Was wir aus dem “Fall Relotius” lernen können
Eintrag in den Dokublog > Radioblog des swr, Frühjahr 2019
In einem Brief schrieb mir unlängst mein Radiokollege, der Hörspiel-Autor und frühere Dramaturg Christoph Buggert: „Das Fake ist ja nicht nur eine Entstellung der Wirklichkeit — oder sagen wir: die altbekannte Form der Lüge (die hofft, nie entlarvt zu werden). Vielmehr fügt das Fake den bisherigen Varianten der Erfahrung eine neue hinzu (…) Wenn Erfolg sich einstellt, ist nicht der ‚Faker‘ schuld, sondern derjenige, der sich gutgläubig verhält, weil er die Lüge glauben will; weil er sie förmlich ansaugt. Vielleicht leben wir nicht mehr im Zeitalter der Information, sondern im Zeitalter der Flucht davor”.
Wir wollen also betrogen werden. Wird der Betrug jedoch zum öffentlichen Skandal, stimmen wir in das „Crucifigite!“ ein – „Kreuzigt ihn! Kohlrübe ab!“
Ob Ihr’s glaubt oder nicht: Ich habe Mitleid mit dem 33-Jährigen, der 2014 von CNN zum „Journalist of the Year“ ernannt wurde. Jammerschade, dass sich so ein begabter Schreiber selbst verrannt und als Autor verbrannt hat – zuletzt womöglich aus fiebernder Angst, dem selbst gewählten oder aufgezwungenen Anspruch als zweiter Hemingway nicht mehr genügen zu können. Und so gingen dem oft lapidar und genau berichtenden Mann immer öfter die Pferde durch.
Er schrieb, was er nicht wissen konnte; zog sich die Haut anderer über die Ohren; dramatisierte; erfand Charaktere, Gespräche, ja ganze Leadstories in seinen Reportagen. Manches aus dem „wahren Leben“ war einfach zu schlüssig, um wahr zu sein. „Dieser Text des ehemaligen SPIEGEL-Redakteurs Claas Relotius hat sich nach einer Überprüfung in wesentlichen Punkten als gefälscht herausgestellt“, warnt nun die Redaktion vor älteren Arbeiten des Starautors, die noch im Netz stehen. „Der Fall Relotius“, schrieb Verena Mayer in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, „bedeutet hoffentlich auch das Ende dieses seltsamen Reporter-Geniekults in unserer Branche. Die guten und relevanten Geschichten sind meistens Arbeit von Teams und Netzwerken“.
Einspruch! „Geschichten von Netzwerken“ lese ich ungern. Teams verfügen über keine Emotion. Die literarische Reportage ist die Autorenarbeit Einzelner; ist subjektiv erlebt, empfunden und geschrieben, auch wenn jene „Genies“– von ihren Redaktionen im Stich gelassen – manchmal in die Irre gehen. Müssen fachgerechte Recherchen und individuelle Wahrnehmungen unvereinbar sein? „Jetzt bitte nicht die Reportage für ihren Missbrauch verantwortlich machen“, steht in einem Leserbrief an den SPIEGEL. „Aus dem Sammelsurium der kleinen Fakten eine große Erzählung zu machen, ist oft großartiger Journalismus“.
Wir Autoren und Rezipienten – auch des Rundfunks! – bewegen uns auf unsicherem Grund. Dies allerdings seit langem. Der 2007 verstorbene Ryszard Kapuściński galt in Polen als „Journalist des Jahrhunderts“. Erst nach seinem Tod begann das Denkmal zu bröckeln. Ein Autor der Warschauer Tageszeitung Gazeta Wyborcza warf dem „Meister“ posthum vor, er habe „reelle Ereignisse literarisch eingefärbt!“ oder gleich ganz erfunden, zum Beispiel seine Begegnungen mit Che Guevara und Patrice Lumumba. Andererseits war es auch seine Fähigkeit, genaueste Beobachtungen in kürzeste Sätze zu brennen: „Wenn ihr weiterfahren wollt, so rät uns ein Fremder, müsst ihr die Pferdeleiber beiseite schaffen (…) Tote Pferde sind sehr schwer“ (aus einer Weltkriegs-Episode in dem Reportagenband „Imperium“). „Haben sich nicht auch die Journalisten Ernest Hemingway oder Graham Greene in dieser Schattenzone bewegt, ehe sie Großschriftsteller wurden?“ schrieb Bartholomäus Grill in seinem ZEIT-Artikel „War der große Reporter Ryszard Kapuściński auch ein Dichter?“
Im Berliner TAGESSPIEGEL lese ich Anfang dieses Jahres über Egon Erwin Kisch „und sein Verhältnis zu den Fakten“, er sei „gewiss ein besonders eklatanter Fall“ gewesen – aber auch andere „bearbeiteten das Vorgefundene nach ihren jeweiligen Maßstäben“. Und Grill erinnert in diesem Zusammenhang an literarische Reportagen unter der Fahne des „New Journalism“(Truman Capote, Norman Mailer, Tom Wolfe, die Autoren der deutschen Zeitschrift „TransAtlantik“). Warum diese längliche Einleitung in einem RADIO-Blog? Weil im obigen Text das Wort „Reportage“ getrost durch „Autorenfeature“ ersetzt werden kann.
In unserem Fall wird das aufgenommene Material (O‑Ton) trotz besseren Wissens in der Öffentlichkeit immer noch als „objektiv“ und wertneutral – eben „dokumentarisch“ – betrachtet. Und doch stehe ich als Autor an der Grenze zwischen Reportage und Fiktion, Dokument und Kunstwerk vor den gleichen Antagonismen.
Der Titel meines Werkbuchs „Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten“ (Kostenlos im Netz per Link auf meiner Homepage www.helmut-kopetzky.de) bezieht sich auf die beiden gleichberechtigten Säulen des „Akustischen Features“: WORT und KLANG. „Sobald wir das Mikrophon in die Hand nehmen“, schrieb ich in meinem Blog vom 14. Februar 2015, „beginnt die ‚Manipulation‘ – wobei natürlich die handwerklich-gestalterische (manus — die Hand) und nicht die inhaltlich-verfälschende gemeint ist. Erst der Autor transportiert das Fragmentarische seiner Eindrücke in die Zeit- und Raumebene der Sendung (…) Dabei bewegt er sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Verdichtung und Fiktionalisierung. Gradmesser für das Gelingen kann keine nachprüfbare ‚Authentizität‘ sein, sondern einzig und allein die aus dem Gehörten ableitbare Glaubwürdigkeit (…)
Die Wirklichkeit im Radio ist, was wir von ihr mitteilen. Wir, die einzelnen, die Subjekte mit Namen und Geburtsdatum. Wir — die Autoren!“ „Wahrheit“, schrieb Christoph Buggert in dem erwähnten Brief, „war schon immer ein Annäherungswert“. Die Verwendung von Original-Ton sagt nichts, rein gar nichts über die „Echtheit“ des Dargestellten. Mit O‑Ton kann ich ebenso – vielleicht sogar eleganter — lügen als mit Wörtern“.
Vertrauen und Wachsamkeit auf beiden Seiten sind die einzigen Maßstäbe, die uns bleiben. Wir alle, die für das Radiofeature arbeiten, sind Geschichtenerzähler, welche Form der Darstellung wir auch wählen. Die Glücksmomente, Ängste und Verführungsfallen im Autorendasein eines Relotius, Kisch oder Kapuściński sind auch die unseren. Was ich aber als Hörer von dem Medium und als Feature-Autor von mir selbst verlange, ist TRANSPARENZ. Wer-was-wann-wo-wie-warum – diese W‑Fragen müssen beantwortet werden.
Dann steht uns der Autorenhimmel offen!
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