Auf brasilianisch klingt „Feature“ wie „Future“

Sabi­ne Rauh in der Süd­deut­schen Zei­tung Nr. 43 (1990)

Als ich Hel­mut Kopetz­ky in sei­ner Ber­li­ner Woh­nung besu­che, ist er gera­de aus Bra­si­li­en zurück­ge­kom­men. Im Auf­trag des Goe­the-Insti­tuts hat er dort zwei Semi­na­re und einen Work­shop übers Hör­funk-Fea­ture gelei­tet, und er ist noch ganz erfüllt von dem „Kul­tur­schock“, den er dort erlit­ten hat, ange­sichts der pri­mi­ti­ven Arbeits­mög­lich­kei­ten; erfüllt auch von dem Zwei­fel, wie­viel oder wie wenig von dem neu Erfah­re­nen die Kol­le­gen dort in ihren All­tag mit­neh­men kön­nen. Sei­nen Bericht fürs Goe­the-Insti­tut hat er über­schrie­ben: „Auf bra­si­lia­nisch klingt ‚fea­ture‘ wie ‚future‘.“

Kopetz­ky selbst hat sich die best­mög­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für sei­ne Arbeit geschaf­fen. Im eige­nen Stu­dio pro­du­ziert er (zusam­men mit sei­ner Frau Heid­run) sei­ne Sen­dun­gen selbst — frei von Pro­duk­ti­ons­zwän­gen und ‑eng­päs­sen in den Sen­dern. Dass er bei sei­nen Sen­dun­gen auch Regie führt, ver­steht sich bei die­ser Arbeits­wei­se von selbst. Und dass ihm sei­ne Arbeit einen mit­un­ter sogar spie­le­ri­schen Genuss berei­tet, ver­ra­ten die „Par­ti­tu­ren“, die er zu sei­nen Sen­dun­gen schreibt und zeich­net. Die meis­ten bestimmt er nur für sich, aber für „Mos­kau­er Zeit“, eine Ori­gi­nal­ton-Sen­dung, die als Hör­spiel lief, hat er die Par­ti­tur ver­viel­fäl­tigt: auf einer Art Noten­blatt erschei­nen Glo­cken und Zif­fer­blät­ter, Sekt­kor­ken und Flug­zeu­ge, und selbst wenn man die Sen­dung nicht gehört hät­te, könn­te man sich die Töne vor­stel­len und die Art, wie hier Atmo­sphä­re und Infor­ma­ti­on wie­der­ge­ge­ben werden.

Was die­se Sen­dung, Unter­ti­tel: „Eine Rei­se für Zuhö­rer“, von ande­ren O‑Ton-Col­la­gen unter­schei­det, ist die Geschich­te der Äch­tung und Reha­bi­li­ta­ti­on des Dmi­t­ri Schost­a­ko­witsch. Damit gewinnt „Mos­kau­er Zeit“ nicht nur einen dra­ma­tur­gi­schen roten Faden, son­dern die Töne wer­den inter­pre­tiert als Töne aus einem Land, in dem sich der­zeit viel ver­än­dert, und manch­mal glaubt man das den Tönen sogar anzu­hö­ren. Der nament­lich genann­ten Per­son Kopetz­ky begeg­net man in den Sen­dun­gen sel­ten, doch die Aus­wahl der Gesprächs­part­ner, die Behand­lung der Ori­gi­nal­tö­ne, auch die Wahl der The­men sagen meist viel über des Autors Position.

 Beein­dru­ckend ist das in der Sen­dung “Die ande­re Front“. Kopetz­ky lässt Frau­en aus ver­schie­de­nen Län­dern erzäh­len, deren Bru­der, Mann oder Sohn im Zwei­ten Welt­krieg getö­tet wur­de. Kei­ne die­ser unpa­the­ti­schen Frau­en kann etwas mit Begrif­fen wie „Hel­den­tod“ anfan­gen. Noch Jahr­zehn­te spä­ter trau­ern sie um einen Men­schen. Kopetz­ky ver­zich­tet dar­auf, die­se Erzäh­lun­gen mit Daten und den Zah­len der Gefal­le­nen zu ent­per­so­na­li­sie­ren: Es geht hier nicht um Mas­sen­be­rech­nun­gen, es geht um das Leben und Ster­ben einzelner. 

Noch etwas ande­res ver­mit­telt die Sen­dung: gro­ßen Respekt vor den Frau­en. Kopetz­ky lässt sie aus­re­den, bevor ihre Wor­te über­setzt wer­den; wir hören die Stim­me, den Ton­fall, die Trau­er oder die zeit­li­che Ferne. 

Die­ser Respekt ist frap­pie­rend in der Sen­dung „In den Tod — Hur­ra“, einem Fea­ture über Lan­ge­mark. Kopetz­ky hat mit Über­le­ben­den die­ser Kämp­fe gespro­chen. Sie schil­dern kei­ne Hel­den­ta­ten, aber sie zei­gen auch kei­ne kri­ti­sche Distanz. Der Autor lässt sie aus­re­den, ihre Freund­lich­keit, ihre Wür­de tei­len sich dem Hörer mit. Dann ein Spre­cher mit  „fact“: die Rein­ge­win­ne der deut­schen Rüstungsindustrie.

In einem Auf­satz hat Kopetz­ky ein­mal geschrie­ben: „Der Hörer soll Hal­tun­gen erken­nen, Mei­nun­gen erfah­ren, Gefüh­le spü­ren, die für einen oder eine Grup­pe Men­schen typisch sind.“ Der Hörer erfährt aber auch, und das macht Kopetz­kys Sen­dun­gen so span­nend, die Mei­nun­gen und Gefüh­le eines zurück­hal­ten­den, aber immer prä­sen­ten Autors. Es ist ja sei­ne Erfah­rung, die uns ein Erleb­nis vermittelt. 

Der Lärm der Tief­flü­ge in der Sen­dung „Aus hei­te­rem Him­mel“ hören wir mit Kopetz­kys Ohren. Und von dem „Ful­da-Gap“ erfah­ren wir mit Kopetz­kys Ent­set­zen.   Die­se Sen­dung, „Ein Schlacht­feld wird besich­tigt“, ist eine der ver­stö­rends­ten, die ich ken­ne. Die Gegend um Ful­da ist laut offi­zi­el­lem, frei­lich nicht öffent­li­chem NATO-Plan die Regi­on, in der die ers­te Schlacht des nächs­ten Krie­ges geschla­gen wer­den wird. Die dort sta­tio­nier­ten Ein­hei­ten sind ent­spre­chend aus­ge­rüs­tet, Atom­waf­fen­ar­se­na­le sind über­all, die stra­te­gi­schen Plä­ne sind fes­ter Bestand­teil der Sol­da­ten­aus­bil­dung in den USA.

Kopetz­ky, der, gebo­ren 1940, lan­ge in Ful­da gelebt hat, ohne von alle­dem zu wis­sen, beglei­tet eine Abrüs­tungs­in­itia­ti­ve auf ihren Rund­fahr­ten zu den Waf­fen­la­gern und zu ihren Infor­ma­ti­ons­aben­den mit einer rat­lo­sen Bevöl­ke­rung. „Durch gegen­sätz­li­che Argu­men­te wird ein Fea­ture erst span­nend“, sagt Kopetz­ky, und: „Alle rele­van­ten Sei­ten müs­sen zu Wort kom­men.“ Hier ame­ri­ka­ni­sche Sol­da­ten mit ihrer Loya­li­tät und ein Wach­mann mit sei­nen Geld­sor­gen. Kei­ne Poli­ti­ker, kei­ne Funk­tio­nä­re. Die gegen­sätz­li­chen Argu­men­te legt Kopetz­ky nicht in die Waag­scha­len zwecks poli­ti­scher „Aus­ge­wo­gen­heit“. Er nimmt Stel­lung, ohne ande­re Mei­nun­gen lächer­lich zu machen. Die Infor­ma­tio­nen, die er lie­fert, machen Kom­men­ta­re überflüssig.

 Manch­mal wird der Autor zum Spa­zier­gän­ger: in Lenin­grad oder in Ber­lin. Er beschreibt, wie er durch Zufall in eine „Luxus­rui­ne“ hin­ein­ge­rät, in das ehe­ma­li­ge Hotel Espla­na­de, des­sen gro­ße Zei­ten und Wand­lun­gen er nun vor uns auf­er­ste­hen lässt. Er beschreibt, wer ein­tritt und mit wel­chem Schritt, er lässt die Leu­te vor unse­ren Ohren tan­zen und Hit­ler­deutsch­land ver­drän­gen, und es ist fast nicht vor­stell­bar, dass dies kein Hotel mehr sein soll. 

Kopetz­kys letz­te Pro­jek­te tra­gen ande­re Titel, kein Luxus, kei­ne spie­le­ri­schen Aus­flü­ge: für den SFB arbei­tet er mit dem Mate­ri­al, das er aus Bra­si­li­en mit­ge­bracht hat, über Ursa­chen und Pro­ble­me des Städ­te­wachs­tums. Gera­de jetzt wie­der, in die­sen lau­ten süd­ame­ri­ka­ni­schen Städ­ten, erzählt er, sei ihm die akus­ti­sche Ver­ro­hung der Welt klar­ge­wor­den. Man müs­se immer wie­der „selek­tiv“ hören ler­nen, das heißt, die ein­zel­nen Geräu­sche unter­schei­den, um sie und sich selbst im all­ge­mei­nen Krach wie­der­zu­fin­den. Und war­um „Ver­ro­hung“? Weil Lärm mit Gewalt zusam­men­hän­ge. Für den Hes­si­schen Rund­funk arbei­tet er an einem Hör­spiel: „Ohr­Schlacht­Feld“.