I ja bylem „Proszebardzo“ / Ortstermin im früheren Sudetenland
MDR/SFB mit dem Tschechischen Rundfunk, Programm “Vltava” (1993) – Dauer 52:20
MDR/SFB/Tschechischer Rundfunk, Programm “Vltava”, 1993
Erste Feature-Koproduktion nach der politischen Wende
Dauer: 52:20
Sprecher der deutschen Fassung: Peter Simonischek
Das Feature war 1995 auch Anlass einer vierstündigen Live-Sendung des Prager Rundfunks mit dem Titel „Sudetendeutsche Schicksale“ aus dem Kulturhaus in Šumperk / Mähr. Schönberg mit dem Autor, Heidrun Kopetzky, Redakteur Zdenek Boucek und Bürgern der Stadt.
AUS DEM MANUSKRIPT:
Erzähler An die Stadtverwaltung in Šumperk, Friedensplatz 1, Tschechische Republik. Betrifft: die Liegenschaften Dobrovskýstraße Nummer 40 und General-Svoboda-Platz Nummer 2.
Sehr geehrte Damen und Herren ! Hiermit verzichte ich in aller Form vorsorglich auf jeden Anspruch, der mir — auch bei Änderung der Rechtslage im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Tschechischen Republik – aus oben genannten Vermögens- und Sachwerten erwachsen sollte.
MARSCHMUSIK (SUDETENDEUTSCHER TAG) LANGSAM EINBLENDEN
Gründe: Ich wurde 1940 in der Dobrovskýstraße Nummer 40, damals Lenaugasse, geboren. Šumperk, damals Mährisch-Schönberg, gehörte seit dem sogenannten “Anschluss des Sudetenlandes” 1938 zum Deutschen Reich.
Meine Familie väterlicherseits besaß ein Pelzgeschäft auf dem General-Svoboda‑, damals Eichelbrenner-Platz Nummer 2. 1946 bin ich – einer unter dreieinhalb Millionen Deutschen – aus der damals wiedererrichteten Tschechoslowakei in das ehemalige Reichsgebiet, heute Bundesrepublik Deutschland, zwangsweise umgesiedelt worden.
Lautsprecherstimme (EINZUG DER TRACHTENGRUPPEN) … Und nun kommt die Sudetendeutsche Jugend Berlin …
Herzlich willkommen die Sudetendeutsche Jugend Österreichs … Wir begrüßen die Arbeitsgemeinschaft Sudetendeutscher Studenten … Nun kommen die Böhmerwäldler — herzlich willkommen ! …
Erzähler Sie werden sich vorstellen können, verehrte Damen und Herren im Šumperker Rathaus: Dies war kein allzu guter Start ins Leben.
Die “Reichsdeutschen” nannten uns “Bittschöns”. Denn wir kamen als Habenichtse. Deshalb waren unsere Leute ganz besonders höflich. Bei jeder Gelegenheit sagten sie: “Bittschön !” — “Dankschön !” — “Dankschön !” — “Bittschön !”
Lautsprecherstimme …Und nun zum Abschluss noch der Höhepunkt: die Sudetendeutsche Landsmannschaft New York mit ihrer Fahne ! …
BEIFALL. MARSCHMUSIK.
Erzähler Das alles ist nun lange her. Seit beinah 50 Jahren wohne ich in Westdeutschland. Ich habe hier geheiratet. Mein Sohn ist 17 Jahre alt und wurde in Berlin geboren. Doch jedes Jahr zu Pfingsten m u s s ich mich erinnern. Dann wird die Zeit zurückgedreht. Dann ist Sudentendeutscher Tag.
Redner … Sehr geehrte Ehrengäste, liebe Landsleute ! Mit Ihrem Erscheinen legen Sie ein machtvolles Bekenntnis zu Heimat, Recht und Gerechtigkeit ab. “Vertreibung ächten, Heimatrecht achten !” So lautet das Motto dieses Sudetendeutschen Tages. Mit unserem Motto fordern wir die Anerkennung des Heimat- und Selbstbestimmungsrechtes sowie des Rechtes auf persönliches Eigentum …
Erzähler Da reden sie an meiner Statt. Da drücken sie für mich Gefühle aus. Da fordern sie in meinem Namen — “W i r Sudetendeutschen !”
Redner Wie unser verehrter Freund und Mitstreiter Otto von Habsburg es einmal formuliert hat, liebe Landsleute: Die Geschichte kennt keinen Schluss-Strich !
STARKER BEIFALL
Erzähler So viele “Bittschöns” — 30 000 unter einem Dach ! Ich bin kein Freund von Menschenmassen. Auch stört mich diese inszenierte Backobststimmung, dieses Fichtennadel-Pathos. Lasst die Toten ruhen ! Was war, das war. Manchmal hätte ich schon große Lust, die Verzichts-Erklärung an das Amt in Šumperk wirklich abzuschicken. Schluss-Strich, Punkt und aus.
SUDETENDEUTSCHER TAG / STIMMENGEWIRR
Und dann — dann hör’ ich diese Sprache wieder — “Paradeiser”, “Topf’n”, “Kreen”, “Faschiertes”, “Erepp’l” und “Semm’lschmorrn”, “Duchent”, “Karfiol”, “Fisol’n” — überall die Stimmen meiner Großeltern. Und ich fühle: Nix zu machen — du gehörst dazu ! Einmal “Bittschön” — immer “Bittschön”.
SCHRITTE IN EINEM TREPPENHAUS. STIMMEN.
In Prag nahm ich Jarka an Bord, eine Kollegin vom tschechischen – früher tschechoslowakischen – Rundfunk, neuerdings Ausländerin mit slowakischem Pass. Ich brauchte ihre Hilfe. Denn ich fuhr ja durch ein fremdes Land.
STIMMEN. ANKLOPFEN. EINE TÜR WIRD GEÖFFNET.
Jarka (TSCHECHISCH) Sagt Ihnen der Name Kopetzky etwas ?
SCHRITTE, STIMMEN UND ANDERE GERÄUSCHE IN TREPPEN-HÄUSERN (…)
Erzähler Gleich an unserem zweiten Tag in Šumperk gingen wir ins Rathaus.
BEGRÜSSUNG UND DIALOG, TSCHECHISCH
Wir fanden ein Adressbuch aus dem Jahr 1940. Mein Geburtsjahr!
Kopetzky (BLÄTTERT, LIEST) Heeresstandortverwaltung … Industrie- und Handelskammer … Reichsarbeitsdienst … Werkluftschutz …
Jarka Wie hieß die Straße ?
Kopetzky Lenaugasse.
Stimmen … Nikolaus Lenau … Lenaugasse ? … Nó !
Jarka Sie heißt jetzt Dobrovskýstraße. Das Haus soll noch stehen.
Kopetzky (liest) … Schubert .… Rossipal … Schmidt … Kubitschek … Wagner … Sedlatschek … Stanzel, Johann ! 40 … Hier ist Nummer 40 ! Stanzel, Johann — das war mein Großvater
IM FAHRENDEN PKW
Erzähler Wir fuhren gleich hin.
Jarka Also hier beginnen schon neue Häuser … 36 … 38 …
Kopetzky (AUFGEREGT) Ja … ja … 40 !
Jarka Schau’n Sie mal — das ist eine Überraschung !
Kopetzky Das gibt’s doch nicht !
DAS AUTO HÄLT, DIE TÜR WIRD GEÖFFNET.
Erzähler Vor dem Grundstück Nummer 40 parkte ein Berliner Auto. Ich selber wohne in Berlin — seit 25 Jahren !
AUTOTÜR WIRD ZUGESCHLAGEN. BLEIBT: DIE AKUSTIK EINER STILLEN VORSTADTSTRASSE MIT SPATZENGEPLÄRR.
Erzähler Da stand ich vor besagter Liegenschaft, ein Zwei-Familien-Haus, gedeckt mit schwarzem Schiefer. Alles — bis auf den Garagenanbau — wie auf alten Fotos. Mein Geburtshaus.
Man erwartet Rührung. Im allgemeinen bin ich kein Gefühlsklotz. Aber — die Ergriffenheit hielt sich in Grenzen. Bei jeder Ankunft in Berlin nach langer Reise regt sich mehr in meinem Brustkorb.
Im ersten Stockwerk ging ein Fenster auf. Da wohnten einmal meine Großeltern.
DIALOG, TSCHECHISCH
Jarka Soll er runterkommen ?
Erzähler Sie fragen, ob sich gar nichts in mir abspielte — in diesem Augenblick. Nach 46 Jahren ! Doch. Ich habe einen Film gesehen. Schwarz-weiß und ganz verregnet, voller Kratzer.
DIE VORSTADT-KULISSE VERSCHWIMMT
Da ist diese holprige Straße. Am Bildrand fangen schon die Felder an. Die Sonne scheint, man sieht es an den Schatten. Ich bin fünfeinhalb.
Ein kleiner Leiterwagen ist mit Taschen, Bündeln vollgepackt. Ich sitze obenauf. Neben mir ein Topf mit Milch. Sie scheint zu dampfen.
Wie viel Leben passt auf einen solchen Karren ? Antwort: 140 Kilo — 35 pro Person. Die das überwachen, stehen seitlich, junge Männer mit Gewehren. Rauchend.
Auf dem Film noch meine Mutter und die Großeltern. Sie weinen. Dann ergreift der Großvater die Deichsel. Mutter schiebt. Ich sehe, wie der Leiterwagen aus dem Bild rollt — ich als Kutscher.
STEREO-KULISSE WIE ZUVOR. DIE TÜR WIRD GEÖFFNET. DIALOG, TSCHECHISCH
Erzähler Uns öffnete ein Polizeibeamter aus Berlin-Hellersdorf. Dann erschienen seine Schwiegereltern, Herr und Frau Tessar, jetzt Besitzer dieses Hauses.
Kopetzky In diesem Haus bin ich geboren.
Der Berliner In diesem Haus ?
DIALOG, TSCHECHISCH
Jarka Wenn Sie sich das ansehen möchten …
Kopetzky Ja, ja !
TÜRGERÄUSCHE, SCHRITTE IM TREPPENHAUS. GELÄCHTER.
Erzähler Ich dachte — während ich auf Landesart im Flur die Schuhe auszog: Nun betrittst du also unter Führung eines deutschen Staatsdieners auf Urlaub dein Geburtshaus — und zugleich das Elternhaus der jungen Tschechin, die jetzt seinen deutschen Namen trägt — und ihrer Kinder. Und sie haben nie von dir gehört.
Jarka Wo wollen Sie anfangen ?
Kopetzky Egal.
Der Berliner Das ist noch so wie’s war … Das war das Schlafzimmer …
Die Möbel sind alle neu …
DIE KULISSE VERSCHWIMMT
Erzähler Und wieder lief der Film in meinem Kopf: Ich auf allen Vieren, noch kein Jahr alt. Auf dem Teppich liegen Ausschneidefiguren mit Hakenkreuz.
Mutter liest einen Brief: “Wie schön muss es sein”, schreibt mein Vater aus Russland, “wie der kleine Kerl das Händchen schon zum Deutschen Gruß hebt Schnitt. Drei Tage später: “Sehr geehrte Frau Kopetzky … fällt mir schwer, mitzuteilen … in den Kopf getroffen … Heldentod … Die Batterie verliert in Ihrem Gatten…” Schnitt.
Fremde Leute ziehen bei uns ein, eine tschechische Familie mit drei Kindern. Wir dürfen nur noch diesen einen Raum bewohnen — meine Mutter, meine Großeltern und ich.
ERINNERUNGS-KULISSE WEG
Erzähler … Diesen Raum ! Hier verbrachten wir das letzte Jahr in Mährisch-Schönberg
Frau Tessar (JARKA ÜBERSETZT) Wie mein Vater erzählt hat, haben die Deutschen geweint, als sie das verlassen mussten.
Herr Tessar Als wir hierher kamen im Jahre 48, waren alle Deutschen schon weg. Hier war niemand mehr. Leer konnte es hier nicht bleiben. Und so sind wir aufgerufen worden, von Litovar hierher zu kommen und das zu besetzen. Ich denke, meine Mutter hat damals 120 000 Kronen für dieses Haus bezahlt. An den Staat. Das war viel Geld.
DIALOG, TSCHECHISCH
Erzähler Während ich so zuhörte und nichts verstand, wanderten die Augen durch die Obstgärten der Nachbarhäuser — auf die Straße — zu den Hügeln.
Lebenslang vertraute Ansichten: Kalenderbilder, Postkartenmotive. Ein Gemenge aus Erzähltem und Erinnertem.
Meine Heimat — und ? Was sollte ich daraus nun ableiten ? Waren diese Apfelbäume, diese Straße, diese Hügel deshalb deutsch ? Mir fehlt einfach der Sinn für Stammbäume und Grundbuchauszüge. Als ich hier durch Zufall auf die Welt kam, war ich nackt — wie ein Tscheche.
Kopetzky Wie kommt Ihnen das eigentlich vor, wenn wir hier plötzlich auftauchen und all’ die Fragen stellen ?
Frau Tessar (JARKA ÜBERSETZT) Ich hab’ ein etwas dummes Gefühl. Wollen Sie damit sagen, daß Sie hierher zurückwollen, uns das nehmen wollen — oder ? Man weiß nicht, was man davon denken soll … Natürlich — wenn Sie als ursprüng-licher Inhaber herkommen und es sehen wollen — dann zeige ich es Ihnen. Und damit ist es Schluss.
Erzähler Ich sagte: Das kann ich verstehen. Sicher haben Sie uns Deutsche mehr als Okkupanten in Erinnerung. Herr Tessar protestierte.
Herr Tessar Ich kann mit dieser Auffassung niemals einverstanden sein. Weil — wenn ich diese Einstellung gegenüber den Deutschen haben sollte, so würde ich niemals meine Tochter einen Deutschen heiraten lassen.
Ich möchte das auflösen, völlig auflösen — abschaffen, was früher war ! Und ich möchte solche Gefühle gegenüber den Deutschen entwickeln, wie ich sie gegenüber jeder anderen Nation habe. Obwohl — mein Vater ist im Konzentra-tionslager auf dem deutschen Territorium ums Leben gekommen. Und ich könnte Ihnen erzählen, was der Krieg war und was Deutschland war.
Frau Tessar Die Schwiegermutter musste dann drei Söhne großziehen.
Kopetzky War Ihr Vater im Widerstand gegen die Deutschen ?
Herr Tessar Ja, er war im Widerstand (Partisan).
Kopetzky Wie alt waren Sie damals ?
Jarka Er ist Jahrgang 37, also er war fünf Jahre alt, als man ihm den Vater genommen hat.
Herr Tessar Es ist schon vorbei … Es ist schon hinter uns … Und es ist gut so …
AUSSEN-ATMO. HÜHNERGACKERN.
Erzähler Dann waren wir noch kurz im Garten: Hühner, ein Karnickelstall. Das hätte mir als Kind gefallen.
Herr Tessar An dieser Stelle stand ein Zaun, wenn Sie sich noch erinnern können. Hier war ein kleines Tor und hohe Apfelbäume
Erzähler Großmutters Apfelbäume ! Hatten sich zu breitgemacht. Zu viel Schatten. Auch Großmutter ist lange tot.
LEBHAFTES GESPRÄCH IM TREPPENHAUS. GELÄCHTER.
Ich glaube, die Familie Tessar war ganz froh, als wir wieder gingen. Ich spürte die Erleichterung.
In dieser Straße wohnen keine Deutschen mehr, meinte noch Herr Tessar beim Hinausgehen. Und ich sagte: Doch — Ihr Schwiegersohn!
(…)
KLEINE TANZKAPELLE
Erzähler Abends Tanzmusik. Zu Gast eine Sudetendeutsche Lehrergruppe aus dem Bayerischen. Deutsche Dirndl, weiße deutsche Kniestrümpfe.
Vortänzerin … Eins — zwei — drei — vier — Dreher … Wieder gehen ! … Dreher … Nochmal ! … Dreher … Und jetzt, eins — außen tupfen, innen tupfen … Dreh’n ! … Außen tupfen … innen tupfen… Dreh’n ! Und da geht’s von vorn !
Erzähler Es war eine rührende Szene: Diese lebensschweren Alten, paarweise verklammert, mit erhitzten Wangen. Polkaseligkeit. Doch die Vorkriegs-Schritte wollten nicht mehr recht gelingen.
MUSIK HOCII
Wie hatten sie getanzt, vor 50 Jahren bei der Hitlerjugend und im BDM ! Später waren deutsche Tänze unerwünscht, sogar verboten — “folkloristisches Gehupfe ohne sozialistisches Niveau” …
MUSIK HOCH
Und jetzt sind sie “zu olt”. Verpasstes Leben ! Jeder Tanzschritt krakelte ein “Ach-wie-schade” aufs Parkett.
Mann Nach 48 sind diese Deutschen hier im Lande zum doppelten Feind geworden. Erstens, weil sie Deutsche waren — da war immer noch: Was deutsch ist, ist Faschist. Und zweitens hatte jeder von uns einen Verwandten im westlichen, also kapitalistischen Ausland. Und damit wurde er Spion und Saboteur und alles mögliche.
Frau Überall ist man schief angesehen worden. In jedem Beruf. Und immer die niedrigste Gehaltsstufe. Man konnte machen, was man wollte … Und Deutsch durfte man nicht sprechen. Wie man auf der Straße deutsch gesprochen hat, ist man schon angepöbelt worden.
(…)
STILLE FRIEDIIOFSATMO. SCHRITTE, VOGELSTIMMEN. ENTFERNTER VERKEHR AUF DER ÜBERLANDSTRASSE.
Kopetzky Hier ruht Frau Anna Schimke, Fabriksdirektorgattin — Auf Wiedersehen … Die Familie Seidel — Irene Reuter, geborene Seidel — Max Seidel — Marie Seidel — Agathe Seidel …
Erzähler Die meisten Deutschen fand ich auf dem Friedhof. Schlichte Grabsteine der Schuberts oder Seidels. Und daneben, schief und efeu-überwuchert, die Familiengruften reicher Schönberger Familien.
Kopetzky (ENTZIFFERT) … Marie von und zu Eisenstein, geboren am 28. Oktober 1869, gestorben 1871 … Dr.Heinrich Edler von Oberleithner … Franz Edler von Oberleithner … Dr. Konstantin Freiherr von Chiari, 1877 bis 1932 … Marie Biener, geborene Chiari — Ihr Geist stieg auf zum ewigen Licht …
Erzähler Ich las tschechische und deutsche Namen, tschechisch-deutsche und deutsch-tschechische: Marie Bruckmüllerová, geborene Gottwaldová … Jana Hübnerová … Marie Schneiderová …
Nehmen Sie nur meinen Namen: Kopec heißt “der Hügel”. Kopetzky also “Hügler”. Oder “Der, der auf dem Hügel wohnt”. Der Mädchenname meiner Frau ist Broschek, ursprünglich mit ž geschrieben — z mit “Haken”.
Unsere Vornamen dagegen — “rein germanisch”: Helmut, Heidrun. Friedgund heißt die Schwester meiner Frau.
Kopetzky (LIEST) Vaclaw Müller … Vojteška Drexlerová …
Erzähler 700 Jahre lebten sie zusammen — seit die Herzöge der Tschechen deutsche Siedler in ihr Land gerufen hatten. Seit’ an Seit’ wurden wie begraben. Das Elend fing im vorigen Jahrhundert an. Zunächst nur idealistische Gedankenspiele — “Deutscher Reichsgedanke”, “Panslawismus”, “Renaissance der tschechischen Nation”. Dann intellektuelle Zündeleien. Das austro-deutsche Bürgertum fühlte sich den Slawen überlegen. “Am deutschen Wesen…” und so weiter und so weiter. Schlagende Studenten suchten Streit, die “alten Herren” saßen kichernd an der Theke. Bis zum ersten Weltkrieg flogen nur die Bierseidel.
Kopetzky … Dem bewährten Bürgermeister im Ersten Weltkriege, Friedrich Ritter von Tersch, 1836 bis 1915 … (VERSUCHT ZU ENTZIFFERN) Dem Kämpfer — dem Kämpfer für — das — schwer zu lesen — Deutschland …
Erzähler 1918 brach die österreichisch-ungarische Monarchie zusammen. 6,7 Millionen Tschechen wollten endlich ihren eigenen Staat. 3,1 Millionen Deutsche waren nun zur “nationalen Minderheit” geworden. Doch das Mit- und Nebeneinander, in Jahrhunderten geübt, funktionierte vorerst weiter. Viele können das bezeugen. Zeuge Winkler:
Winkler Ich habe 80 Meter von einem Gasthaus entfernt gewohnt, als Kind. Und da hab’ ich das so beobachtet. Von den Bierfässern haben wir in die Gaststube ‘reingesehen, wie sie getanzt haben, gespielt — ein tschechisches Lied, ein deutsches Lied.
Einmal haben die Tschechen getanzt, dann haben wieder die Deutschen getanzt. Die Tschechen sein um die deutschen Mädel gegangen — und die Deutschen sind zu den tschechischen Mädeln gegangen. Und alles ist friedlich verlaufen …
Erzähler Es gab deutsche Orte und daneben tschechische. Auf manchen Karten war die “Sprachgrenze” sogar markiert. Arbeiter aus Blauda — tschechisch Bludov — fuhren in die Trebitsch-Weberei nach Mährisch-Schönberg. Onkel Hans, der Bruder meiner Mutter, ging in Bludov auf die “Tschechenschule”. Er sprach Tschechisch wie ein Tscheche. Dennoch trug er auf der Straße “deutsch”.
Hans Stanzel Ich hatte immer meine weißen Strümpfe und meine Lederhosen. Und da war ich glücklich !
Erzähler Tschechen hatten lange Hosen, sagt mein Onkel. Deutsche Frauen trugen Dirndlkleider.
Hans Stanzel Dirndl war deutsch !
Schalek Ich muss Ihnen da etwas zeigen …
Erzähler Zeuge Schalek.
Schalek Sehen Sie — das ist die Quarta des Leitmeritzer Gymnasiums. Und das war ich !
Kopetzky 19..
Schalek 1928.
Kopetzky Und wie viele Deutsche sind auf dem Foto ?
Schalek Das sind alles Deutsche. Das war ein deutsches Staatsgymnasium in Leitmeritz. Als Mittelschüler war ich in der sogenannten bündischen Jugend, in der Wandervogelbewegung. Wir haben da immer im böhmischen Mittelgebirge zur Sonnwendfeier auf den Basaltkegeln unsere Feuer entzündet, und als die Dämmerung kam, haben sie auf allen diesen Kegeln geleuchtet. Und dort hat man dann das Böhmerlandlied gesungen. Sie seh’n in diesem Lied schon irgendwie die Keime der späteren Entwicklung.
Kopetzky Können Sie das noch ?
Schalek Das kann man nicht vergessen: “Wir heben unsere Hände / aus tiefster bitterer Not / Herrgott den Führer sende / der unsern Jammer ende mit mächtigem Gebot / Erwecke uns den Helden / der seines Volks erbarm’ / Das Volk, das nachtbeladen / verkauft ist und verraten / in seiner Feinde Arm…”
Die letzten zwei Verse sind mir entfallen — ich weiß nur den Schluss noch: “Lass nicht zuschanden werden / dein lichtes Volk auf Erden / und meiner Mutter Land … !”
Erzähler Vergiftete Lyrik. Die Wirkung zeigte sich zehn Jahre später, 1938/39, mit dem sogenannten Anschluss und dem Einmarsch deutscher Truppen in die “Rest-Tschechoslowakei”.
DOKUMENT (15. 3. 1939) REPORTER: Hier ist der volksdeutsche Sender “Prag II”, das Mikrophon auf der Galerie des Museums am Wenzelsplatz.’ Eben hat sich der untere Teil des Wenzelsplatzes mit Menschenmassen gefüllt, die ein uns unverständliches Lied singen. Aber es ist, das hört man, ein Lied der Begeisterung (…)
Frau Also — wir waren ja alle restlos begeistert. Zu 90 Prozent waren wir für den Anschluss. Dass es zufällig der Hitler war — bitte, Zufall ! Wir hätten mit jedem Anderen den Anschluss begrüßt. Wir waren Deutsche, wir wollten zum Reich !
Erzähler Nein, sie haben sich nicht ‘rausgehalten, unsere Mährisch-Schönberger. Sie standen in der Schillerstraße, Kopf an Kopf, wenn der Lehrer Konrad Henlein, Führer der “Sudetendeutschen Heimatfront”, später Gauleiter und Reichsstatt-halter, dort sein Gift verspritzte. Schönberg war schon immer eine “deutsche Stadt” gewesen. Tausend Tschechen, 15 000 Deutsche. Dann, Im Weltkrieg, wurde diese Übermacht erdrückend. Viele Tschechen flüchteten ins sogenannte Reichsprotektorat.
(…)
TREPPENHAUS, SCHRITTE UND STIMMEN. EINE TÜR WIRD GEÖFFNET. DIALOG AUF TSCHECHISCH.
Kopetzky Mein Name ist Kopetzky.
Jarka Woran sollte sie sich erinnern
Kopetzky An den Namen Kopetzky.
Jarka War es Ihr direkter Verwandter in dem Pelzladen ?
Kopetzky Es war mein Vater.
Erzähler Eichelbrennerplatz, dann Hitlerplatz … dann Stalinplatz. Jetzt Ulice Generála Svobody. Hausnummer 2. Auch hier kannte mich niemand.
Ich dachte: Dieses Šumperk ist ein Film in fremder Sprache, ohne Untertitel. Niemals wirst du hier zu Hause sein.
Jarka Sie ist im Jahre 50 gekommen. In dem Jahr war Staatsverwaltung in dem Geschäft. Schon zweite oder dritte Generation, sagt sie. Schon 45 Jahre!
Erzähler Im Erdgeschoß war das Geschäft: Kopetzky — Hüte, Pelze, Mützen. Das führende Pelzhaus am Platz. Jetzt ist dort ein Ramschladen. Überm Eingang sieht man noch den Schatten einer Leuchtreklame: zwei Buchstaben des Namens, “k” und “y”. Und ein Fuchsschwanz. Alles verblasst, wie prähistorische Fresken.
Den Laden hätte ich vielleicht geerbt.
Es gibt ein Foto: Ich stehe vor dem Eingang, über mir der Fuchs als Firmen-zeichen. Da muss ich vier gewesen sein — 1944. Mein Großvater war damals Heereslieferant.
(…)
1945, Kriegsende. Die Russen kamen in der Nacht vom 8. auf den 9.Mai nach Schönberg. Eine Mainacht wie in Liebesliedern, sagt man. In der Lenaugasse hat mein anderer Großvater die Axt geschärft. “Die sollen hier nur Leichen finden !” — Er war kaum zu bremsen.
PAPIERE WERDEN UMGEBLÄTTERT
Archivarin … Gegenüber von Kopetzky war die Buchhandlung Heuer.
Da sehen Sie: Der Herr Heuer, Jahrgang 98, hat sich da auch das Leben genommen. Gegenüber vom Geschäft Kopetzky. Der Herr Heuer …
Erzähler In Westdeutschland fand ich Verzeichnisse des letzten Totengräbers der Stadt Mährisch-Schönberg; die Verzweiflung jener Tage — registriert mit akuraten “deutschen” Buchstaben.
Kopetzky Das ist auch ein Massengrab …
Archivarin Ja, schau’n Sie: Das ist er mit seiner Frau und ein Sohn, 32 und eine Tochter. Die haben keine Aussicht mehr gesehen. Die haben sich vergiftet. Das sind also zusammen eins, zwei, drei, vier, fünf Personen in diesem Massen-grab — und noch eine Frau, Langerová liegt da dabei.
Vergiftet, aufgehängt, erschossen …
(…)
Erzähler Zeit der Abrechnung — nicht Krieg, nicht Frieden. Damals gab es kein Gesetz.
Archivarin (BLÄTTERT UM) Der ist also in Schönberg nach schweren Misshandlungen durch die Tschechen verstorben … Tod im Arbeitslager…
Erzähler Aug’ um Auge, Zahn um Zahn … Die sogenannten Ostarbeiter hatten sie mit einem blauen Lappen, 10 mal 10, die Juden mit dem gelben Stern markiert. Nun trugen alle Deutschen weiße Armbinden mit einem großen “N” wie “Nemec”, “Deutscher”.”.
Zwei Drittel aller Häuser standen leer. Mährisch-Schönberg war entvölkert. Aus dem Inneren des Landes kamen neue Einwohner, Verwaltungsleute, Polizisten. Eine Menschentransfusion.
Alle deutschen Aufschriften verschwanden, auch die Leuchtreklame über unserem Eingang. Mährisch-Schönberg wurde “entgermanisiert”.
(…)
ATMOSPHÄRE IN JARKAS ELTERNHAUS. WIEDERSEHENS-SZENE.
Erzähler Jarka — eigentlich Jarmila — hatte mich schon eine Woche lang begleitet, da erfuhr ich: Sie war selbst auf einem “Nostalgietrip”.
In Nový Malin, einem Dorf bei Šumperk, steht nämlich ihr Elternhaus. Deutsche hatten es errichtet. Damals hieß der Ort noch Frankstadt. Jarkas Mutter stammte aus der Slowakei. Ihr Vater war ein Tscheche und hieß Menzel. Als die Eltern dort mit staatlicher Erlaubnis eingezogen, war das Häuschen besenrein. Keine Spur mehr von den Deutschen.
Jarka (BEWEGT) Hier hat mein Bruder immer Honig gestohlen — daran kann ich mich so genau erinnern. Der Eingang existiert nicht mehr, man hat die Brücke weggenommen. Und von der Brücke bin ich einmal ins Wasser gefallen, als dreijähriges Kind. Aber das existiert nicht mehr durch den Bau der Straße.
Frau (JARKA ÜBERSETZT) … Jesus — sie haben fünf Kinder, elf Enkelkinder schon
Erzähler In gewisser Weise war Jarkas Geschichte die Fortsetzung meiner eigenen. Deshalb hatte sie davon geschwiegen. Seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr hier gewesen. 38 Jahre.
Mann Wenn ich aufrichtig sein sollte, hatten wir keine guten Erfahrungen mit den Deutschen. Nicht in der ersten Republik, nicht während des Krieges und niemals ! Das geht nun schon 200 oder 300 Jahre, dass diese Gebiete immer germanisiert worden sind.
Die Fabriken gehörten meistens den Deutschen. Und wenn die Tschechen angestellt sein wollten, mussten sie eine deutsche Schule besuchen. Amtssprache war nur Deutsch. Wenn man bei der Bahn angestellt sein wollte, musste man nur Deutsch sprechen.
Ich bin damals zur Schule gegangen, und als Schüler — als der Lehrer in der Klasse erschien — mussten wir aufstehen und “Heil Hitler !” sagen.
Nach dem Schulabgang, als ich mit der Grundschule fertig war — als Tscheche konnte ich mich um keine andere Arbeit bewerben, nur am Hofe eines Bauern zu dienen. Und ich durfte in keine Lehre gehen. ich konnte an nichts besseres denken als nur Arbeit auf dem Felde.
Ich meine, dass die Deutschen gegen uns Tschechen weit größere … príšernitctví … begangen haben als wir. Wenn Sie vielleicht wissen, welche Ziele sie mit uns Tschechen im Falle eines endgültigen Sieges hatten — Ausrottung ! Wo wären wir heute ?
Es hat in der Geschichte niemals gut getan, dieses Zusammenleben. Immer haben die Deutschen etwas — Warum haben sie den Krieg entfesselt ? Das Zusammenleben hat nie, nie nichts Gutes … Es hat immer nur — er sagt: immer Hölle verursacht ! Und wirtschaftlich haben sie uns ruiniert.
Erzähler Deutsche kommen öfter hierher, sagte der Mann. Sie gehen durch’s Dorf und fotografieren die Häuser. Wir sind froh, wenn wir sie von hinten sehen. Er nahm kein Blatt vor den Mund.
Mann (Jarka) Er sagt, er war Zeuge der Vertreibung, aber er war dafür — für die Aussiedelung. Und er hätte keine Szene gesehen, wo die Deutschen misshandelt worden wären.
Erzähler Dieser alte Mann in Jarkas Elternhaus war pensionierter Eisenbahner. Er hatte 1946/47 mitgeholfen, auf dem Bahnhof Šumperk Deutsche in die Güterzüge zu verladen, alte Leute, Kinder. Vielleicht ja auch mich.
BAHNHOFS-ATMOSPHÄRE. VORÜBERFAHRENDER GÜTERZUG.
Erzähler Der nächste Zug von Šumperk nach Hanušovice ging in zehn Minuten. Eine Gruppe Schüler hatte sich versammelt, fröhlich schwatzend. Ich nahm an, sie freuten sich schon auf die Ferien im Gebirge. Freilich konnte ich sie nicht verstehen. Ihr Gepäck war auf dem Bahnsteig aufgeschichtet — Rucksäcke und Zeltstangen und rußgeschwärzte Kochtöpfe.
SCHIENENBUS-FÄHRT VORÜBER. DIE KULISSE VERSCIIWIMMT.
Erzähler Und wieder sah ich diesen alten Film. Die Kamera im Kopf schwenkt über Hausrat, eingehüllt in weiße Leintücher und Decken. Kinder sitzen auf den Bündel-Halden. Menschen, Koffer — alles durcheinander, wie nach einem Erdstoß. Katastrophenbilder. Großaufnahmen zeigen Essgeschirre, Suppenkellen, Listen, Stempel, Schwesternhauben mit dem Roten Kreuz. Auf einem Holztisch werden Schmuckstücke sortiert.
Und da bin ich, mitten im Gedränge. Mutter ruft: “Niemand fasst mein Kind an !” Großmutter lehnt abseits an der Mauer, sie muss brechen. Großvater wirkt wie versteinert. Er war Zugführer. Schon vor dem ersten Weltkrieg fuhr er jeden Tag nach Schlesien, über die Sudeten — Mährisch-Schönberg — Neiße — Anschlusszug nach Breslau. Er hat oft davon erzählt.
Die große schwarze Lok ! Ich will dorthin laufen. Aber meine Mutter hält mich eisern fest.
BAHNHOFSKULISSE WIE ZUVOR
Archivarin Das ist jetzt die Transportliste “Mährisch-Schönberg und Kreis” (BLÄTTERT) … Moment … 16. 8. nach Fulda … Das muss es sein ! Der 16. 8.
Kopetzky Zugnummer …
Archivarin… 4546 … Mährisch-Schönberg über Grenzübergang Wiesau nach Fulda, 1220 Personen …
Erzähler Ich besitze noch die Ausweisungspapiere — den “Transportzettel” zum Beispiel, auf Englisch “Transportationcard”: “Helmut Kopetzky, Age: five / three quarters — male — Nationality: German — Occupation: child”…
Unser Ziel war die US-Zone. Und der ‘Rausschmiss wurde von den Sieger-mächten überwacht.
EIN ZUG LÄUFT EIN. LAUTSPRECHER-DURCHSAGEN.
IM FAHRENDEN PKW
Erzähler Nächsten Tag fuhren wir ins Gebirge. Herr Winkler, Mitglied einer Jagdgenossenschaft, hatte mich zur Fährtensuche eingeladen. Immer wieder zeigte er auf Steinhaufen, bemooste Hügel, in der Landschaft kaum zu unterscheiden. Nach dem Weltkrieg standen dort noch Häuser. Die Bewohner waren deutsch. Dorf für Dorf wurden sie vertrieben. Den Nachbarn dienten solche Geisterdörfer dann als Steinbrüche.
Winkler Vieh hat’s noch im Dorf gehabt. Militär haben sie eingesetzt damals, und die haben das Vieh sollen füttern. Aber ein Soldat — der hat ja andere Interessen gehabt … und …
Der letzte Transport, wo er weg war — man ging durch das Dorf und niemand … (WEINT) … Aber wissen Sie, heute das zu erklären (WEINT) … Wissen Sie — ich hab’ so viel Leid gesehen in meinem Leben … Menschliches Leid … Ob’s von diesem Volk oder von diesem Volk …
Erzähler Er sagte: Deutsche kommen selten bis hierher. Und dann auch nur zum Jagen — Samstag, Sonntag. Das sind “Reichsdeutsche”, nicht “unsere Leit”.
Winkler Rehwild und Hirschwild hat’s hier vieles.
Kopetzky Was sind das für Leute, die hierher kommen zum Jagen ??
Winkler Das sind meistens von Euch — Großgrundbesitzer, Fabrikanten oder von Fluggesellschaften. Ich habe auch den Dolmetsch gemacht. So ein guter Hirsch von 190 Punkten — der kostet 6000 Mark. Und die geben das mit der linken Hand, kann man sagen.
DER WAGEN HÄLT. SCHRITTE IN TROCKENEM GRAS. VOGELSTIMMEN.
Winkler Ich bin der letzte Zeuge hier.
Erzähler Wir gingen Über steile Wiesenhänge. Hartes, ausgedörrtes Gras. Früher waren das Kartoffeläcker voller Steine. Die ärmsten Bauern zogen selbst den Pflug.
Dieser ausgelöschte Ort hieß Schubert-Neudorf. Der Vater von Franz Schubert wurde hier geboren.
SCHRITTE. VOGELSTIMMEN. WIND.
Winkler Nu, da hat das Haus gestanden — das Schuberthaus. Da sehen Sie noch diese Grundmauern davon. Das ist das Wohnhaus gewesen, vorn … Und da ist der Gang in den Keller … Und da war ein Pferdestall … Das war gewiß ein Pferdestall — entweder das oder das … Und was Sie dort drüben sehen, war die Scheuer … Und da ist man in den Keller gegangen (SCHRITTE AUF GRAS, TROCKENE REISER, LOSE STEINBROCKEN) Aber kein Glück werden wir dort nie finden …
Schau’n Sie her !
Kopetzky Noch Schnee drin !
Winkler Schnee…
Erzähler Auf diesen Matten trafen sich die Anhänger der “Heim-ins-Reich-Bewegung”, lange vor dem “Anschluss” — deutsche Dirndl, weiße Strümpfe — Tausende. Holzstöße brannten, und brennende Strohballen rollten effektvoll bergab. Diese Massentreffen waren illegal. Doch die örtlichen Gendarmen schauten einfach weg. Im deutschsprachigen Grenzgebiet hatte Hitler viele Anhänger.
Winkler Wo der Hitler den 50. Geburtstag hatte, kann ich mich erinnern, da war das ganze Dorf geschmückt. Mit Eichenlaub wurde das geschmückt zu Führers Geburtstag, ja …
(…)
EISENBAHNWAGGON, INNEN — STARK VERFREMDET
Erzähler… Und ich bin in einem Güterwagen voller Menschen und Gepäck. Da kniet Großmutter vor einem Eimer. Sie muss sich dauernd erbrechen. Immer wieder hält der Zug auf freier Strecke. Ab und zu ein Bahnhof. Lange Reihen offener Latrinen. Männer, Frauen, Kinder hockten da wie Trauervögel. Alle schämen sich.
Dann die Grenze: Türen fliegen auf. Der Bahndamm übersät mit weißen Armbinden — N wie “Nemec” — “Deutscher” … Wolken von Entlausungspulver. DDT.
Letzte Einstellung: ein Stationsschild: FULDA … “Alle ‘raus !” Wer von uns kannte den Ort ??
TREPPENHAUS. SCHRITTE UND STIMMEN.
Erst kamen wir ins Quarantänelager. Später wurden wir mit Lastwagen verteilt. Ich weiß noch, wie wir diese enge Dachkammer bezogen — meine Mutter, meine Großeltern und ich. Es war ein heißer Vormittag im Sommer 1946.
AUFSCHLIESSEN UND TÜRGERÄUSCII
Herr Kress jr. Das war ja alles offen hier — das war Boden und dies war Boden … Das ist jetzt Küche … Jetzt ein schönes großes Zimmer …
Kopetzky Darf ich mal zum Fenster rausgucken ?
Erzähler Eine Kleinstadt, 40 000 Einwohner, vom Krieg schwer mitgenommen. Nach zwei Jahren lebten fast 10 000 Fremde in der Gegend.
Frau Kress Mussten alle zusammenrücken ! Aber wir haben uns gut vertragen ! Mit der Oma, ‘m Opa …
Herr Kress jr. Heute wär’ das unmöglich ! Da würd’ jeder protestieren !
Frau Kress Es hat einem doch auch leid getan …
Herr Kress jr. Die Frauen hatten Kopftuch, wie heute die Türkenfrauen — trugen’s nur ein bisschen anders. Die fielen auf mit ihrem Kopftuch..
Erzähler … Und viele “Bittschön”-Männer hatten Schnurrbärte — wie Tschechen ! Heute könnte man uns nicht mehr unterscheiden. Aber damals — “Bittschööön ! Bittschööön !” riefen uns die einheimischen Kinder nach.
Wir trafen uns im Gasthof “Reichsadler”. Dort feierten wir Weihnachten und Ostern, wieder Weihnachten. Und immer hieß es: “Nextes Johr sann mir d’rhaam !”
Frau Kress Dann wollen wir mal trinken ! Prost — Prost !
Erzähler Am meisten litt wohl meine Großmutter. Ihr Tiegelchen mit “Heimaterde” wollte sie nicht hergeben. Wenn sie einmal in die Stadt ging, sagte sie: “Ich geh auf Schemberg !” Allmählich wurde sie verwirrt. Sie hat nie begriffen, was mit ihr passiert war.
TREPPENHAUS
So sind wir “Bittschöns” dageblieben. Die einen träumten weiter von zu Haus’ (und manche träumen immer noch). Die andern bauten Häuser, gründeten Fabriken. Kinder kamen auf die Welt. Sie waren keine Bittschöns mehr und keine Reichsdeutschen. Die meisten von uns dachten selten an die Ausweisung zurück.
Nur einmal jährlich werden wir daran erinnert. Dann ist Sudetendeutscher Tag.
KULISSE FRANKENIIALLE, NÜRNBERG
Redner (WEIHBISCHOF C. PIESCHL) … Ist es christlich, dass wir weiterhin die Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat, auf die freie Selbstbestimmung, die zumutbare Entschädigung oder Rückgewähr konfiszierten, durch Generationen rechtmäßig erworbenen Eigentums fordern ? — Ich sage mit gutem Gewissen, in der Achtung der Zehn Gebote: Ja !
Als katholischer und Sudetendeutscher Bischof und auch als Beauftragter für die Vertriebenen wiederhole ich: Auch die Sudetendeutschen haben Recht und Anspruch auf Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat und freie Entfaltung in der Heimat als einzelne und als Gruppe !
STARKER BEIFALL — AUF DIE VERSCHWIMMENDE KULISSE:
Erzähler Am letzten Abend saß ich mit Jarka aus Prag in der verschlissenen Pracht des “Hotel Grand” in Šumperk. Wir sprachen über dieses unselige “Aug’-um-Auge” Spiel: “Meine Leute” — “Deine Leute” — sollte das denn niemals aufhören ?
Wir haben nichts beschönigt, nichts verharmlost. Wir zogen eine saubere Bilanz.
Abwechselnd tranken wir ein pivo aus Hanušovice und ein Bier aus Hannsdorf, wie Hanušovice einmal hieß: “Na zdraví — “Prosit !” — “Auf die Zukunft !”
Vielleicht schick’ ich doch noch diesen Brief nach Šumperk:
“…Sehr verehrte Stadtverwaltung ! Auf den Anfang meines Schreibens zurückkommend, wiederhole ich den unumstößlichen Verzicht auf alle Ansprüche aus den genannten Liegenschaften (siehe oben). Dies bedeutet nicht mein Einverständnis mit der Tatsache und Form der Aussiedlung im Sommer 1946.
Ich schließe hier nur eine Rechnung ab. Sie würde niemals aufgehen. Deshalb dieser Schluss-Strich.
Mit den besten Grüßen — Helmut Kopetzky.
P.S. Mein Sohn, geboren 1976, trägt den Namen Jan Kopetzky, wie Jan Hus, Jan Pallach, Jan Neruda, Jan Ledecký, Jan Kanyza, Jan Potmesil.
Dies zu Ihrer Kenntnis.”
© Alle Rechte beim Verfasser
Dankbrief nach Übersendung einer CD „Flucht und Vertreibung im Rundfunk“ durch das Hans-Bredow-Institut, Hamburg, im November 2017
► Liebe A. T.,
da haben Sie uns beiden “Bittschöns” – meiner Frau und mir, die im Sommer 1946 mit dem selben Transport in das stark zerbombte Fulda kamen – mit der CD eine Freude gemacht!
Wir Kinder kamen nicht aus den böhmischen sondern aus den mährischen Wäldern, aber der Name “Kopetzky” hat mich die ganze Schulzeit über als Fremdling begleitet.
Meine Frau heißt mit dem Vornamen altersgemäß Heidrun, mit “Mädchennamen” Broschek (tschechisch etwa Käferchen). Und auch Helmut passt reizvoll zu dieser deutsch-tschechischen Melange: kopec ist der Hügel, Kopetzky also etwa “Hügler” oder Mensch aus den Bergen.
Unser Sohn wiederum verdankt seinen (tschechischen) Vornamen Jan der anhaltenden Auseinandersetzung über “die Tschechen” mit meiner Mutter Grete (!) Brazdil – den Nachnamen hat sie von meinem Stiefvater, der auf der Krim in letzter Minute “an der Spitze seiner Einheit” im Pulverdampf des Zweiten Weltkriegs verschwand (der leibliche Vater war mit 26 kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion von einem sowjetischen Flugzeug-MG von der Fliegerabwehrkanone geholt worden).
Um die zeitgeschichtlichen Absurditäten noch etwas auf die Spitze zu treiben: Herbert Hupka (1915–2006, konservativer Vertriebenenpolitiker) überreichte mir 1993 in Erfurt den Medienpreis des Ostdeutschen Kulturrats für das Feature “Auch ich war ein Bittschön”, nicht ahnend, dass ich mich in der Sendung, die er gar nicht gehört hatte, als sog. “Verzichtler” zu erkennen gab, was meine Mutter wiederum zu einem mehrjährigem Schweigeboykott gegenüber dem unter ehemaligen Sudetendeutschen gebrandmarkten Sohn provozierte.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Kopecky (wie es un-eingedeutscht heißen müsste) ◀︎
„Söhne und Töchter der Stadt“
► Auf der offiziellen Homepage von Šumperk / Ex-Mährisch-Schönberg findet sich „Helmut Kopetzky (* 1940), deutscher Featureautor“ u. a. neben „Leo Slezak (1873–1946), Tenor“ und „Hermann Krumey (1905–1981), SS-Offizier und Täter des Holocaust; Stellvertreter von Adolf Eichmann bei der Vernichtung der ungarischen Juden“. ◀︎
Sudetendeutsche streichen Anspruch auf Heimat
„DIE WELT“ am 02.03.2015:
► „Die Bundesversammlung der aus der ehemaligen Tschechoslowakei kollektiv vertriebenen 3,5 Millionen Sudetendeutschen hat die ‘Wiedergewinnung der Heimat’ sowie eine ‘Restitution oder gleichwertige Entschädigung’ für die kollektive Enteignung der Volksgruppe nach dem Zweiten Weltkrieg als Ziele aus ihrer Satzung gestrichen. Der frühere konservative Prager Außenminister und Präsidentschaftskandidat Karel Schwarzenberg zollte diesem Beschluss gegenüber der ‘Welt’ seine Hochachtung“. ◀︎