Der Atmofilm
/ Aus Feature-Workshop in CUT-Magazin, 2000:
Im weiten Feld “zwischen Nachricht und Drama” (Alfred Andersch) kann Feature alles sein — nackte Wort-Erzählung, wie sie der große Radioplauderer Horst Krüger so faszinierend beherrschte, Reportage, Montage. Aber auch der gestaltete “reine Ton”: Atmo- oder Hörfilm. Film für die Ohren.
Die Herstellung erscheint zunächst verlockend leicht: keine mühselige Faktensammlung, keine Manuskript-Arbeit; das Mikrophon in die Luft halten und los. Der Rest: nur noch pures Studio-Vergnügen, wie Kochen. Man rührt etwas zusammen, schmeckt ab, serviert — fertig … Schön wär’s (und langweilig)!
PROBLEM NUMMER 1:
Sobald wir das Mikrophon in die Hand nehmen, beginnt die “Manipulation” (von lat. manus, die Hand, bzw. franz. manipuler, handhaben). Schon die Beschaffenheit der Aufnahmeapparatur, das verwendete Speicherma-terial, der praktische Umgang mit den Geräten, Wetter, Jahres- und Tageszeiten, Wahl des Orts, der Richtung, des Aufnahmewinkels u. s. w. entscheiden über den akustischen Eindruck, den das Hörpublikum von der ‘objektiven Wirklichkeit’ erhalten wird.
Die Eins-zu-Eins-Aufnahme ist also keineswegs ‘die Wirklichkeit’ und schon gar nicht ‘die Wahrheit’, vielmehr weitgehend ein Zufallsprodukt — während es doch darum geht, das Charakteristische eines Ortes / einer Situation zu übermitteln. So gerecht unsere Sache auch sein mag — unfreiwillig sind wir O‑Ton-Arbeiter chronische Manipulateure
Denn anders als das unwissende Mikrophon, das immer nur eine Summe des augenblicklich Hörbaren abbildet, hören Menschen selektiv und reflektierend; filtern aus den Umgebungsgeräuschen — wie mit einem Equalizer — der Reihe nach einzelne Frequenzen heraus; identifizieren die dazu gehörenden Schallereignisse und ihre Bedeutung. Und zusätzlich vollführen unsere Augen Schwenks und Zooms und vervollständigen die akustischen Mitteilungen aus unserer Umwelt durch optische. So kommt es, dass wir auf der anderen Straßenseite — durch all den Verkehr hindurch — eine Person schreien hören (sie reißt ja den Mund auf, sie tut aufgeregt u.s.w.) — doch die Aufnahmeapparatur registriert nichts dergleichen, nur einen Cocktail aus Motorenlärm.
PROBLEM NUMMER 2:
Der Hörer (der Empfänger unserer Audio-Botschaft) hört ja gar nicht unsere Aufnahme. Was an seinem/ihrem Trommelfell ankommt — in Luftschwingungen umgewandelte Tonreize — entspricht zwar noch weitgehend dem Original. Aber der kurze Weg bis zum Hörzentrum im Gehirn genügt, aus dem Original unterschiedliche Kopien zu machen, und zwar so viele Kopien wie es Zuhörer gibt.
Das Theater
der Imagination
Wir gleichen die akustischen Eindrücke mit unserem eigenen Erinnerungs-Archiv ab, fügen hinzu, filtern, füllen Lücken auf. “Der Wald im Radio”, sagte ein kluger Selbst-Beobachter, ist der “Wald unserer Erinnerungen”. Hören ist Erinnern und Vergleichen. Das Geräusch der herandonnernden Lokomotive lässt unseren Hirnspeicher ein ganzes Arsenal von Lokomotiv-Abbildungen und ‑Eigenerinnerungen durchrasen. Was wir — Millisekunden später — tatsächlich “hören”, ist bereits unsere Version. Das Original war kaum mehr als ein Rohling, ein Muster, und je klarer dieses Muster ausfiel, umso vielfältiger und “farbiger” sind nun die Kopien.
Denn dafür benutzt das Radio unser Gehirn: als Bühne, als Projektions-fläche eigener Imagination. Radio “vertont” nicht das Sichtbare, ist nicht “Fernsehen ohne Bild” — Radio produziert Vorstellungen, innere Bilder. Es ist in den Worten unseres Lehrmeisters Orson Welles “The Theatre of Imagination”. Und diese schöne Umschreibung trifft besonders auf den Hörfilm zu.
PROBLEM NUMMER 3: DIE AMBIVALENZ DES ORIGINAL-TONS
Mitte der 80er Jahre unternahm ich den Versuch, das weithin unbekannte Territorium der UdSSR akustisch abzubilden. Der Radiohörer vernahm das “Reich des Bösen” (Ronald Reagan) als marschierende Stiefel-Kolonnen und knirschende Panzerketten auf dem Pflaster des Roten Platzes. Dieser Sound war ergänzungsbedürftig. Allerdings reichte mir das bloße Hinhören und Wiedergeben damals nicht aus. Ich wollte mit Hilfe des O‑Tons auch in die historischen und sozio-politischen Tiefenschichten vordringen.
Von heute aus betrachtet, war das Ergebnis zwiespältig. Zuviel versuchte ich dem O‑Ton als Bedeutungsträger zuzumuten. Bei einer Diskussion nach der Vorführung des Hörstücks MOSKAUER ZEIT in Berlin lobte ein Zuhörer die Panzerketten-Metapher, die mit einer Rundfunkrede Michail Gorbatschows montiert war. Was er da gehört hatte, waren allerdings beileibe keine Panzerketten, sondern die Geräusche startender Lastkraftwagen und Baumaschinen. Das akustische Bild sollte “Schwung” und “Aufbruch aus der Lethargie” ausdrücken — also das genaue Gegenteil.
Die Arbeit mit Originalgeräuschen bedeutet auch: mit Enttäuschungen leben lernen. Der norwegische Wasserfall klingt wie die häusliche Dusche, das Schaum- bad hingegen wie ein knisternder Kamin, die zu nah aufgenommenen knabbern- den Miezekatzen wie blutrünstige Monster, der Amazonas wie das Planschbecken in Nachbars Garten.
LÖSUNG DES PROBLEMS: DIE REKONSTRUKTION
Die Wasserspiele Peters des Großen in Peterhof, der weitläufigen Schloss- und Parkanlage außerhalb St.Petersburgs, sind zu Recht ein Publikumsmagnet: Hunderte von Brunnen, Fontänen und Wasserspeiern bilden ein spektakuläres Gesamtkunstwerk aus Bewegung, farbig gebrochenem Sonnenlicht und Geräuschen. Was aber registriert mein Stereo-Mikrophon ? Siehe unter “Wasserfall” weiter oben …
Horch ! Das links
murmelt es !
Akustische Vielfalt, Lautstärke- und Perspektivwechsel, Wirkungen, die ich an Ort und Stelle durch eine Kopfdrehung, durch ein paar Schritte jederzeit herstellen kann, sind mir als Radiohörer verwehrt. Der Autor / die Autorin des Soundfilms muss mich vielmehr “an der Hand” (am Ohr) nehmen: Horch, hier ist ein ganz kleiner, blubbernder Qualler Und — komm’ weiter: Da links murmelt was. Und dort hinten steigen Fontänen auf — halblinks eine kleine (mehr ein Zimmerspringbrunnen), aber weiter rechts ein dicker Strahl. Und jetzt nähern wir uns dem künstlichen Wasserfall. Der verschluckt nun den Qualler, den Springbrunnen und die Fontäne und dominiert das akustische Panorama. Und je näher wir kommen, umso gewaltiger orgeln die Bässe der herabstürzenden Wassermassen, verstärkt durch das vielfache Echo aus Höhlen und Grotten. Große Lautstärke — auch dies eine Grunderfahrung — lässt sich nur als Gegensatz zur relativen Stille abbilden, als Crescendo oder durch einen harten überraschenden Schnitt.
Ein Hör-“Bild” (und natürlich sprechen wir hier vom stereo- oder quadrophon erlebbaren Klangraum in “CD-Qualität”) darf nie statisch sein. Entweder das Mikrophon bewegt sich schon bei der Aufnahme durch die akustische Landschaft — wir “mischen” sozusagen live, die dauernde Kontrolle durch Kopfhörer versteht sich von selbst -, oder wir stellen den Originaleindruck im Studio wieder her. Wir simulieren die Bewegung, das Näherkommen oder Sich-Entfernen, den Wechsel zwischen links und rechts. Wir rekonstruieren die erlebte Wirklichkeit für das Radio.
Voraussetzung: SELEKTIVES AUFNEHMEN. Das Mikrophon “operiert” das einzelne Geräusch aus seiner Umgebung heraus — den Qualler, den Brunnen, das Tropfen, das Rieseln, das Rauschen. Bei der richtig gepegelten Nahaufnahme treten die dann ja relativ leiseren Umgebungs-geräusche in den Hintergrund. Wir gewinnen klare, deutlich unterscheid-bare Sound Samples. Erst in der Mischung, im “Zusammenfahren” summieren sich die Einzelaufnahmen wieder zum Gesamtbild — allerdings nun kontrolliert, nach unserem dramaturgischen Konzept, im vorgegebenen Tempo und Lautstärkeverhältnis.
DAS KONZEPT
Wir sind Erzähler im Radio — auch ohne Worte. Und wir erzählen in der Zeit — in 40, 60 oder 120 Minuten. Doch diese Zeitspanne muss dramaturgisch bewältigt werden. Beste Grundlage: eine Skizze, die den emotionalen, den akustischen (“musikalischen”) und den inhaltlichen Verlauf von A wie Anfang bis E wie Ende in groben Zügen festlegt. Wir konstruieren den dramaturgischen Bogen, markieren auf der Zeitleiste die “heißen” und “kalten Sequenzen”, die unerlässlichen Ruhephasen und die Höhepunkte. Einen Hörfilm “bauen” ist Konstrukteurs‑, Architekten‑, Designer-Arbeit, die sich im Studio oder auf dem heimischen PC fortsetzt.
Der Geräusch-Inszenator hat das wundervolle — wohl auch ziemlich einsame — Privileg, Zeit und Raum seines Radio-Features zu beherrschen. Er schafft ein kontrolliertes Nacheinander. Den einfältigen technischen Tonverarbeitungs-komplex, der nur summarisch fressen kann, füttert er dosiert mit den Bestandteilen
des ‘Soundscape’. Er transportiert das Fragmentarische seiner Schallaufnahmen in die Zeit- und Raumebene der Sendung; weist ihnen Ort, Zeitpunkt und Bedeutung zu.
Übrigens: Ganz ohne die Sprache wird mein Atmofilm nicht auskommen. Und warum sollte er auch ! Was hindert mich daran, alle akustischen Ausdrucksmittel zu benutzen ? Die Szenen meines Hörfilms müssen klar lesbar sein (wir veranstalten ja kein Geräusche ‑Raten). Und die Sprache hilft mir dabei. Ich jedenfalls habe mich von dem falschen, eher sportlichen Ehrgeiz verabschiedet, alles mit dem sprachlosen Mikrophon ausdrücken zu wollen. Einmal Komponist sein und die Geräusche der Umwelt in musique concrète verwandeln zu wollen, ist ein zweifellos verführerischer Reiz unseres wunder- baren Handwerks. Dennoch habe ich als akustischer Filmerzähler andere Wurzeln und Fähigkeiten als ein Pierre Schaeffer, Pierre Henry oder Pierre Boulez.
Am Anfang aber steht noch immer die Idee. Aus einem unscharfen Thema, einem schwachbrüstigen Konzept ist nie ein spannender Hörfilm geworden. Spontaneität und Inspiration — geschenkt ! Doch “der Zufall trifft nur den vorbereiteten Geist” (Louis Pasteur).
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