke war das Abzeichen des Vietcong – weiß-blau-rot mit gelbem Stern. Handgestickt ! Wir wechselten die Klamotten untereinander, wir hatten eine gemeinsame Kasse. Nach Proudhon, dem französischen Frühsozialisten, galt Eigentum als Diebstahl. Wir haben Rauchbomben gebastelt und Christbäume angezündet … Damals”, sagt Wolf und steckt sich auf dem Friedhof eine an, “hab’ ich aufgehört Künstler zu sein und wurde mehr und mehr zum riot – zum Straßenkämpfer … ” Als er nach München zog, um dort eine Kommune zu gründen, brach die junge Ehe auseinander. Frau und Kinder blieben in Frankfurt am Main.
15 Jahre später in Berlin: Lonely Wolf ist bei den Hausbesetzern gelandet. Unbenutzter Wohnraum wird enteignet, massenhaft. “Instandbesetzung” heißt der Szenebegriff. Utopia beginnt vor der Haustür. “SO 36” – so genannt nach einem alten Postbezirk im “Arbeiterviertel” Kreuzberg — hat am Ende 167 besetzte Häuser mit dreieinhalbtausend Bewohnern. “Das war phantastisch !”, sagt der alte Mann. “Jedes Haus hatte seine eigene Kultur. Es haben sich Galerien gebildet, Lokale wurden aufgemacht. Es gab Werkstätten, sogar einen Großmarkt für Baumaterial. Wir haben uns unsere Arbeitsplätze selbst geschaffen!”
Das gelobte Land hat auch eigene Institutionen (“Besetzerrat”, “Blockrat”, “Stromklauausschuss”), eigene Sprachcodes: Man geht “Einklauen”, Barrikaden heißen “Barris”, Flugblätter “Flugis”, “Ey ich bin aus der Luckauer” bedeutet: “Ich gehöre zu den Hausbesetzern in der Luckauer Straße 3”. Die Szenekneipe heißt „Ex“.
Aber noch ehe es richtig kuschelig werden kann in Utopia, kommen neue Begriffe auf: “Häuserkampf”, “Unsere Gefangenen”. Die Hausbesetzerbewegung spaltet sich in “Verhandler” und “Militante”. Straßenschlachten mit vielen Verletzten, ein Toter sogar. Und immer mehr Rückzugsgefechte. Die Waffen sind ungleich verteilt. Utopia, die Insel, versinkt im Ozean realer Machtverhältnisse.
In einiger Entfernung beginnt die Totenglocke zu läuten. Nach einer langen Pause sagt Wolf: “Ich würde niemandem mein Leben wünschen ! Permanente Observationen, dauernd im Gefängnis … Ich hab Schlaftabletten genommen. Hatte Horror-Träume. Es war fürchterlich ! Die Trennung von meiner Tochter, die Trennung von der Familie. Man quält sich ! Das kommt immer wieder ! Ich hab getrunken – weil ich enttäuscht war, weil ich allein war…”
“Autonom” heißt auch: allein sein.
JENS
“Ja, wir haben keinen Masterplan”, gibt eine Woche später „Jens“ zu Protokoll – er jobbt bei einer linken Zeitschrift. “Vielleicht wollen wir den ja auch gar nicht ! Fest steht: Den Kapitalismus kann man nicht reformieren, den muss man abschaffen!”
Ich: “Was statt dessen ?”
Er: “Ok – die herrschaftsfreie, klassenlose Gesellschaft ist wie ein Fixstern am Horizont. An dem richtet man sich aus!”
Wir hatten einen Treffpunkt vereinbart. “Ja, ich bin ein Autonomer”, schrieb Jens in seinem E‑mail-Steckbrief, “Du kannst auch sagen: ein Linksradikaler oder einfach ‘Schwarzer Block’ … Bin 1.71 m groß, Mitte zwanzig, habe sehr kurze Haare. Ohne Brille, irgendwie zwischen sportlich und kräftig. Trage schwarze Pumas mit auffälligen weißen Seitenstreifen, Blue Jeans und schleppe vermutlich eine große Addidas Sporttasche mit mir herum. Meine Handy-Nummer ist…”
Schwarzer Block: eine Wortschöpfung der Polizei, entstanden bei den Frankfurter Krawallen 1973. Mein Hirnspeicher spuckt Gruppenfotos finsterer Gestalten aus, martialisch kostümiert, vermummt wie Gotteskrieger und zum Fürchten.
“Cafe Atempause” hat geschlossen. Nun sitzen wir also in meinem friedlichen Büro, Nähe Ku’damm. Nicht die ärmste Gegend von Berlin.
Jens ist pünktlich zum Gespräch erschienen – ohne Ketten, Enterhaken, Hasskappe. Ein Militanter in zivil.
Ich: “Was bedeutet für Dich autonom ?”
Er: “Das ist ’ne Haltung, ne ‘militante Grundhaltung. Militant heißt, dass man gegen den Strom schwimmt. Ein lautes NEIN. Ein Leben gegen die bestehenden Verhältnisse — und zwar so direkt und so konfrontativ wie möglich“.
Mit 16 begann er, die Schule zu schwänzen. Verließ das deutsche Erziehungssystem ohne Abschluss. “Die ganze Lebensperspektive – Ausbildung machen, Job suchen, arbeiten” fand Jens “total unattraktiv, so ein blödes, langweiliges, totes Dasein”. Schnell gewann er den Eindruck: “Ich ziehe irgendwie den Kürzeren. Wenn man nur Hauptschulabschluss hat, ist man halt der letzte Arsch !” Mit 17 war er arbeitslos. Fing an, auf Demos zu gehen. Sah zum ersten Mal den “Schwarzen Block”. Dachte: “Das ist doch mal was!”
Eines Tages standen da 20 Glatzen, und Jens sagte zu sich: “Total bescheuert, jetzt wegzulaufen ! Am Anfang war ’s tatsächlich so: Man wollte sich mit denen hauen. Aber wir hatten schon manchmal Angst“. Auch deshalb treibt er heute Kampfsport (Die Addidastasche !) — “Free fight” oder “Vale tudo” ist eine der härtesten Sportarten überhaupt. Beim EU-Gipfel in Göteborg 2001 ist Jens verhaftet worden. Saß dann 16 Monate im Knast.
Ich: “Und warum das alles ?”
Er: “Man will … menschlich weiterkommen.Jeder von uns sucht auch ’n bisschen das Glück. Und man kann nur glücklich sein, wenn sich was ändert. Also, wenn ich mal sterbe, dann möchte ich da liegen und sagen können: Mein Leben war eigentlich ganz ok. Das war gut so !” Mir fällt eine Redewendung ein: “In der Wahrheit leben” — Moraltheologie!
Ein halber Mond über der Oranienstraße. Gedränge wie beim Kölner Karneval. Randalezuschauer flanieren auf und ab, den Latte-macchiato-Becher in der Hand.
Die Polizei lässt Leine: “Strategie der ausgestreckten Hand”. Auf den Bürgersteigen hocken Gruppen junger Leute, friedlich rauchend; schichten Pflastersteine auf wie Bauklötzchen — Abziehbilder aus dem Szene-Album: Ketten, Nieten, große Hunde. Man posiert als Desperado, Outcast, einer oder eine von ganz unten. “Erlebnisorientierte Jugendliche” (Polizeijargon).
Anderntags berichten die Medien: “Es sieht so aus, als sei das zweitägige Gewalt-Ritual der letzten Jahre durchbrochen … Kaum wahrnehmbare Schäden, hier ein paar kaputt Fensterscheiben, dort eine angekokelte Mülltonne …” Er habe den Eindruck, sagt süffisant-lächelnd der Innensenator im Fernsehen, “die Autonomen werden älter”. Nirgendwo ein Wort vom herrschaftsfreien Leben, von der hehren, süßen Utopie.
Jens resümiert: “Man muss als Autonomer ernsthaft nachdenken, ob man nicht seit Jahren das Falsche macht…”
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