Autonom


Gesen­det im DLF, BR, HR, WDR und RBB (2005) – Drei Fas­sun­gen als Ergeb­nis ver­schie­den lan­ger Sen­de­plät­ze und unter­schied­li­cher Über­ein­künf­te mit den Redaktionen.

Spre­cher: Der Autor.


AUS DEM PRESSETEXT: „In der Nacht zum 1. Mai 2004 betrieb eine inter­na­tio­na­le Grup­pe jun­ger euro­päi­scher Eth­no­lo­gen im Ber­li­ner Stadt­teil Feld­for­schung über „Demons­tra­ti­ons- und Gewalt­ri­tua­le“. Auch der Autor war wie in frü­he­ren Jah­ren mit dem Mikro­phon unter­wegs. Aber schon in den Mona­ten vor der jüngs­ten ritu­el­len Ran­da­le hat er „Feld­for­schung“ betrie­ben (…) Er hin­ter­fragt die Uto­pie einer herr­schafts­frei­en Welt, aber auch Herr­schafts-Struk­tu­ren inner­halb der Sze­ne – die Kluft zwi­schen Anspruch und Wirklichkeit“.



   A U T O N O M

Der geleb­te Wider­spruch. Tage­buch einer Recher­che.

Für „DAS MAGAZIN“ (Mai 2005)

MOTTO

Ich war stets auf der Sei­te der­je­ni­gen, die die Wahr­heit suchen. Doch ich wen­de mich von ihnen ab, wenn sie glau­ben, sie gefun­den zu haben”.

Luis Buñuel

Was sind das eigent­lich für Leu­te ?” hat mein Redak­teur gefragt. “Fin­den Sie’s raus !” In mei­nem Hirn­spei­cher die ein­ge­brann­ten Chif­fren: Ket­ten, Nie­ten, gro­ße Hun­de. Punk­schlam­pen im male­risch zer­fetz­tem Out­fit und Kapu­zen­män­ner. Tigern durch die Stra­ßen wie ver­klei­det, in Rebel­len-Pose …  “Eine Bul­len­wan­ne abfa­ckeln”, “Der Stein ist das Bewusst­sein”, “Häu­ser bren­nen, Bul­len ster­ben” … Paro­len, eklig wie der Dreck unter ihren Fin­ger­nä­geln. Ihre klamm­heim­li­che Freu­de, wenn es kracht und brennt und klirrt. Die plat­ten Feind­bil­der, der pri­mi­ti­ve Hass …

Auto­no­me ste­hen nicht im Tele­fon­buch unter “A”. Der Jour­na­list braucht “Tür­öff­ner”, Ver­mitt­ler. Mein Gewährs­mann schreibt: “Wür­de sagen, dass die meis­ten Auto­no­men sich als anar­chis­tisch bzw. liber­tär ver­ste­hen. Da Auto­no­me aller­dings seit jeher das Kon­zept ‘Gegen­öf­fent­lich­keit’ pro­pa­gie­ren, gibt es an sich kei­nen Grund, dem bür­ger­li­chen Publi­kum Infor­ma­tio­nen zu lie­fern. Hab’ mich lan­ge genug in der Sze­ne bewegt …” Ver­min­tes Gelän­de.


KARL

Café V” in Ber­lin-Kreuz­berg. Ich bin mit „Karl“ ver­ab­re­det. Er ist Mit­au­tor der Chro­nik „Auto­no­me in Bewe­gung“ — ein 400-Sei­ten-Wäl­zer. Das Buch kann man kau­fen. 20 Euro, kein Sozi­al­ra­batt. “Am 6. Mai 1980”, habe ich beim Quer­le­sen notiert, “mün­de­te die öffent­li­che Rekru­ten­ver­ei­di­gung im Bre­mer Weser­sta­di­on in hef­ti­ge Kra­wal­le – für vie­le das Geburts­da­tum der Autonomen“.

Karl ist pünkt­lich — ein stil­ler, ver­bind­li­cher Mann in den Fünf­zi­gern. Schma­les Gesicht, run­de Bril­len­glä­ser. Könn­te Sozi­al­ar­bei­ter sein, Dru­cker, Phi­lo­soph. Als Stra­ßen­kämp­fer-Typ glat­te Fehl­be­set­zung. Den­noch war er häu­fig bei Aktio­nen gegen die Atom­trans­por­te auf­ge­fal­len. Sechs Jah­re lang als Ter­ro­rist ver­däch­tigt, abge­hört und video-über­wacht. Der kauf­män­ni­sche Ange­stell­te arbei­tet in einem selbst­ver­wal­te­ten Betrieb. Sein Chef ist “jeder­zeit kündbar”.

Karl bestellt eine Tages­sup­pe. Wenn wir in die­ser Gesell­schaft etwas skan­da­li­sie­ren wol­len”, sagt er ins has­tig aus­ge­pack­te Mikro­phon, “dann 

geht das lei­der nicht ohne Gewalt gegen Sachen” (Ich den­ke mir: Hei­li­ger Stroh­sack, der kommt ja gleich auf den Punkt ! ) – “also auch mal Autos oder ’ne lee­re Bul­len­wan­ne abfa­ckeln oder irgend­wo Schei­ben ein­schmei­ßen oder nicht bewohn­te Häu­ser mit Mol­lis anzün­den. Du machst dich dann aller­dings zum Rich­ter, das ist auch klar. Das ist eine Gratwanderung !” 


Karl sagt “lei­der” und „Grat­wan­de­rung”. Die Sze­ne-Chro­nik klingt weni­ger pin­ge­lig. “Bul­len”, erklärt das Glos­sar, sind “Men­schen, deren Moral so gering ist, dass sie im Staats­dienst für Geld auf Befehl ande­re Men­schen zusam­men­schla­gen oder töten”.


Karl: “Ich hab’ jede Men­ge kon­kre­te Erfah­run­gen mit Bul­len gemacht. Maschi­nen­mä­ßi­ge Befehls­emp­fän­ger waren das. Obwohl du sicht­bar nichts in der Hand hast und dich über­haupt nicht weh­ren kannst, wirst du zusam­men­ge­prü­gelt … Es gibt aber auch Poli­zei­kräf­te, die sagen: ‘Völ­lig absurd, dass wir die NPD vor euch schüt­zen!’ Wir Auto­no­men müs­sen ja ehr­lich zuge­ben, dass wir uns freu­en, wenn Nazis und faschis­ti­sche Schlä­ger vom Staat und den Gerich­ten ver­knackt und in den Knast gesteckt werden…”

Und pri­vat ? Haben Auto­no­me ein “Pri­vat­le­ben”? Kei­ne Fami­lie, kei­ne Kin­der”, sagt Karl ohne Zögern. “Es gibt ein paar Bam­bi­nos in unse­rer Wohn­ge­mein­schaft, und ich mag Kin­der gern. Aber ich möch­te sie nicht in eige­ner Ver­ant­wor­tung groß­zie­hen müs­sen. Das zu leben, was du nach außen pro­pa­gierst, ist manch­mal schon sehr anstren­gend. Kein dickes Auto, kei­ne mate­ri­el­le Sicher­heit. Mein All­tag ist dafür auch nie­mals grau und langweilig!”

Ein Gewährs­mann schreibt: “Beson­ders in Ber­lin ist die Sze­ne wahn­sin­nig zer­split­tert und oft auch zer­strit­ten. Und die gro­ßen Fel­der, die die Auto­no­men stark gemacht haben – Anti-AKW, Häu­ser­kampf – spie­len heu­te qua­si kei­ne Rolle…” 

Kurz: Die Auto­no­men gibt ’s nicht mehr. Aber vie­le Arten ihrer Gat­tung haben über­lebt — ein Floh­markt liber­tä­rer Sub­kul­tu­ren. Was sie offen­bar ver­bin­det, ist der Traum (die Illu­si­on) vom herr­schafts­frei­en Leben — ohne Vor­ge­setz­te, Anfüh­rer, Regie­rung, Staat. 

MANFRED

Die  “Biblio­thek der Frei­en” im “Haus der Demo­kra­tie”, Ber­lin / Prenz­lau­er Berg, ist nach einem Debat­tier-Club aus dem frü­hen 19. Jahr­hun­dert benannt. Der Rote Salon des Café Ste­he­ly am Gen­dar­men­markt und die Hip­pel­schen Wein­stu­ben in der Fried­rich­stra­ße waren ganz in der Nähe. Zu den Gäs­ten zähl­ten Max Stir­ner, der Anar­chist, Fried­rich Engels, aber auch  eman­zi­pier­te Frau­en wie Karo­li­ne Som­mer­brodt und Loui­se Aston. 

1500 Bücher und 400 Zeit­schrif­ten: Baku­nin, Kro­pot­kin, Sil­vio Gesell, Cla­ra Wich­mann, Erich Müh­sam, “Die schwar­ze Fah­ne” aus den Gol­de­nen Zwan­zi­gern … Alles da, in bes­ter Ordnung.

Wir Anar­chis­ten ren­nen nicht aus  Prin­zip gegen irgend­wel­che Herr­schafts-For­ma­tio­nen an”, sagt der „Man­fred“, der sich als eine Art Grup­pen­spre­cher her­aus­stellt. Er begrei­fe den Anar­chis­mus eher als  zwi­schen­mensch­li­chen Gewalt- und Herr­schafts­ver­zicht: “Ich ken­ne vie­le Leu­te, die mit sich im Ein­klang sind und in völ­li­ger Ruhe das liber­tä­re Geheim­nis genießen”.

Also gar kein biss­chen Umsturz, kein Hauch von Gesetz­lo­sig­keit, nicht der  klit­ze­kleins­te Auf­ruhr hie und da ? Sein Mit­bru­der, ein Vete­ran in den Sech­zi­gern, der sich auf die Anarcho-Syn­di­ka­lis­ten des Spa­ni­schen Bür­ger­kriegs spe­zia­li­siert hat, wür­de schon ganz gern den Staat abschaf­fen. Aber Man­fred bleibt dabei: “Der Anar­chis­mus lebt nicht bei ver­mumm­ten Akti­vis­ten aus der ers­ten Demo-Rei­he wei­ter”, er sei ein “ganz aktu­el­les Phä­no­men in allen Gesellschaftsbereichen”. 

Wäh­rend wir den Abend in der Kan­ti­ne aus­klin­gen las­sen (Zwei Lokal­run­den als ver­ein­bar­tes Hono­rar will ich dem­nächst bei der Steu­er ein­rei­chen), ver­su­che ich mir vor­zu­stel­len, wie Dr. Josef Acker­mann in der Chef­eta­ge der Deut­schen Bank über dem Kon­zept einer herr­schafts­frei­en Gesell­schaft brütet.

MARK

Ja, ich will leben / will nicht nur atmen / Nein ich will bren­nen / Und es gibt nichts zu ver­lie­ren / Lie­ber drei Jah­re Aben­teu­er / als 30 Jah­re lang am Leben zu erfrieren…

Mark“, Mit­te 20, ist Sän­ger der Band “Zor­ni­ge Kin­der”. Emo im Sze­ne-Jar­gon – von emo­tio­nal. “Die­se Lie­der”, heißt es auf dem Cover ihrer CD, “ent­ste­hen beim täg­li­chen Kämp­fen; in den Tagen, an denen du jeden schüt­teln möch­test um ihn anzu­schrei­en: Das ist kein Leben – das ist nur Luftholen…” 

Treff­punkt Wohn­ge­mein­schaft. Pos­ter als Tape­ten, Fahr­rä­der im Flur. Ein Kom­men und gehen. Der Repor­ter wird nost­al­gisch. Vor 40 Jah­ren hat er so gelebt. Links-libe­ral. Scheiß­li­be­ral. Mit­läu­fer der 68er Bewe­gung. “Macht kaputt, was Euch kaputt macht !” – “Kreuz­berg gehört uns !” Star­ke Sprü­che an der Klo­wand. Ich war jung, wie sie. Muss­te mir “die Hör­ner absto­ßen”. Und hier, 40 Jah­re später: 

Wir bau’n das Schö­ne / aus den Trüm­mern die­ser Welt…” 

Na klar ist das naiv ! Ich den­ke einen Augen­blick lang: Das ver­wächst sich, mit 30 ist alles vor­bei. Und füh­le mich dabei stein­alt. Dass das anar­chis­ti­sche Pro­jekt stets geschei­tert ist (und wohl auch schei­tern muss­te), ändert ja nichts dar­an, dass die Jun­gen die­sen Traum immer wie­der sel­ber träu­men wollen ! 

Mei­ne gesell­schaft­li­che Uto­pie”, sagt Mark, “ist weit ent­fernt von dem real-exis­tie­ren­den Kapi­ta­lis­mus … Ich möch­te in ande­ren Arbeits­ver­hält­nis­sen leben. Drei Stun­den Malo­che am Tag, und alle wür­den satt ! Es könn­te ’ne Welt geben, in der die Men­schen direk­ten Ein­fluss und Kon­trol­le über ihr Leben hätten…”

Und prak­tisch ? – “Kein Staat, wir regeln das selbst !” – Wer sind wir ? – “Die Leu­te, das Volk !” – Auch ich, der alte Spie­ßer, der noch brav zur Arbeit und zur Wahl geht ? Glaubt Ihr ernst­haft, dass dann kei­ner mehr der Häupt­ling sein will, der Bestim­mer, Pri­mus inter pares, Boss ? Nur noch Lie­be, Har­mo­nie, Kon­sens und Rück­sicht ? Außer­dem: Wer schützt mich vor Ver­bre­chern in Uto­pia ? Wie funk­tio­niert ein Kran­ken­haus ? Wer zahlt Euch die Sozi­al­hil­fe ? Und woher kommt der Strom für Eure Mp3-Player?

Ich weiß nicht”, sagt Mark mit einem offe­nen Lächeln und sieht gar nicht wie ertappt aus, “ich kann das nicht so kon­kret benen­nen, wie dann die Häu­ser aus­se­hen wer­den und wer die Post orga­ni­siert oder so. Aber das ist halt — Schritt für Schritt — der Weg in ein Zuhau­se, das es jetzt noch gar nicht gibt…” 

Ich: “Die WG als Testlauf ?” 

Er: “Eine Fami­lie, die ich mir selbst aussuche”. 

40 Euro spen­diert sei­ne Mut­ter im Monat. Den Rest gibt der  Staat, Mark ist noch in Aus­bil­dung zum Phy­sio­the­ra­peu­ten. Ann (bei den “Zor­ni­gen Kin­dern” spielt sie die Gei­ge) fin­det es “völ­lig ok, dass mei­ne Eltern mir Geld zah­len. Sie haben mich ja in die Welt gesetzt …” Die jun­ge Frau ist 24 Jah­re alt. Noch in die­sem Jahr zieht sie aus der Wohn­ge­mein­schaft aus. Sie wird im Aus­land stu­die­ren. Was danach kommt – wer weiß ? Für sie und vie­le ande­re ist Auto­nom-Sein eine Lebens­pha­se: Teil der Jugend. 

WOLF

An mei­nen Redak­teur: “Heu­te saß ich drei Stun­den lang mit einem Alt-Auto­no­men bei schöns­tem Früh­lings-Son­nen­schein auf einem Kreuz­ber­ger Fried­hof, der Ruhe wegen. Wolf muss an die 60 sein oder schon dar­über. Sein Stop­pel­bart ist grau. Der Mann – stu­dier­ter Phi­lo­soph — lebt von Pro­jek­ten, die am Ende immer schei­tern. Sein letz­tes hieß Plan für direk­te Demo­kra­tie…” 

Ich war erst bei den PROVOS in Frank­furt, Mit­te der Sech­zi­ger”, sagt Wolf auf mein Ton­band, und die Fried­hofs-Vögel tril­lern dazu. In regel­mä­ßi­gen Abstän­den fährt ein Pick-up der Toten­grä­ber vor­bei und unter­bricht die Auf­nah­me. “Wir hat­ten lan­ge Haa­re, auf mei­ner Berg­manns­ja­cke war das Abzei­chen des Viet­cong – weiß-blau-rot mit gel­bem Stern. Hand­ge­stickt ! Wir wech­sel­ten die Kla­mot­ten unter­ein­an­der, wir hat­ten eine gemein­sa­me Kas­se. Nach Proudhon, dem fran­zö­si­schen Früh­so­zia­lis­ten, galt Eigen­tum als Dieb­stahl. Wir haben Rauch­bom­ben gebas­telt und Christ­bäu­me ange­zün­det … Damals”, sagt Wolf und steckt sich auf dem Fried­hof eine an, “hab’ ich auf­ge­hört Künst­ler zu sein und wur­de mehr und mehr zum riot – zum Stra­ßen­kämp­fer …  ” Als er nach Mün­chen zog, um dort eine Kom­mu­ne zu grün­den, brach die jun­ge Ehe aus­ein­an­der. Frau und Kin­der blie­ben in Frank­furt am Main. 

15 Jah­re spä­ter in Ber­lin: Lonely Wolf ist bei den Haus­be­set­zern gelan­det. Unbe­nutz­ter Wohn­raum wird ent­eig­net, mas­sen­haft. “Instand­be­set­zung” heißt der Sze­n­e­be­griff. Uto­pia beginnt vor der Haus­tür. “SO 36” – so genannt nach einem alten Post­be­zirk im “Arbei­ter­vier­tel” Kreuz­berg — hat am Ende 167 besetz­te Häu­ser mit drei­ein­halb­tau­send Bewoh­nern. “Das war phan­tas­tisch !”, sagt der alte Mann. “Jedes Haus hat­te sei­ne eige­ne Kul­tur. Es haben sich Gale­rien gebil­det, Loka­le wur­den auf­ge­macht. Es gab Werk­stät­ten, sogar einen Groß­markt für Bau­ma­te­ri­al. Wir haben uns unse­re Arbeits­plät­ze selbst geschaffen!”

Das gelob­te Land hat auch eige­ne Insti­tu­tio­nen (“Beset­zer­rat”, “Block­rat”, “Strom­klau­aus­schuss”), eige­ne Sprach­codes: Man geht “Ein­klau­en”, Bar­ri­ka­den hei­ßen “Bar­ris”, Flug­blät­ter “Flug­is”,  “Ey ich bin aus der Luckau­er” bedeu­tet: “Ich gehö­re zu den Haus­be­set­zern in der Luckau­er Stra­ße 3”. Die Sze­ne­knei­pe heißt „Ex“.


Aber noch ehe es rich­tig kusche­lig wer­den kann in Uto­pia, kom­men neue Begrif­fe auf: “Häu­ser­kampf”, “Unse­re Gefan­ge­nen”. Die Haus­be­set­zer­be­we­gung spal­tet sich in “Ver­hand­ler” und “Mili­tan­te”. Stra­ßen­schlach­ten mit vie­len Ver­letz­ten, ein Toter sogar. Und immer mehr Rück­zugs­ge­fech­te. Die Waf­fen sind ungleich ver­teilt. Uto­pia, die Insel, ver­sinkt im Oze­an rea­ler Machtverhältnisse.

In eini­ger Ent­fer­nung beginnt die Toten­glo­cke zu läu­ten. Nach einer lan­gen Pau­se sagt Wolf: “Ich wür­de nie­man­dem mein Leben wün­schen ! Per­ma­nen­te Obser­va­tio­nen, dau­ernd im Gefäng­nis … Ich hab Schlaf­ta­blet­ten genom­men. Hat­te Hor­ror-Träu­me. Es war fürch­ter­lich ! Die Tren­nung von mei­ner Toch­ter, die Tren­nung von der Fami­lie. Man quält sich ! Das kommt immer wie­der ! Ich hab getrun­ken – weil ich ent­täuscht war, weil ich allein war…” 

Auto­nom” heißt auch: allein sein. 

JENS

“Ja, wir haben kei­nen Mas­ter­plan”, gibt eine Woche spä­ter „Jens“ zu Pro­to­koll – er jobbt bei einer lin­ken Zeit­schrift. “Viel­leicht wol­len wir den ja auch gar nicht ! Fest steht: Den Kapi­ta­lis­mus kann man nicht refor­mie­ren, den muss man abschaffen!”

Ich:  “Was statt dessen ?” 

Er:  “Ok – die herr­schafts­freie, klas­sen­lo­se Gesell­schaft ist wie ein  Fix­stern am Hori­zont. An dem rich­tet man sich aus!” 

Wir hat­ten einen Treff­punkt ver­ein­bart. “Ja, ich bin ein Auto­no­mer”, schrieb Jens in sei­nem E‑mail-Steck­brief, “Du kannst auch sagen: ein Links­ra­di­ka­ler oder ein­fach ‘Schwar­zer Block’ … Bin 1.71 m groß, Mit­te zwan­zig, habe sehr kur­ze Haa­re. Ohne Bril­le, irgend­wie zwi­schen sport­lich und kräf­tig. Tra­ge schwar­ze Pumas mit auf­fäl­li­gen wei­ßen Sei­ten­strei­fen, Blue Jeans und schlep­pe ver­mut­lich eine gro­ße Addi­das Sport­ta­sche mit mir her­um. Mei­ne Han­dy-Num­mer ist…” 

Schwar­zer Block: eine Wort­schöp­fung der Poli­zei, ent­stan­den bei den Frank­fur­ter Kra­wal­len 1973. Mein Hirn­spei­cher spuckt Grup­pen­fo­tos fins­te­rer Gestal­ten aus, mar­tia­lisch kos­tü­miert, ver­mummt wie Got­tes­krie­ger und zum Fürchten. 

Cafe Atem­pau­se” hat geschlos­sen. Nun sit­zen wir also in mei­nem fried­li­chen Büro, Nähe Ku’­damm. Nicht die ärms­te Gegend von Berlin. 

Jens ist pünkt­lich zum Gespräch erschie­nen – ohne Ket­ten, Enter­ha­ken, Hass­kap­pe. Ein Mili­tan­ter in zivil.

Ich:  “Was bedeu­tet für Dich autonom ?” 

Er: “Das ist ’ne Hal­tung, ne ‘mili­tan­te Grund­hal­tung. Mili­tant heißt, dass man gegen den Strom schwimmt. Ein lau­tes NEIN. Ein Leben gegen die bestehen­den Ver­hält­nis­se — und zwar so direkt und so kon­fron­ta­tiv wie möglich“.

Mit 16 begann er, die Schu­le zu schwän­zen. Ver­ließ das deut­sche Erzie­hungs­sys­tem ohne Abschluss. “Die gan­ze Lebens­per­spek­ti­ve – Aus­bil­dung machen, Job suchen, arbei­ten” fand Jens “total unat­trak­tiv, so ein blö­des, lang­wei­li­ges, totes Dasein”. Schnell gewann er den Ein­druck: “Ich zie­he irgend­wie den Kür­ze­ren. Wenn man nur Haupt­schul­ab­schluss hat, ist man halt der letz­te Arsch !” Mit 17 war er arbeits­los. Fing an, auf Demos zu gehen. Sah zum ers­ten Mal den “Schwar­zen Block”. Dach­te: “Das ist doch mal was!” 

Eines Tages stan­den da 20 Glat­zen, und Jens sag­te zu sich: “Total bescheu­ert, jetzt weg­zu­lau­fen ! Am Anfang war ’s tat­säch­lich so: Man woll­te sich mit denen hau­en. Aber wir hat­ten schon manch­mal Angst“. Auch des­halb treibt er heu­te Kampf­sport (Die Addi­da­sta­sche !) — “Free fight” oder “Vale tudo” ist eine der här­tes­ten Sport­ar­ten über­haupt. Beim EU-Gip­fel in Göte­borg 2001 ist Jens ver­haf­tet wor­den. Saß dann 16 Mona­te im Knast.

Ich: “Und war­um das alles ?”

Er: “Man will … mensch­lich weiterkommen.Jeder von uns sucht auch ’n biss­chen das Glück. Und man kann nur glück­lich sein, wenn sich was ändert. Also, wenn ich mal ster­be, dann möch­te ich da lie­gen und sagen kön­nen: Mein Leben war eigent­lich ganz ok. Das war gut so !” Mir fällt eine Rede­wen­dung ein: “In der Wahr­heit leben” — Moraltheologie!


Ein hal­ber Mond über der Ora­ni­en­stra­ße. Gedrän­ge wie beim Köl­ner Kar­ne­val. Ran­da­le­zu­schau­er fla­nie­ren auf und ab, den Lat­te-mac­chia­to-Becher in der Hand. 

Die Poli­zei lässt Lei­ne: “Stra­te­gie der aus­ge­streck­ten Hand”. Auf den Bür­ger­stei­gen hocken Grup­pen jun­ger Leu­te, fried­lich rau­chend; schich­ten Pflas­ter­stei­ne auf wie Bau­klötz­chen — Abzieh­bil­der aus dem Sze­ne-Album: Ket­ten, Nie­ten, gro­ße Hun­de. Man posiert als Despe­ra­do, Out­cast, einer oder eine von ganz unten. “Erleb­nis­ori­en­tier­te Jugend­li­che” (Poli­zei­jar­gon). 

Andern­tags berich­ten die Medi­en: “Es sieht so aus, als sei das zwei­tä­gi­ge Gewalt-Ritu­al der letz­ten Jah­re durch­bro­chen … Kaum wahr­nehm­ba­re Schä­den, hier ein paar kaputt Fens­ter­schei­ben, dort eine ange­ko­kel­te Müll­ton­ne …” Er habe den Ein­druck, sagt süf­fi­sant-lächelnd der Innen­se­na­tor im Fern­se­hen, “die Auto­no­men wer­den älter”. Nir­gend­wo ein Wort vom herr­schafts­frei­en Leben, von der heh­ren, süßen Utopie.

Jens resü­miert: “Man muss als Auto­no­mer ernst­haft nach­den­ken, ob man nicht seit Jah­ren das Fal­sche macht…”

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